"Die CDU plant in ihrem neuen Grundsatzprogramm, das Recht auf Asyl in Europa abzuschaffen." Mit diesem plakativen – und erkennbar unwahren – Satz beginnt der kürzlich verabschiedete Aufruf der Ökumenischen Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche, den inzwischen ca. 2000 Theologen unterzeichnet haben. Und in der "WELT am Sonntag" vom 6.5.2024 bekräftigen der katholische Erzbischof Stefan Heße und der evangelische Landesbischof Christian Stäblein die an der CDU geübte Kritik; sie werfen ihr letztlich einen Verrat christlicher Werte vor. Der Historiker Andreas Rödder, bis September 2023 Leiter der Grundwertekommission der CDU, hat darauf in der letzten "WELT am Sonntag" erhellend reagiert. Er hat die Komplexität der Gesetzeslage, was Asyl und Migration angeht, dargelegt, und sie mit dem moralischen Rigorismus der Bischöfe konfrontiert. Die Kluft, die sich zwischen beidem auftut und die Rödder auf elegante Weise offengelegt hat, ist noch einmal näherer Betrachtung wert. Denn die Debatte liefert nicht nur für das Thema "Asyl" Einsichten, sondern auch für die Art, wie Debatten inzwischen überhaupt geführt werden.
Grund für die Empörung über die CDU ist die in ihrem neuen Programm enthaltene Forderung, wieder Kontrolle über die Migration zu erlangen und dazu das Konzept der sicheren Drittstaaten zu realisieren. Künftige Asylbewerber, die in Europa Schutz suchen, sollen in einen sicheren Drittstaat überführt, dort einem Prüfungsverfahren unterzogen und bei positivem Ausgang auch in diesem Land untergebracht werden. Dabei müssen die Vertragsstaaten die Anforderung der Genfer Flüchtlingskonvention und der entsprechenden EU-Konvention erfüllen. Ungeachtet dessen gilt das deutsche Asylrecht nach §16a unvermindert fort. Wer als nachweislich politisch Verfolgter nicht über einen Staat eingereist ist, in dem er seinerseits ein Anrecht auf Asyl hätte, dem wird in Deutschland Asyl gewährt. Außerdem sollen sich die dazu willigen EU-Staaten verpflichten, jährlich Kontingente an Flüchtlingen aufzunehmen. Dass Deutschland hier zu den Willigen zählen wird, befindet sich wohl außerhalb jedes Zweifels.
Deutungsmonopole und menschliche Fehlbarkeit
Dieses politische Programm erntet nun eine heftige Verurteilung von kirchlicher Seite, eine Verurteilung, die sich weder auf die politischen Realitäten einlässt, denen das Konzept entspringt, noch eine tiefergehende theologische Begründung für ihre Verdammungsurteile liefert. Nein, es ist eine rein moralische Kritik, noch dazu eine, die in ihrem Absolutheitsanspruch ihresgleichen sucht. Die Ökumenische Bundesarbeitsgemeinschaft wittert "Nationalismus, ethnische Arroganz und deutsche Leitkulturen" hinter den Vorschlägen der CDU, außerdem sieht sie im Ergebnis "Abschottung, Entrechtung und Rassismus". In christlicher Brüderlichkeit fährt sie gleich die größten Geschütze auf, und das kann sie auch, weil sie ja an "der Seite der Schwachen und Schutzsuchenden" steht und "den Mund für die Stummen" auftut. Sie spricht also nicht nur für sich selbst, sondern gleich auch noch für andere mit, die nicht gefragt wurden, aber sich bestimmt gerne der Führerschaft derer überlassen, die offenbar einen besonderen Zugang zur christlichen Botschaft haben.
Wer sich seiner Sache so unzweifelhaft sicher ist, wer alle Moral auf seiner und die völlige Unmoral auf der Gegenseite sieht, hat ganz offenbar einen privilegierten Zugang zur christlichen Wahrheit, die eine bestimmte Sicht der Dinge geradezu erzwingt.
Denn das müssen die Verfasser und Unterzeichner des Aufrufs. Wer sich seiner Sache so unzweifelhaft sicher ist, wer alle Moral auf seiner und die völlige Unmoral auf der Gegenseite sieht, hat ganz offenbar einen privilegierten Zugang zur christlichen Wahrheit, die eine bestimmte Sicht der Dinge geradezu erzwingt. War es nicht aber Teil der jesuanischen Botschaft, beim Steine-Werfen vielleicht einmal innezuhalten und sich denjenigen genauer anzusehen, der da gerade den ersten Stein werfen will? Und waren es nun unbedingt die Schriftgelehrten, die Jesus für die besten Hüter von Gottes Wort hielt? Hatte er, um noch eine weitere Frage anzuschließen, nicht verkündet, dass sein Reich nicht von dieser Welt sei, und damit Ansprüche auf politische Einflussnahme abgewiesen? Doch wie immer man das alles deutet – es ist vielleicht nicht von Übel, sich klarzumachen, dass all das der Deutung bedarf und Deutungsmonopole sich mit der menschlichen Fehlbarkeit möglicherweise nicht ganz so gut vertragen.
Auf jeden Fall würde jemand, dessen Urteil nicht schon von vorneherein feststeht, wohl noch einmal einen Blick auf die politische Lage werfen, die Anlass für das neue Konzept der CDU war. Er würde sich auch Gedanken darüber machen, welchen Anforderungen sich Politiker ausgesetzt sehen und wie sich dementsprechend ihre Handlungsspielräume gestalten. Kurzum: Er würde versuchen, der Situation und den beteiligten Menschen gerecht zu werden, in dem Wissen, wie schwer es tatsächlich ist, Gerechtigkeit zu üben.
Was die Lage angeht, so erlebt die westliche Welt eine ungesteuerte Migration, die verschiedenste Ursachen hat: politische Verfolgung, Vertreibung, Flucht vor dem Krieg, Armutsflucht, Sehnsucht nach einem anderen Leben. In Deutschland besteht das Recht auf politisches Asyl, doch mindestens 50 Prozent der Antragsteller haben dieses Anrecht nicht, verbleiben aber wegen verschleppter Verfahren, nicht geklärter Identität und ähnlichem sehr oft im Land. Dieses Scheitern bei der Durchsetzung des Rechts kann das Vertrauen in den Rechtsstaat erschüttern. Durch Familiennachzug erhöht sich die Zahl der regulären und irregulären Migranten weiter. Das führt zu Unterbringungsschwierigkeiten, zu Schulklassen mit Kindern, die nicht Deutsch, aber auch keine andere gemeinsame Sprache sprechen, zu sozialen Verwerfungen aller Art, ebenso zum Import von Terrorismus und Kriminalität. Starke kulturelle Differenzen erschweren das Zusammenleben, fehlende Bildung die Integration in den Arbeitsmarkt. Die Sozialsysteme sind massiv belastet.
Politiker haben Verantwortung für das Ganze
Zweifellos hat die Migration auch positive Effekte, und die Verantwortung gegenüber Menschen, die Hilfe suchen, steht außer Frage. Doch Politiker, das bezeichnet eigentlich ihr Kerngeschäft, müssen verschiedenste Ansprüche gegeneinander abwägen. Sie können nicht den Interessen einer Gruppe einseitig den Vorzug auf Kosten aller anderen geben. Und sie müssen "politisch" denken: Ergibt sich eine Lage, in der die Unzufriedenheit in der Bevölkerung zu politischer Radikalisierung, möglicherweise sogar zu einer Gefährdung der Demokratie führen könnte? Sie haben schlicht die Verantwortung für das Ganze.
Moralischer Rigorismus verdankt sich hingegen der Verabsolutierung eines kleinen Teils vom Ganzen. Noch dazu übersieht er möglicherweise die Moralität der Gegenposition. Kann nicht auch die Abschreckung davor, sich auf den Weg nach Europa zu machen, aus moralischen Gründen erfolgen? Oder soll man weiter zusehen, wie sich Menschen der Gefahr aussetzen, im Meer zu ertrinken, in der Wüste zu verdursten, von kriminellen Schlepperbanden versklavt, vergewaltigt, umgebracht zu werden? Ist es moralisch hinnehmbar, dass Frauen zur Prostitution und Männer zu ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen gezwungen werden, um die Kosten für die Schleusung zu begleichen? Natürlich kann man die utopische Forderung erheben, die Migrationswilligen eben selbst abzuholen, um die negativen Folgen der Schleusung zu vermeiden. Doch da stößt man auf eine weitere Bedingung, unter der die Politiker zu arbeiten haben: die Endlichkeit der Mittel. Auch um diese muss sich nicht kümmern, wer, selbst frei von politischer Verantwortung, den Politikern Verantwortungslosigkeit vorwirft.
Es sind oft die kleinen Leute, welche die ungewollten Folgen der Migration besonders zu spüren bekommen. Zählen sie eigentlich nicht? Aber wenn sie das falsche Bewusstsein haben und jene "extremen Kräfte" stärken, verdienen sie wohl auch kein Mitleid.
Wenn die beiden Bischöfe in ihrer Erklärung bekunden, mit ihrem Vorstoß zum Thema Asyl vollziehe die CDU "einen radikalen Bruch mit ihrem humanitären Erbe", von dem nur die "extremen Kräfte in unserem Land" profitierten, dann hat sie jenes Argument genannt, mit dem man im politischen Kampf alle zum Schweigen bringt. Das ist der ultimative Vorwurf und das Ende der Debatte. Doch den "extremen Kräfte in unserem Land" kann man eben auch Munition liefern, wenn man nichts gegen eine Lage unternimmt, die den Bürgern das Gefühl vermittelt, der Staat habe die Dinge nicht mehr im Griff. Es sind oft die kleinen Leute, welche die ungewollten Folgen der Migration besonders zu spüren bekommen. Sie können ihre Kinder nicht auf Privatschulen schicken, in schöne, unbelastete Stadtteile ziehen, mit ihren SUVs an den öffentlichen Verkehrsmitteln vorbeiziehen, Multi-Kulti im Restaurant und nicht in der Schlange vor der "Tafel" erleben. Zählen sie eigentlich nicht? Aber wenn sie das falsche Bewusstsein haben und jene "extremen Kräfte" stärken, verdienen sie wohl auch kein Mitleid. Christliche Nächstenliebe kann sehr selektiv sein.