Seit wir durch Nietzsche wissen, dass Gott tot ist, stellt sich die schwierige Frage, wer – von der computerisierten behördlichen Überwachung abgesehen – den Menschen im Auge hat; direkt gesagt, in wessen Angesicht wir leben.
Imre Kértesz1
Unwissenheit kann gefährlich sein, aber Allwissenheit ebenso.
Evgeny Morozov2
I
Über die These, dass die neuzeitliche Freiheitsgeschichte als eine Geschichte der Beerbung göttlicher Attribute gelesen werden kann, ist viel diskutiert worden. Ist die Vorsehung, von Augustin bis Bossuet der göttliche Leitfaden der Geschichte, endgültig in die Krise geraten und durch den menschlichen Fortschritt und den damit verbundenen Freiheitszuwachs abgelöst worden? Besteht die Legitimität der Neuzeit darin, dass sich der Mensch in einem Akt der Selbstbehauptung vom theologischen Absolutismus freigemacht und die Gestaltung der Welt selbst in die Hand genommen hat?3 Musste nach der Proklamation des Todes Gottes der Mensch die vakant gewordene Stelle des Herrn der Geschichte einnehmen? Und wenn ja, hat sich der Mensch durch die Usurpation dieser Rolle nicht hoffnungslos übernommen?
Der jüngst verstorbene Theologe Eugen Biser hat in einem seiner letzten Bücher Der obdachlose Gott die Säkularisierungsthese aufgenommen und die Ansicht vertreten, dass sich die technologische Zivilisation der Moderne nach und nach der Eigenschaften Gottes bemächtigt habe. Wenn nicht Gott den Menschen geschaffen hat, sondern umgekehrt die Vorstellung von Gott ein Produkt des Menschen ist, wie Feuerbachs Projektionsverdacht nahelegt, dann kann die Expansion der technologischen Zivilisation als Wiederaneignung der an den Himmel projizierten Schätze durch den Menschen selbst gedeutet werden. Der Mensch will nun endlich sein wie Gott, er erobert den Himmel und verschafft sich durch die Raumfahrt, so Biser, Allgegenwart, durch die globale Informations- und Überwachungstechnik Allwissenheit und durch die Biotechnik beinahe schöpferische Allmacht. Wörtlich Biser:
Die moderne Hochtechnik greift aber noch weit tiefer und folgenschwerer ins Zeitgeschehen ein. Denn sie zog mit ihren spektakulären Hervorbringungen Konsequenzen aus dem Tod Gottes, durch den, seinem Propheten Nietzsche zufolge, die vom Menschen an Gott abgetretenen Attribute freigesetzt werden, so dass sie von ihm «als seine schönste Apologie» zurückgewonnen werden konnten. Nach Freud errang er – wie in Form einer Fortschreibung seines Ansatzes in «Das Unbehagen in der Kultur» zu sagen ist – in der Raumfahrt einen Anteil an göttlicher Allgegenwart, in der Nachrichtentechnik einen Anteil an göttlicher Allwissenheit und in der Evolutionstechnik sogar einen Anteil am göttlichen Schöpfertum.4
Bei manchen Zeitgenossen scheinen die Klonexperimente in den Laboratorien der Bio-Ingenieure in der Tat Allmachtphantasien zu beflügeln, der Mensch könne in absehbarer Zukunft den Zipfel der Ewigkeit erhaschen und immer länger, ja vielleicht unbegrenzt leben. Bei solch hochgeschraubten Erwartungen bleibt unbedacht, dass die quantitative Verlängerung des Lebens durch «Auferstehungstechnologien» (Botho Strauß) nicht schon die Fülle des göttlichen Lebens erreicht, von der das Mängelwesen Mensch allenfalls eine schwache Ahnung hat. Wie dem auch sei, Eugen Biser sieht im Griff nach den göttlichen Attributen eine versteckte Rebellion des neuzeitlichen Menschen am Werk, die darauf abziele, das der Hand des totgesagten Gottes entglittene Heil selbst hervorzubringen. Der Mensch wäre am Ende selbst der Ingenieur seines Heils, er bräuchte es nicht aus der Hand eines anderen zu empfangen. Biser denkt allerdings noch ganz in den Bahnen der Religionskritik des 19. Jahrhunderts, wenn er die Depotenzierung Gottes mit der Selbstermächtigung des Menschen verbindet. Inzwischen ist die Denkfigur der Beerbung um eine Drehung weiter geschraubt worden, ausgeklügelte Computerprogramme und automatisierte Technologien haben ihre Macht über den Menschen angetreten. Die Entthronung des Menschen und seiner Steuerungskompetenz durch technische Surrogate ist in vollem Gange.
II
Gleichwohl haben Bisers Überlegungen5 im Blick auf die anhaltende Diskussion um die Datenspeicherung durch den amerikanischen und andere Geheimdienste oder durch Internet-Konzerne wie Google, Facebook, Apple und Twitter eine überraschende Aktualität erhalten. Das dreiste Abgreifen und extensive Sammeln von Daten mit oder ohne Wissen der Betroffenen könnte als Versuch gedeutet werden, die Allwissenheit, bislang eine Prärogative Gottes, in die Verfügbarkeit des Menschen zu bringen. Alles, was im Medium elektronischer Kommunikation gesagt, geschrieben und unverblümt über das Innenleben preisgegeben wird, bleibt nicht im geschützten Raum des Privaten, es wird im Namen von Sicherheit und Transparenz mitgelesen, mitgehört durch elektronische Augen und Ohren, die nicht vergessen, was sie einmal gesehen, und nicht vergessen, was sie einmal gehört haben. Dabei ist wichtig – und das wäre kritisch im Blick auf Biser anzumerken –, dass es keine menschlichen Augen mehr sind, die hier sehen, und keine menschlichen Ohren, die hier hören: der babylonische Turm der Überwachung ist leer, es ist das virtuelle Auge technischer Apparate, das die Standortgebundenheit und Fehleranfälligkeit des menschlichen Blicks weit hinter sich gelassen hat, sie an Präzision überbietet und herkömmliche Kontrolleure und Wachposten weithin überflüssig macht. Aus den maschinell gesammelten Daten aber werden Profile erstellt, die das Verhalten der ausspionierten User prognostizierbar, berechenbar und kommerziell nutzbar machen. Aus dem bisherigen Kommunikations- und Kundenverhalten kann und soll das kommende abgelesen werden.
Wem aber kommt die Verfügungsgewalt über die Daten zu? Mit entwaffnender Offenheit hat Eric Schmidt, Executive Chairman von Google, geschrieben: «Wir wissen, wo du bist. Wir wissen, wo du warst. Wir können mehr oder weniger wissen, was du gerade denkst.»6 Er hat damit offengelegt, dass die schöne, neue Welt der totalen Transparenz, die Dave Eggers in seinem Roman The Circle soeben warnend beschrieben hat, längst dabei ist, Wirklichkeit zu werden. Es geht darum, mit den Mitteln der avancierten Technik möglichst alles über alle in Erfahrung zu bringen. So werden in Eggers Roman etwa an allen Orten der Welt kaum sichtbare, gerade einmal daumengroße Kameras aufgestellt, deren Livestreams überall online abgerufen werden können. «Sie wissen nicht, dass wir sie sehen, aber wir sehen sie.»7 Das Ziel ist, dass jeder Circle-Benutzer sich die elektronischen Augen zunutze machen kann, um zu sehen, was gerade geschieht. «Wir werden allsehend, allwissend. […] Alles, was passiert, wird bekannt sein.»8 Gleichzeitig werden alle Aufzeichnungen der virtuellen Augen gesammelt und gespeichert. Die begrenzte Kapazität und Fehleranfälligkeit des menschlichen Gedächtnisses wird kompensiert. Ein Löschen der Daten, ein Recht auf Vergessen ist nicht vorgesehen. Geheimnisse soll es nicht mehr geben. Wer solche für sich reklamiert und sich weigert, transparent zu sein, gerät in Verdacht, etwas verbergen zu müssen, nicht ganz «clean» zu sein. Circle unterbreitet den Vorschlag, allen Neugeborenen einen Chip zu implantieren, damit Eltern jeder Zeit sehen können, wo sie sich aufhalten. Die Welt wird doch besser, wenn Kindesentführungen unmöglich werden! Ein eigenes Such-Programm PastPerfect trägt in kürzester Zeit alle Spuren, die ein Nutzer samt seinen Vorfahren je in den Welten des Netzes hinterlassen hat, zusammen und erstellt daraus ein Profil, so dass zurückliegende Hypotheken der Familie oder Makel der eigenen Biographie offenbar werden: für alle. Die Welt wird doch besser, wenn die Profile von Menschen mit auffälligem Sozialverhalten oder gar kriminellem Hintergrund für immer sichtbar markiert werden! Der leise Zweifel, den eine Experimentierperson des Programms Pastperfect äußert: «Um ehrlich zu sein, ich weiß nicht, ob wir alles wissen sollten»9, wird als ketzerischer Verstoß gegen das Leitbild der Transparenz abgelehnt. Befürchtungen, dass Menschen an dieser gnadenlosen Aufdeckung zerbrechen könnten, dürfen nicht geäußert werden. Transparenz ist alles, das virtuelle Auge aber, das alles sieht und nichts vergisst, ist kalt und leer. Für die Circle-Mitglieder werden schließlich kaum sichtbare Kameraaugen entwickelt, die sie am Körper tragen, damit jeder, der will, mitverfolgen kann, was sie gerade erleben und tun. Ein ehemaliger Theologiestudent und Computerfreak kommentiert diese Fortschritte: «Jetzt werden alle Menschen die Augen Gottes haben. Kennt ihr diese Bibelstelle? ‹Es ist alles bloß und entdeckt vor Gottes Augen› … Jetzt sind wir alle Gott. Bald wird jeder Einzelne von uns in der Lage sein, jeden anderen zu sehen und ein Urteil über ihn zu fällen: wir werden alles sehen, was Er sieht. Wir werden Sein Urteil aussprechen. Wir werden Seinen Zorn channeln und Seine Vergebung erteilen. Auf einer dauerhaften und globalen Ebene.»10 Aber übernimmt sich der Mensch nicht, wenn er mithilfe technischer Unterstützung alles sehen und alles wissen will? Die Bedenkenträger und Kritiker eines Lebens «unter der Überwachungskuppel»11 von der Wiege bis zur Bahre bleiben im Roman alle auf der Strecke. Am Ende wird eher flüchtig das Motiv angesprochen, das viele, ja fast alle mitmachen lässt: der Wunsch, gesehen zu werden. Denn letztlich bestimmt sich das Ansehen eines Circle-Mitglieds vor allem dadurch, wie hoch die Anzahl der Viewer ist, die sein Leben mit ansehen. «Ich will gesehen werden. Ich will den Beweis, dass ich existiert habe.»12 Angeschaut werden ist alles! Die von Eggers skizzierte Vision einer gläsernen Gesellschaft, in der sich alle bei allem zusehen können, mag literarisch nicht ganz befriedigend sein, ihren Zweck aber, aufzurütteln, erfüllt sie.13
Auch andernorts mehren sich aufrüttelnde Stimmen, die davor warnen, dass das unsichtbare elektronische Auge, das alles sieht, zu einer Beeinträchtigung der Freiheit, ja zu einer Gleichschaltung menschlichen Verhaltens führen könnte.14 Botho Strauß hat in seinen Aufzeichnungen Lichter des Toren von der neuen Gestalt der medialen Öffentlichkeit als einem «Leviathan» gesprochen und die «totalitäre Unverborgenheit des Lebens» bemängelt: «Unbezwingliche, unregulierbare Kraft, die alle beherrscht, gängelt, sich genehm macht, verzehrt und ausspeit. Nichts bei sich behält, nichts lernt und niemals bereut, welche Deformationen und Zerstörungen sie auch ausrichten mag.»15 Nicht ohne Schärfe kommentiert er an anderer Stelle den um sich greifenden Transparenzwahn: «Vielleicht bleibt noch die ein oder andere Liebesnacht geheim, aber sonst stehen alle Türen offen. Was gäbe es außer Mafiazirkeln, das nicht jedermann zugänglich wäre? Transparenz! Und was ist eigentlich aus der Kunst der Diskretion geworden, die einst die Individuen untereinander vor den größten Unverschämtheiten der Selbstentblößung bewahrte? Diskretion wäre heute das zentrale Widerwort zu allem, was da läuft, sich äußerst und outet. Man hat schnell vergessen, dass die bisher einzige würdige Form der Kommunikation unter Menschen auf der Voraussetzung der Diskretion beruhte.»16 Aus soziologischer Perspektive vermerkt Max Otte einen Freiheitsverlust durch Beobachtung und signifikante Verschiebungen im Sozialverhalten: «Menschen passen ihr Verhalten und ihre Gedanken an. Wer weiß, dass er permanent beobachtet und ausgeforscht wird, verhält sich anders, er ist nicht mehr frei. Sogar die internationalen Beziehungen werden neu geordnet. Immer rücksichtsloser nutzt die Führungsmacht des Westens ihre Machtmittel. Der Überbau der Daten wird autonom und zur neuen Realität anstatt diese bloß abzubilden. Er zwingt alle Akteure nach den Prinzipien des zum Homo oeconomicus umprogrammierten Egos in vorbestimmte Prozesse und Abläufe. Am Ende stehen Monokulturen gleichgeschalteter Akteure.»17
Die Massenspeicherung sensibler Daten, die die inzwischen hinreichend gewarnten Nutzer im Netz in anhaltender Sorglosigkeit von sich preisgeben, könnte als Usurpation des göttlichen Blicks, der alles sieht, als Säkularisat des Gedächtnisses Gottes, das nichts vergisst, oder als neue Form der Providenz, die alles vorausschauen will, verstanden werden. Wie es allerdings im Namen von Freiheit und Autonomie scharfen Protest gegen eine falsch verstandene Allwissenheit Gottes gegeben hat, so reißen auch jetzt die Stimmen nicht ab, die Einspruch gegen die Monopolisierung der Daten durch Internetgiganten und Sicherheitsdienste einlegen. «Parallel zur Ausforschung und Überwachung des Individuums wird das Instrumentarium zur Kontrolle der öffentlichen und der veröffentlichten Meinung ausgebaut. In immer weniger geschützten Räumen kann verantwortungsvolle und tiefgreifende Reflexion erfolgen.»18 Die Politik hat versprochen, sich des Problems anzunehmen, aber ob sie über die erforderlichen Durchsetzungsmittel verfügt, die geradezu omnipotente Stellung der Internetgiganten einzudämmen, ist fraglich. Die Träume der Netzgemeinde – grenzenlose Kommunikation und Demokratisierung der Lebensverhältnisse – sind einstweilen zerplatzt, das Wort von der «digitalen Kränkung» macht die Runde, das Gespenst der totalen Überwachung geht seit den Enthüllungen des Whistleblowers Edward Snowden um.19 Die Frage steht im Raum, ob das Sammeln und Archivieren von Daten im Namen von Sicherheit und kommerzieller Nutzung nicht zum Abschied von Freiheiten führt, die im Prozess der Moderne mühsam errungen wurden.
III
In der Theologie ist das Verhältnis zwischen der Allwissenheit Gottes und der Freiheit des Menschen immer wieder thematisch geworden. Früh schon wurde betont, dass Gott unkörperlich und geistig, dass er an keinen Ort gebunden und daher überall zugegen sei. Gott, der Schöpfer, hat alles ins Dasein gesetzt und begleitet den Weg seiner Geschöpfe mit wohlwollender Anteilnahme. Er nimmt sich zurück, um ihnen Raum zu geben, seine Präsenz ist nicht erdrückend, sondern indirekt und diskret. Der Topos von der Allgegenwart Gottes, der inhaltlich an das Motiv seiner Liebe gebunden ist, verdichtet sich im Bild des Auges, das alles sieht, ohne selbst gesehen zu werden. Dieses Bild findet sich bereits im Psalter und wird dort facettenreich entfaltet.20
Dort ist zunächst vom schöpferischen Blick Gottes die Rede. Alles, was auf der Erde ist und lebt, verdankt sich Gott, der im Himmel wohnt. «Der Herr blickt herab vom Himmel, er sieht auf alle Menschen» (Ps 33, 13). Es gibt nichts, was Gott, der Schöpfer des Alls, nicht sehen würde. Umgekehrt hätte der Gedanke, dass Gott seinen Blick entzieht, zerstörerische Folgen für die Werke seiner Schöpfung, sie würden ihrer Hinfälligkeit überlassen und der Vernichtung preisgegeben: «Verbirgst du dein Gesicht, sind sie verstört» (Ps 104, 29). Von den Frommen Israels ist der göttliche Blick weniger als bedrohliche Kontrolle denn als Ermutigung, tröstliche Begleitung und Stärkung empfunden worden: «Das Auge des Herrn ruht auf allen, die ihn fürchten und ehren» (Ps 33, 18). Das Vertrauen auf die Allgegenwart Gottes hat im Psalm 139 seinen wohl dichtesten Ausdruck gefunden: «Herr, du hast mich erforscht und du kennst mich. Ob ich sitze oder stehe, du weißt von mir. Von fern erkennst du meine Gedanken […]. Du umschließt mich von allen Seiten und legst deine Hand auf mich.» Das anthropologische Grundbedürfnis, gesehen zu werden und sich vor den Augen der anderen zu entfalten, wird hier ins Theologische überführt und auf Gott bezogen. Der Beter erfährt den gnädigen Blick des Schöpfers in seinem Leben als hilfreich; die Begleitung durch Gott gibt ihm Selbstvertrauen. Der Fromme, der darum weiß, dass das Auge Gottes auf ihm ruht, ist überdies weniger abhängig vom Blick der anderen. Er ist angesehen und braucht sich sein Ansehen bei anderen nicht erst zu verdienen. Erst dann, wenn er sich dem Anblick Gottes entziehen will, stimmt etwas nicht.
Das geschieht dort, wo das Vertrauen einen Riss erhält. «Adam, wo bist du?» (Gen 3, 9) – ruft Gott, nachdem er gesehen hat, dass im Paradiesgarten das geschehen ist, was nicht hätte geschehen dürfen. Adam, der das Verbot übertreten hat, schämt und versteckt sich. Wie für ihn so wird für alle Sünder das Auge Gottes zum fragenden, prüfenden, ja strafenden Blick. Der Spiegel der Fehler und Schwächen, die er vor sich selbst nicht wahrhaben will, kann eine Last sein, die der Beter lieber abschütteln will: «Schau weg von mir, damit ich mich erholen kann» (Ps 39, 14) – «Verbirg dein Gesicht vor meinen Sünden» (Ps 51, 11). Aber der Beter im Psalm Miserere will andererseits auch nicht aus dem Blickfeld Gottes herausfallen: «Verwirf mich nicht von deinem Angesicht!» (Ps 51, 13). Das zugewandte Antlitz steht für die Anteilnahme des Schöpfers am Weg seiner Geschöpfe, das abgewandte Antlitz Gottes für den Entzug seiner Güte. Aber gleichzeitig ergeht der Ruf aus dem Mund Gottes selbst: «Sucht mein Angesicht!» (Ps 27, 8). In den Evangelien wird der Blick Jesu beschrieben. Seine Zuwendung zu den Übersehenen oder abschätzig Betrachteten, den Verlorenen und Sündern, gibt seiner Botschaft von der Barmherzigkeit und Vergebungsbereitschaft Gottes Kontur. Immer wieder würdigt er durch seinen Blick die Entwürdigten und veranlasst dadurch Umkehr und Neuanfang. In Jesus verdichtet sich die Menschenfreundlichkeit Gottes, die dem anderen nicht zu Leibe rückt, sondern genug Diskretion wahrt, um eine eigene freie Antwort zu provozieren. Jesus ist, wenn man so will, das inkarnierte Auge Gottes, das die größeren Möglichkeiten hervorlockt, wenn es zur Umkehr einlädt.21
Das Auge Gottes als Schutz und Begleitung, aber auch als prüfende und richtende Instanz – dieses Doppelmotiv ist in der Geschichte der Theologie weiter bedacht worden. Im 4. Jahrhundert hat Papst Damasus festgehalten, dass Gott alles kann, dass er alles weiß und überall ist – omnia posse, omnia nosse et ubique esse (vgl. DH 162; 164). Gerade weil Gott alles weiß und sogar in das Herz des Menschen blicken kann, ist er, wie Augustinus sagt, dem Menschen innerlicher als dieser sich selbst – interior intimo meo et superior summo meo.22 Wie das Verhältnis der göttlichen Allgegenwart und Allwissenheit zur menschlichen Freiheit zu bestimmen ist, darüber hat es in der Geschichte der Theologie unterschiedliche Auffassungen gegeben. In seiner heilsgeschichtlichen Theologie hat Irenäus von Lyon von Gott nicht nur als dem Schöpfer und Vollender, sondern auch als dem Lenker der Geschichte gesprochen. Die Geschichte ist für ihn ein Prozess der Erziehung des Menschengeschlechts, in dem der göttliche Pädagoge die menschliche Freiheit durch sanfte Anstöße von Stufe zu Stufe emporführt. In Augustins Geschichtstheologie De civitate Dei spitzt sich die Frage nach der Vorsehung Gottes zu. Es gibt zwei konkurrierende Bürgerschaften, die civitas terrena und die civitas Dei, die nicht einfach mit Staat und Kirche gleichgesetzt werden können, da auch die Kirche ein corpus permixtum aus Heiligen und Sündern ist. Die Bürger der civitas terrena leben nach der Maxime der Selbstliebe, der aversio a Deo et conversio ad creaturam, die der civitas Dei nach der Maxime der Gottesliebe, welche zum rechten Gebrauch der geschöpflichen Wirklichkeiten anleitet (uti, nicht frui). Die Geschichtstheologie Augustins erhält eine erwählungstheologische Zuspitzung, da er theologisch um jeden Preis vermeiden will, dass die Freiheit des Menschen die Souveränität der göttlichen Gnade antastet. Gott ist es, der erwählt, wenn er will – und seine Erwählung kommt siegreich ans Ziel. An den wenigen electi zeigt er seine Gnade, an der massa perditionis seine Gerechtigkeit. Auch wenn Augustinus eine Prädestination zum Bösen nicht ausdrücklich gelehrt hat, so hat er vor allem im Spätwerk den universalen Heilswillen doch verdunkelt, wie exemplarisch aus einem Brief an Octavus von Mileve hervorgeht: «So viele aber, von denen Gott vorher wusste, dass sie nicht zu seiner Gnade gehören, wollte er, indem er sie schuf, geboren werden lassen, dass sie durch eine unvergleichliche Menge zahlreicher sind als jene, die er zur Herrlichkeit seines Reiches als Söhne der Verherrlichung zu prädestinieren sich gewürdigt hat, so dass auch durch die Menge der Verworfenen erwiesen würde, dass beim gerechten Gott eine noch so große Anzahl gerechterweise Verurteilter kein Gewicht hat.»23
Abgekürzt ließe sich sagen, dass dort, wo das Verhältnis von Gott und Mensch im Konkurrenzmodell gedeutet wurde, entweder die Allwissenheit Gottes zulasten der menschlichen Freiheit betont wurde – wie in den Lehren der ewigen Vorherbestimmung vom späten Augustinus über Gottschalk bis hin zu Calvin – oder die Attribute der Allwissenheit und Allgegenwart modifiziert und eingeschränkt wurden, um Raum für die Selbstentfaltung der menschlichen Freiheit zu gewinnen. Die Exklusivpartikel der reformatorischen Rechtfertigungslehre – sola gratia, sola fide – hatten im 16. Jahrhundert dann die Funktion, Gottes Gnadenwirken alles und der menschlichen Freiheit nichts zuzuschreiben. Dieser Ausschluss der menschlichen Freiheit aus dem Geschehen der Rechtfertigung hat das Konzil von Trient bekanntlich zu einer Korrektur veranlasst, in der dem reformatorischen mere passive eine menschliche Mitbeteiligung am Erlösungsgeschehen entgegengestellt wird.24 Allerdings waren damit die Frage nach dem Zueinander von Gottes Gnade und menschlicher Freiheit nicht zureichend geklärt: Der nachtridentinische Gnadenstreit des 16. und 17. Jahrhunderts kreist um diese Frage, er ist weithin unter dem Vorzeichen des Konkurrenzmodells geführt worden. Beide Parteien – sowohl die bañezianisch-thomistische als auch die jesuitisch-molinistische Seite – gehen zwar mit dem Konzil von Trient überein, dass dem Menschen eine Mitwirkung am Heil zugeschrieben werden muss, wenn das Heil nicht an ihm ohne ihn gewirkt werden soll. Allerdings ist die Art und Weise, wie dieses Zusammenwirken von Gottes Gnadenhandeln und menschlicher Freiheit bestimmt werden soll, strittig: Die Thomisten haben tendenziell die Allursächlichkeit und Unfehlbarkeit des göttlichen Gnadenwirkens betont und dadurch die Eigentätigkeit der menschlichen Freiheit eingeschränkt, die Molinisten hingegen haben tendenziell die Autonomie der menschlichen Freiheit stark gemacht und dadurch die Unabhängigkeit und Souveränität Gottes in Gefahr gebracht.25 Der Papst hat am Ende entschieden, die Frage nach dem Verhältnis von Gnade und Freiheit sei unentscheidbar – und beide Kontrahenten aufgefordert, auf wechselseitige Verwerfungen zu verzichten. Die päpstliche Verwerfung der Verwerfungen darf auch deshalb weitsichtig genannt werden26, weil sie die legitime Vielfalt theologischer Schulen innerhalb der katholischen Kirche sichergestellt hat.
Nur ein Gott allerdings, der die geheimen Absichten des Herzens kennt27, der hinter der Tat auch die Gesinnung sieht, kann am Ende als Richter der menschlichen Angelegenheiten fungieren. Das Jüngste Gericht, das die Wahrheit der menschlichen Freiheitsgeschichte aufdecken und beurteilen wird, ist ein Gericht der Gnade, wenn anders der Richter zugleich der Retter ist, der nichts unversucht gelassen hat, den Verlorenen nachzugehen und sie für Gott zu gewinnen. Diese erlösende Umprägung des Gerichtsgedankens ist in der Geschichte der Kirche in Katechese und Verkündigung immer wieder verdunkelt worden. Das Gericht wurde als Ort der gnadenlosen Abrechnung, die Eschata Hölle und Purgatorium als postmortale Folterkammern dargestellt. Dadurch wurde das Gericht als «Lernort der Hoffnung»28 verkannt und zu einem Instrument der Einschüchterung der Gläubigen missbraucht. Der unbestechliche Blick des Richters werde alle einholen, jeder müsse für seine Taten Rechenschaft ablegen, keiner komme davon. So richtig das Motiv der Gerechtigkeit ist, dass alle Täter von der Wahrheit ihrer Taten eingeholt werden und ihr nicht ausweichen können, so wichtig ist zugleich das Motiv der Barmherzigkeit, dass der Erlöser-Richter die Täter nicht auf die Summe ihrer Untaten festlegt. Das gütige und prüfende, zur Umkehr einladende Auge Gottes, von dem der Psalter spricht und das Jesus in seinem Wirken verkörpert, würde zum kalten Kontrollorgan, wenn es auf ein oculus punitivus verkürzt würde.
Die Reduktion des göttlichen Auges auf ein den Menschen kontrollierendes Organ hat Abwehrreaktionen hervorgerufen, die in die Entstehungsgeschichte des modernen Atheismus hineingehören. Der Alles-Seher, der hinter die Worte und Taten auf die geheimen Regungen des Herzens schaut und selbst die verborgenen Abgründe des Menschen ausleuchtet, wurde als unerträglich empfunden. Die Rebellion gegen Gott als Voyeur der menschlichen Neigungen und Triebe hat in Nietzsches Also sprach Zarathustra klassischen Ausdruck gefunden. Hier wird der Mensch zum «Mörder Gottes», weil er es nicht erträgt, gesehen zu werden.
Aber er [Gott] – musste sterben: er sah mit Augen, welche Alles sahn, – er sah des Menschen Tiefen und Gründe, alle seine verhehlte Schmach und Hässlichkeit. Sein Mitleiden kannte keine Scham: er kroch in meine schmutzigsten Winkel. Dieser Neugierigste, Über-Zudringliche, Über-Mitleidige musste sterben. Er sah immer mich: an einem solchen Zeugen wollte ich Rache haben – oder selber nicht leben. Der Gott, der Alles sah, auch den Menschen, dieser Gott musste sterben! Der Mensch erträgt es nicht, dass solch ein Zeuge lebt.29
Gerade um der Freiheit und Autonomie des Menschen willen wird die Existenz des allgegenwärtigen und allwissenden Gottes bestritten. Schon bei Jean Paul kündigt sich literarisch die atheistische Religionskritik an, wenn es in der berühmten Rede des toten Christus vom Weltengebäude herab, dass kein Gott sei heißt: «Und als ich aufblickte zur unermesslichen Welt nach dem göttlichen Auge, starrte sie mich mit einer leeren bodenlosen Augenhöhle an.»30 Das Erlöschen des Gottesauges ist hier noch ein Alptraum, aus dem der Protagonist am Ende erleichtert erwacht, weil er deutlich spürt, dass ohne den himmlischen Vater alle Menschen zu verwaisten Kindern im All würden. Ja, Jean Paul erklärt ausdrücklich, er habe dieses beklemmende Traumgesicht geschrieben, um sich im Augenblick der größten Glaubensnot selbst zu erschüttern und von Zweifeln zu heilen. Was bei Jean Paul noch ein Alptraum ist, wird bei Feuerbach, Nietzsche und Freud dann zum Wunschtraum der Freiheit, die sich von religiösen Vorgaben abkoppelt. Das Gottesbeerbungsprogramm findet bei Jean-Paul Sartre schließlich einen späten Reflex, wenn er schreibt: «Mensch sein heißt danach streben, Gott zu sein, oder, wenn man lieber will, der Mensch ist grundlegend Begierde, Gott zu sein.»31 Das Verlangen des Menschen, Gott zu sein, läuft im Existentialismus folgerichtig auf einen Atheismus hinaus: «Wenn Gott existiert, ist der Mensch ein Nichts; wenn der Mensch existiert…»32
IV
Der Fromme, der sich in seinem Leben vom Auge Gottes begleitet weiß, muss sich in seiner Existenz indes nicht bedroht fühlen. Seine Freiheit kann sich entfalten, sie wird weder gnadenlos auf das Vergangene festgelegt, noch wird das Kommende aus dem Bisherigen einfach abgeleitet. Moralische Hypotheken können vor dem gnädigen Auge Gottes eingestanden und in einem schmerzhaften Umkehrprozess bereut und aufgearbeitet werden. Wo dies geschieht, wird der übliche Mechanismus der Schuldabwälzung unterbrochen. Die Flucht in die Unbelangbarkeit muss nicht mehr angetreten werden, das «Reizklima des Rechthabenmüssens»33, von dem Martin Walser gesprochen hat, kann einer Atmosphäre weichen, in der Fehler und Schwächen zugestanden werden, ohne dass die Geständigen damit rechnen müssten, fertig gemacht zu werden. Statt einer Halbierung der eigenen Geschichte auf vorzeigbare Erfolge, Leistungen und Verdienste können auch die weniger vorzeigbaren Momente von Schuld und Versagen angenommen werden. In der Fähigkeit, die eigene Freiheitsgeschichte unverkürzt anzunehmen, zeigt sich letztlich die wahre Mündigkeit des Subjekts.
Dabei ist anthropologisch klar: Der Mensch braucht die Blicke der anderen, er lebt von Anfang an vom wohlwollenden Blick der Mitmenschen und würde ohne Anerkennung sozial verkümmern. Aber dort, wo er um jeden Preis auffallen will, wo er krampfhaft um Aufmerksamkeit buhlt, wo er seine Identität an das Ansehen der anderen hängt, wo er sich von Beliebtheitsskalen, Rankings oder gar Facebook-Likes abhängig macht, da scheint er das Auge Gottes aus dem Blick verloren zu haben, das seine Sehnsucht nach Anerkennung allein befriedigen kann. Peter Handke hat einmal von der besänftigenden Wirkung gesprochen, welche die Vorstellung des göttlichen Zuschauers in ihm auslöst:
Das Zuschauen ist ja sehr … ich merke das ja immer wieder, wenn ich einmal gut zuschaue, irgendwo, wo ich auch bin, dass viele Leute das brauchen. Dass die einfach sofort besänftigt sind, nicht dass sie harmloser werden in ihrer fast Messerziehhaltung, sondern sie werden besänftigt, sie werden aufmerksam, auf eine Weise humorvoll mit sich selber. Das Zuschauen ist etwas, das wir alle brauchen …. dass uns jemand zuschaut auf eine umfassende Weise, wie man sich vielleicht das von Gott vorstellt, nicht?, dass Gott eigentlich durch das Zuschauen … dass das seine einzige Macht ist, denke ich mir manchmal so als Gedankenspiel: die einzige Macht Gottes ist, dass er uns zuschaut – und wenn wir uns gewärtig machen, dass Gott uns umfassend zuschaut, wären wir alle total besänftigt.34
Wären der Exhibitionismus im Netz, das Schielen nach Aufmerksamkeit um jeden Preis am Ende als Symptome der Gottvergessenheit zu deuten? Der chronisch nach Anerkennung Ausschau haltende Zeitgenosse hätte den Blick vergessen, der ihn ansieht und ihm gerade auch dann Ansehen gibt, wenn er für andere unansehnlich zu sein scheint. Die Bereitschaft sich zu entblößen, sich freiwillig durch elektronische Augen und Ohren ausspähen zu lassen, gehört jedenfalls zu den erstaunlichen Phänomenen der Gegenwart.
Michel Foucault hat in seinem Buch Überwachen und Strafen das Panoptikum, die Zentralüberwachung durch einen hohen Aussichtsturm, als Disziplinierungsinstrument in Gefängnissen und Fabriken beschrieben.35 Vom Turm in der Mitte kann man die Insassen in den gläsernen Zellen rings herum sehen, ohne dass diese sehen könnten, dass sie gesehen werden. Auf diese Asymmetrie kommt alles an. Ob im Turm real ein Beobachter ist, spielt letztlich keine Rolle. Wichtig ist, dass die Häftlinge dem virtuellen Blick des Aufsehers permanent ausgesetzt sind, ohne sich verbergen zu können. Alles liegt offen zutage. Im Panoptikum funktioniert die Maschinerie der Überwachung auch ohne Personal. Das ist durchaus ein Gleichnis für das digitale Gottesauge der heutigen Überwachungstechnologie, die mit noch ganz anderen Möglichkeiten aufwartet und Menschen subtil zu lenken und zu dressieren versteht.
Foucault hätte sich sicher die Augen gerieben, wenn er gesehen hätte, dass sich heute hunderte Millionen Menschen freiwillig in den gläsernen Käfig begeben und sich vom Kontrollblick der Internet-Giganten ausleuchten lassen. Sie wissen darum, dass die Spuren, die sie im Netz hinterlassen, aufgezeichnet und in Archiven gespeichert werden. Für viele ist es wichtig, dazuzugehören, mitzumachen und mit anderen vernetzt zu sein. Für andere sind anonyme Mitwisser, Mitleser und selbst Voyeure erwünscht, da sie die soziale Bühne bilden, auf der man posieren und sich selbst darstellen kann. Statt schriller Selbstinszenierung und freiwilliger Selbstpreisgabe im großen Panoptikum, das alles speichert und künftiges Verhalten kühl kalkuliert, das nichts vergisst und nichts verzeiht, könnte eine Rückbesinnung auf den befreienden Blick des göttlichen Zuschauers hier durchaus heilsam sein. Nichtglaubende, die ihre Schwierigkeiten mit einem solchen Zuschauer haben, könnten immerhin so tun, als ob es ihn gäbe und den Psalmvers betrachten: «Du wirst mich befreien aus dem Netz, das sie mir heimlich legten.» (Ps 31, 5)
Für Elias und Johanna.