Vergesst Big Brother – Google ist besser!
Mathias Döpfner
Wenn wir uns gewärtig machen, dass Gott uns umfassend zuschaut,
wären wir alle total besänftigt.
Peter Handke
Die Maßnahmen zur Absicherung der Freiheit sind dabei, genau diese Freiheit schleichend auszuhöhlen und zu gefährden. Seit Jahren schon werden Daten in unvorstellbarer Menge aufgezeichnet, gesammelt und archiviert. Geheimdienste, aber auch Internetgiganten wissen mehr von uns, als uns lieb sein kann, zumindest dann, wenn wir von den Mitteln der elektronischen Kommunikation Gebrauch machen – und wer täte das nicht? Längst haben wir uns an die Vorzüge der sozialen Medien und Online-Dienste gewöhnt. Viel zu selbstverständlich sind uns Gespräche, Bilder, Datentransfers rund um den Globus, die neuesten Nachrichten in Echtzeit, einfachster Zugang zu wissenschaftlichen Datenbanken, Wikipedia, Routenplaner, Wetterprognosen, Veranstaltungshinweise etc... Was wir allerdings in die Geräte hineinsprechen, kann mitgehört und bei Bedarf abgerufen werden; was wir bei der elektronischen Kommunikation in die Tasten tippen, kann mitgelesen und jederzeit aus den Archiven hervorgeholt werden; was wir mit unseren Kameras fotografieren und filmen, kann durch anonyme Augen angeschaut werden. Übertrieben? Soeben wurde bekannt, dass der amerikanische Nachrichtendienst NSA schon seit Jahren Zugriff auf die Sicherheitscodes der SIM-Karten von Millionen Mobiltelefonen hat. Billionen von Gesprächen wurden mit- und abgehört. Von Google ist bekannt, dass es jederzeit den Standort von Smartphone-Besitzern lokalisieren und entsprechende Bewegungsprofile erstellen kann. Das Nutzerverhalten in Facebook, Twitter und anderen Anbietern kann durch ausgefeilte Algorithmen nicht nur rekonstruiert, sondern auch weithin prognostiziert werden. Nicht wenige Jugendliche, die mit der digitalen Revolution groß wurden – digital natives –, reagieren mit Achselzucken: «Na, und? Was soll über mich schon Schlimmes herauskommen?» Dass Firmen bei der Besetzung von Stellen längst nicht mehr nur auf Zeugnisse und Referenzen, sondern auch auf Persönlichkeitsprofile aus der Parallel-Welt der neuen Medien zurückgreifen, dämmert manchen erst, wenn sie die ersten Bewerbungen in die Welt hinausgehen lassen. Das Netz aber, das alle verbindet, vergisst nicht: Wer einmal über die Stränge geschlagen ist, ist für immer über die Stränge geschlagen, wer sich einmal im Ton vergriffen oder politisch Unkorrektes geäußert hat, ist bleibend gezeichnet. Dem «Recht auf Vergessenwerden», dem der Europäische Gerichtshof zur Bereinigung solcher Makel gesetzlich Nachdruck verliehen hat, setzen Lobbyisten der Internetgiganten wie Eric Schmidt nicht ohne Selbstbewusstsein ein «Recht auf Wissen» entgegen. Ist Transparenz nicht alles? Daher fordern sie zumindest eine Anzeigepflicht, wenn sensible Daten gelöscht werden. Diese Anzeige könnte aber selbst wiederum Anlass von Spekulationen werden: Warum wird hier eine Nachricht unterdrückt? Sollen hier etwa dunkle Geheimnisse vertuscht werden? Um das Transparenzdiktat mit Mark Zuckerberg, dem Gründer von Facebook, zu verdeutlichen: «Wer nichts zu verbergen hat, hat auch nichts zu befürchten!»1
Schon gibt es mahnende Stimmen, die davon sprechen, wir seien auf dem Weg zu einer sanften Diktatur, in der elektronische Augen, die unsichtbar bleiben, alles sehen, elektronische Ohren, die selbst versteckt bleiben, alles hören – und eine kleine, demokratisch nicht legitimierte Elite das Monopol darüber innehat, wie und in welchem Ausmaß auf diese Daten zurückgegriffen werden kann – ein Lenkungspotential, das mittelfristig umwälzende Folgen für die freien Gesellschaften haben könnte. Das mögen übertriebene Szenarien sein, die sicher auch die Absicht haben, die sorg- und ahnungslosen Nutzer aufzurütteln und aus dem Schlummer ihrer Gleichgültigkeit zu wecken. Die Frage steht im Raum, ob der Mensch aufgrund technisch hochentwickelter Prothesen heute in der Lage ist, gewissermaßen das «Auge Gottes» – seine Allgegenwart und Allwissenheit – an sich zu reißen und zu beerben. Und falls ja, wie er mit diesem Erbe so umgehen könnte, dass nicht – wie der Schriftsteller Norbert Gstrein befürchtet –«durch die Hintertür wieder der gerade erst abgeschaffte Gott» hereinkommt, «der größte Geheimdienstler von allen, der in einer zusammengerührten Datensuppe über uns schweben würde, allgegenwärtig und allwissend wie im Alten Testament, nur vielleicht noch böser und noch heimtückischer als dort».2 Ob allerdings das Auge Gottes, von dem in den biblischen Schriften die Rede ist, tatsächlich so böse und heimtückisch ist, wie Gstrein unterstellt, oder ob es die Wege und Irrwege des Menschen nicht vielmehr mit wohlwollender Güte verfolgt, das wäre theologisch eigens zu prüfen.
Das vorliegende Communio-Heft nimmt die gesellschaftliche Herausforderung der neuen Medien auf und konfrontiert sie mit biblischen Aussagen über den Blick Gottes, der alles sieht, ohne selbst gesehen zu werden. Den Auftakt macht ein Überblicksessay unter dem Titel «Das Auge Gottes und der gläserne Mensch» ( Jan-Heiner Tück). Er wird ergänzt durch einen kritischen Blick auf das Leitbild der Transparenz, dessen Durchsetzung von vielen – zumindest für Parlamentarier und Manager – emphatisch gefordert, von anderen aber nicht weniger heftig bekämpft wird (Uwe Justus Wenzel). Als früher Reflex der Dialektik von Sehen und Gesehenwerden eröffnet Cusanus’ Schrift De Visione Dei weitreichende Perspektiven auf Gottes Schauen und menschliches Angeblicktwerden, Freiheit und Vorsehung, Sichtbarkeit und Verborgenheit, Sehen und Begehren (Johannes Hoff). Vielleicht ist die Sehnsucht danach, Gott in der visio beatifica zu schauen, ja eine anthropologische Grunderfahrung (Markus Schulze)? In den Psalmen ist das Auge Gottes ein vielschichtiges Motiv, das vom lebensspendenden über den begleitenden bis hin zum prüfend-richtenden Blick reicht (Justina Metzdorf). Jesus von Nazareth, dessen Botschaft vom nahegekommenen Reich Gottes durch sein Verhalten verdeutlicht wird, widmet seinen Blick vornehmlich den Ausgestoßenen und Sündern, die er in ihrer Erbarmenswürdigkeit ansieht und sie gerade so zur Umkehr befähigt (Robert Vorholt). Zuletzt lenkt Dave Eggers’ Zukunfts-Roman The Circle den Blick zurück auf die thematischen Linien des Heftes: findet das grassierende Dogma der Transparenz selbst in der neueren Kirchenarchitektur ein Echo? (Benjamin Leven)
In den Perspektiven veröffentlichen wir neben Beiträgen über John Henry Newman und Maximus Confessor (Hermann Geißler, Adrian Walker) ein mehrstimmiges Dossier zu den Pariser Anschlägen auf das Satiremagazin Charlie Hebdo (Jean Duchesne, Olivier Boulnois, Johannes Hoff). Die Welle der Solidarität mit den Opfern des Anschlags ist inzwischen abgeklungen, nachdenkliche, auch kritische Stimmen haben sich zu Wort gemeldet, die vor einer Glorifizierung gehässiger Religionssatire warnen. Diese Stimmen werden auf dem neusten Cover von Charlie Hebdo aufs Korn genommen, wo ein Hund mit einem Exemplar des Magazins in der Schnauze vor einer Hetzmeute flieht. Aber nicht jede Kritik ist schon Hetze. So wird auch diese Karikatur ihre Kommentare finden.