Vater – eigentlich genügt ein Wort. Was in den fünf Lettern liegt, kann in unzähligen Büchern beschrieben werden und trägt doch nicht. Jeder, der es einmal emphatisch gesprochen hat, weiß das. Und jeder, an den es gerichtet war, weiß es erst recht. Unnötig, viele Worte darüber zu verlieren. Das Wort spricht für sich selbst. Voller Ausdruckskraft und Ambivalenz enthält es verdichtet Welten von Töchtern, Söhnen und Vätern, verschwiegene Welten, die allein Sprecher und Adressat vorbehalten sind.
Dass ein Wort genügt, das hat Lukas schon richtig gesehen, wenn er das Herrengebet mit bündiger Anrede überliefert: «Πάτερ, ἁγιασθήτω τὸ ὄνομά σου – Vater, dein Name werde geheiligt» (Lk 11, 2). Ein unvermittelter Einstieg für betende Ohren, gewöhnt an die liturgische Ausführlichkeit des Matthäus: «Πάτερ ἡμῶν ὁ ἐν τοῖς οὐρανοῖς – Unser Vater im Himmel» (Mt 6, 9). Vieles deutet darauf hin, dass die knappe Version des Lukas ursprünglich im Munde Jesu lag und dass am Anfang das prominente Wörtchen ‹Abba› stand, eine innige Vertrautheit anzeigend, die den Christen von Anfang an wertvoll gewesen sein muss (Röm 8, 15; Gal 4, 6). Ob ‹Vater› oder ‹lieber Vater› ändert semantisch wohl wenig daran, dass hier Ungeheures vor sich geht: Jesus schließt seine Sohnschaft für die Menschen auf und hebt den Begriff ‹Vater› aus seinen zwischenmenschlichen Angeln, um ihn in die betende Gottesanrede wieder einzusetzen. Diese Entweltlichung des Vaters («denn nur einer ist euer Vater» – Mt 23, 9) verändert die Gottesbeziehung des Menschen bleibend.
Nun sind wir es, die mit Recht «Vater» sagen – das Wort, in dem «die ganze Erlösungsgeschichte enthalten» ist (Reinhold Schneider) –, wenn wir beten, wie er es getan hat und dabei unsere vielfältigen und widersprüchlichen Erfahrungen «Vater» und «Gott» im Bild des Vater-Gott spannungsvoll assoziieren. Es ist das Beten Jesu, das uns lehrt, das uns den Text «aus dem Gespräch des Sohnes mit dem Vater» vorspricht und uns hineinnimmt in die «Tiefe jenseits der Worte», in die Gottzugehörigkeit (Joseph Ratzinger).
Trotz unvermeidlicher Abnützung und Unschärfe durch die tausendfache Wiederholung des Vaterunser ist «Vater» doch eines der fundamentalsten Gebetsworte der Christen geworden, das nichts von seiner Kraft eingebüßt hat – wie die folgenden Beiträge zeigen. Und «Mutter»? Wäre nicht auch «Mutter unser» ein legitimer Gebetsauftakt? Müsste die verdrängte Weiblichkeit Gottes nicht gegenüber dem patriarchalen Symbolsystem des Alten Testaments behauptet werden? Dieser Anfrage stellt sich Ludger Schwienhorst-Schönberger, der eine Entwicklungsgeschichte der Vaterprädikation nachzeichnet. Ausgehend von der alttestamentlichen Königstheologie entfaltet sich die neutestamentliche Verhältnisbestimmung von Gott und seinem Gesalbten in der Sohnes-Christologie, die «Vater» nicht als patriarchales Prädikat, sondern als Wesensaussage Gottes versteht. Die metaphorische Rede von Gott als Vater legt das Gottesbild nicht auf ein Geschlecht fest, hat aber doch einen spezifischen Gehalt, der von einer Mutter-Metaphorik zu unterscheiden ist.
Der explosionsartigen Vermehrung der Vaterprädikation im Neuen Testament steht in theologischer Frühzeit bereits eine Gefährdung gegenüber: Jan-Heiner Tück zeigt, dass in der arianischen Kontroverse des 4. Jahrhunderts mit der Gottessohnschaft Jesu auch die Vaterschaft Gottes auf dem Spiel steht. Die theologische Grundlage des Vaterunsers ist damit gelegt: «Wir bekennen uns zum Sohn, indem wir den Vater anrufen», schreibt Reinhold Schneider in seiner Auslegung, die von Julia Knop eingeleitet wird.
Die Auslegung von Margareta Gruber folgt den Linien des Gebetsglaubens Jesu durch das Markusevangelium, die als Interpretation des – dort fehlenden – Vaterunser gelesen werden können. In der matthäischen Langform des Herrengebets ist bekanntlich eine Ortsangabe enthalten: «im Himmel» ist der Vater zu verorten, in der Transzendenz der «anderen Zeit» des Jenseits, in die der Komponist Edward Elgar poetisch vorgedrungen ist, wie Michael Gassmann beschreibt.
Zur ambivalenten Erfahrung von Vaterschaft gehört im Raum des Zwischenmenschlichen wie in der Gottesbeziehung – um nur ein Phänomen zu nennen – der fremde Vater, der abwesende und enttäuschende, von dem vieles erhofft wird und der nur wenig einlöst. Herausragende und höchst unterschiedliche Zeugnisse von Vaterbildern in der Gegenwartsliteratur stellt Erich Garhammer vor. Dabei darf nicht vergessen werden, dass auch der Glaube an Gott als Vater anspruchsvoll ist, gerade angesichts von Erfahrungen radikaler Gottferne. So spricht die jüdische Dichterin Rose Ausländer als Überlebende der Shoah in einem Anti-Gebet, das Jan-Heiner Tück kommentiert, von der Rückgabe des Vaternamens und der Kindschaft.
In den Perspektiven dokumentieren wir den zweiten Vortrag von Karl-Heinz Menke in Castel Gandolfo (2014) zur dogmatischen Kreuzestheologie sowie den literarischen Versuch des Schriftstellers Patrick Roth über die prophetischen Erfahrungen Samuels und Josephs.
Dieses Heft eröffnet eine Reihe, die den einzelnen Bitten des Vaterunser mit einem jährlichen Themenheft nachgehen wird.