In der Migrationsdebatte berufen sich Politiker und Theologen auf den Ordo amoris. Doch die Diskussion droht, in politischen Dualismen steckenzubleiben. Mit Max Scheler und Robert Spaemann lässt sich zeigen: Erst das Zusammenspiel von Nähe und Universalität macht Liebe lebbar – und politisch relevant.

Führende Stimmen der katholischen Kirche melden sich in den letzten Wochen in den politischen Migrationsdebatten zu Wort und ringen in ihren Interventionen nebenbei um ein zentrales Konzept der christlichen Liebesphilosophie: den Ordo Amoris. In den USA entzünden sich die Auseinandersetzungen an der Migrationspolitik der Trump-Regierung, hierzulande an den – weit weniger radikalen – Vorschlägen zur Migrationspolitik von CDU und CSU.

Die aktuelle Debatte weist jedoch eine historische Leerstelle auf. In den verschiedenen Beiträgen wird zwar auf die Tradition von Diogenes bis Thomas rekurriert und insbesondere über eine korrekte Interpretation des thomanischen Verständnisses eines geordneten Liebens gestritten. Ganz abgeblendet werden jedoch die Beiträge, die im 20. Jahrhundert von einer phänomenologisch beeinflussten Liebesphilosophie zum Verständnis des Ordo amoris geleistet wurden. Zu nennen wären insbesondere Max Scheler und Robert Spaemann. Dies hat systematische Konsequenzen.

Ohne Berücksichtigung der phänomenologischen Ansätze bewegt sich die aktuelle Debatte in den Bahnen einer dualistischen Entgegensetzung von "universalistischer" Menschheitsliebe und "exklusiver" Nächstenliebe. In universalistischer Perspektive wird unter Rekurs auf das Gleichnis des "barmherzigen Samariters" (vgl. Lk 10,25-37) betont, dass christliche Liebe keine Ausnahme und Ränge kenne und allen gleichermaßen gelte. Von der Gegenseite wird demgegenüber an die augustinisch-thomanische Einsicht erinnert: dass Liebe für Menschen unter Bedingungen der Endlichkeit allein gestuft – in Rängen des Vorziehens – lebbar werde.

Jede Seite hat gute Argumente und kann zugleich die inneren Widersprüche des Gegenübers sichtbar machen. Doch für sich genommen werden beide Positionen – als Liebesethos – inkonsistent. Einerseits wird ein exklusives Gemeinschaftsdenken von dem Problem eingeholt, zu verknöchern und auszutrocknen: indem der Liebe zum Eigenen mit der Offenheit für die Fremden die Kraft genommen wird, zu irritieren, neue Bindungen jenseits des Gewohnten zu stiften. Andererseits läuft eine universalistische Menschheitsliebe, die allen gleichermaßen gelten soll, Gefahr, zu überfordern. Sie verkehrt sich dann in ein leeres Ideal ohne Relevanz für das tatsächliche Leben.

Eine Lösung für die skizzierten Schwierigkeiten bahnt Max Scheler in der zweiten Auflage seiner Schrift "Wesen und Formen der Sympathie" aus dem Jahr 1923. Während er die allgemeine Menschenliebe in der ersten Auflage noch als entleiblichte Ideologie zurückgewiesen hat, nimmt er sie nun affirmativ auf. Er gewinnt damit ein Verständnis des gestuften Liebens, in dem sich Universalismus und Exklusivität nicht länger wechselseitig ausschließen, sondern ergänzen. Ohne sich explizit auf Scheler zu beziehen, macht Robert Spaemann später die Pointe des Gedankengangs deutlich. Obgleich nicht alle alle gleich lieben können, habe "jeder Mensch einen Anspruch darauf, niemandem als ein Niemand zu gelten" – so Spaemann in seinem Buch "Glück und Wohlwollen" aus dem Jahr 1989.

Die Relevanz dieser Position des Ausgleichs für die aktuelle Debatte liegt auf der Hand: geht es doch darum, die christliche Liebeskultur vor den politischen Dualismen eines "linken" Moralismus und eines "rechten" Stammesdenkens zu bewahren. Nun mag es auf den ersten Blick wie ein billiger Taschenspielertrick wirken, Widersprüche in der Theoriekonstruktion unter den Teppich zu kehren, um die Vorzüge konträrer Positionen abzugreifen. Stehen der Realismus der Ordo amoris-Konzeption und der Normativismus der universellen Menschenliebe nicht in einer unüberbrückbaren Spannung? Geht es in Fragen der Solidarität nicht darum, entweder realistisch an den tatsächlich gefühlten Formen der Sympathie Maß zu nehmen; oder sich moralisch an den Ansprüchen eines jeden Menschen zu orientieren, unabhängig davon, ob man ihn mag oder nicht?

Freundschaft und Menschenwürde

Scheler kann diese Widersprüche unterlaufen. Zunächst hält er an der Stufenordnung der Nähe fest: exklusive Liebe – Miteinanderfühlen – Mitfühlen – Menschenliebe. Er zeigt, dass der Respekt, der sich zwischen Fremden ereignen kann, diese in weit geringem Maße zu wechselseitigem Verständnis und Solidarität motiviert als exklusivere Formen der Sympathie. Vor allem bricht Scheler aber mit einer statischen Betrachtung und fasst Liebe als ein dynamisches Geschehen auf. Er rückt die Prozesse in den Blick, in denen sich allgemeine Menschenliebe und exklusive Nächstenliebe wechselseitig allererst möglich machen. Er spricht von "Fundierungsgesetzen der Sympathie" und meint damit zunächst: in unmittelbarer Nächstenliebe – im Miteinanderfühlen, im Mitleiden und in der Mitfreude mit den Nächsten – werden die emotionalen Dispositionen erworben, um alle Menschen als Menschen respektieren zu können.

Ganz ähnlich begreift Spaemann exklusive Freundschaft als Vorbild für die Achtung menschlicher Würde. Gelernt wird ein leiblich und emotional verankerter Respekt vor allen Menschen, der persönliche Sympathie und Solidarität gerade nicht verleugnet. Zugleich funktioniert die Fundierung aber auch umgekehrt. Gelebter Respekt stiftet ein Miteinander unter Fremden, in dem sich exklusive Liebe überhaupt nur ereignen kann: in dem Menschen einander in ihrer individuellen Besonderheit verstehen und bejahen können. Universalität und Exklusivität schließen einander beim Lieben folglich nicht nur nicht aus, sondern machen in ihrem Zusammenspiel Liebe überhaupt erst lebbar.

Es gilt, im Lichte der christlichen Liebeskultur politische Leitbilder und Praktiken von rechts wie links zu kritisieren, die einzelne Formen der Sympathie unterdrücken – und damit menschliches Lieben als Quelle eines gelingenden Miteinanders überhaupt gefährden.

Die phänomenologische Deskription der komplexen Entstehungsbedingungen von Liebe hat normative Relevanz. Sie widersetzt sich zwar der begrifflichen Verfestigung zu einem normativen "Leitbild" oder einer allgemeinen Regel, wie normative Konflikte zu lösen seien. Normative Orientierung vermittelt die Phänomenologie perfektionistischer Liebeskultur allerdings indirekt: durch ihre kritische Stoßrichtung. Zur Vervollkommnung des Liebens gehört es nämlich, Vorstellungen und Habitualisierungen abzubauen, die das geordnete Lieben verwirren oder korrumpieren. Scheler spricht in Anschluss an Blaise Pascal von einem désordre du coeur aufgrund von individuellen oder sozialen "Vergaffungen". Diese gelte es aufzulösen. Götzen seien zu "zerschmettern" – so Scheler in seiner nachgelassenen Schrift "Ordo Amoris". Politisch heißt dies: im Lichte der christlichen Liebeskultur politische Leitbilder und Praktiken von rechts wie links zu kritisieren, die einzelne Formen der Sympathie unterdrücken – und damit menschliches Lieben als Quelle eines gelingenden Miteinanders überhaupt gefährden.

In den aktuellen Migrationsdebatten befähigt die Einsicht in die komplexe Ordnung des Liebens zu differenzierter Kritik.

In der bundesdeutschen Migrationsdebatte mag man angesichts breit signalisierter Überforderung der Kommunen skeptisch hinterfragen, ob die politische Linke mit ihrem Weiter-So noch der Verantwortung für die eigene politische Gemeinschaft entspricht.

In den USA stellen sich die Dinge anders dar. US-Vizepräsident JD Vance nutzt den Begriff des Ordo amoris, um Massenabschiebungen von Migranten zu legitimieren und stutzt ihn damit auf eine politische Gemeinschaftsideologie zurecht; das Gegenprinzip des Respekts vor der Würde jedes Menschen dunkelt er dabei ab.

Dagegen hat Papst Franziskus in seinem Brief an die US-Bischöfe Einspruch erhoben. Gegen die christlich geschminkte Missachtung der Würde von Migranten macht Franziskus die universalistische Dimension des "wahren 'ordo amoris'" geltend: dass "die Liebe, die eine Geschwisterlichkeit aufbaut, […] für ausnahmslos alle offen ist". Vor unseren Augen gewinnt die kirchliche Gegenöffentlichkeit der Liebe eine politische Relevanz, die man in den letzten Jahren allzu oft hat vermissen können.

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