Christliche Mystik

In Burgund wird geschuftet: Ein Mann, durch seine Kleidung und sein Schuhwerk als Diener gekennzeichnet, schüttet einen schweren Sack voller Korn in eine Getreidemühle, ein anderer, der die Tunika eines römischen Bürgers trägt und barfuß ist, hält einen Sack darunter und fängt das Mehl auf. Diese Szene aus dem bäuerlichen Arbeitsleben wird an einem hochheiligen Ort dargestellt: Es ist eine romanische Skulptur an einem der 99 Kapitelle im Schiff der Kirche von Sainte-Marie-Madeleine in Vézelay. Wie ein Gleichnis Jesu macht das Kapitell das Unsichtbare sichtbar und das Sichtbare durchsichtig. Gott ist als Geheimnis der Welt gegenwärtig; die Welt lässt sich als Ort des geheimnisvollen Gottes entdecken.

Die Szene gehört zu einem ausgefeilten Bildprogramm der Kathedrale, das den Sieg des Guten über das Böse feiert. Deshalb bringt es zahlreiche Episoden aus dem Leben der Heiligen, vor allem aber aus dem Alten und dem Neuen Testament. Das Mühlen-Kapitell macht das Denken sichtbar, das dem Bilderzyklus zugrunde liegt, und mehr noch das Geheimnis, das es ahnen lässt. Rudolf Voderholzer nennt es ein «hermeneutisches Kapitell». Es greift ein altes Motiv der Exegese auf, die nach der Einheit der Heiligen Schrift sucht und sie in ihrem Bezug auf Gottes Wort findet. Der Mann, der das Korn schüttet, wird mit Mose identifiziert, der von Gott das Gesetz empfangen hat und es freigiebig mitteilt, der Mann, der es auffängt, mit Paulus, der das Evangelium verkündet. Der neutestamentliche Referenztext ist 2Kor 3, wo der Apostel den Dienst des Mose mit seinem eigenen vergleicht und die Kraft des Evangeliums rühmt, durch den Tod hindurch das Leben, durch die Sklaverei hindurch die Freiheit und durch den Buchstaben hindurch den Geist zu gewinnen. Paulus hat nicht also nur die Auslegung der Schrift, sondern die Verwandlung des Lebens vor Augen: «Wir alle aber – mit aufgedecktem Angesicht spiegeln wir den Glanz des Herrn wider, in dasselbe Bild werden wir verwandelt von Glanz zu Glanz, so wie vom Geist des Herrn» (2Kor 3, 18).

Merkwürdig ist, dass bei aller Arbeit, die das Kapitell darstellt, das schwere Drehen des Mahlwerks nicht gezeigt wird. Der Schlüssel liegt im Kreuz, das die Mühle bezeichnet: Sie steht für Jesus Christus selbst. Wie er nach anderen Bildern die Kelter tritt, damit aus den Trauben der Most fließt, so mahlt er hier in Form der Mühle das Korn zu Mehl. Er selbst, als der auferstandene Gekreuzigte, verwandelt das Gesetz ins Evangelium und lässt im Evangelium das Gesetz schmecken; er selbst verwandelt das alte ins neue Leben und lässt in der Neuheit des Glaubens die Wahrheit der Geschichte entdecken. Mose und Paulus sind als Männer der Arbeit gefragt – aber die alles entscheidende Metamorphose leistet weder der eine noch der andere, sondern Jesus Christus selbst, dem beide auf ihre Weise und an ihrem Ort dienen.

Das Motiv auf dem Kapitell wird «mystische Mühle» genannt. Was ist daran «mystisch»? Der Begriff schillert – so sehr, wie das Phänomen fasziniert. Gegenwärtig wird das Wort für alles Mögliche gebraucht, das mehr oder weniger tiefsinnig ist. Der Begriff signalisiert ein Ungenügen an der Herrschaft des Geldes und der Uhr, am Fortschrittsglauben und an der Ablenkungsindustrie. Aber er droht zwischen Esoterik und Naturromantik, Spiritismus und Spiritualität, Wunderglaube und Transzendenzsehnsucht zu verschwinden. Im Kern ist «Mystik» religiös bestimmt – und zwar gerade dort, wo Gott als Schöpfer, als Herr und als Vollender seiner Welt gegenübersteht und den Menschen gleichwohl (oder deshalb) eine Begegnung mit Gott, mehr noch: eine Verbindung mit ihm, vielleicht gar eine Einigung – oder Vereinigung – mit ihm verheißen wird, ohne dass Gottes Gottheit verwässert und der Menschen Menschlichkeit geleugnet würde. Im Vorwort zum ersten Band seines Jesusbuches hat Joseph Ratzinger / Benedikt XVI. den zentralen Punkt markiert. Im Blick auf die Gebete Jesu, von denen die Evangelien erzählen, wird die Teilhabe der Gläubigen an der Gemeinschaft angesprochen, die Jesus, den Sohn, mit Gott, dem Vater, verbindet: «Der Jünger, der mit Jesus mitgeht, wird so mit ihm in die Gottesgemeinschaft hineingezogen. Und dies ist das eigentlich Erlösende, die Überschreitung der Schranken des Menschseins, die durch die Gottebenbildlichkeit als Erwartung und Möglichkeit im Menschen schon von der Schöpfung her angelegt ist». Eine «mystische Mühle» ist demnach eine Hermeneutik der Schrift, die im Wort der Bibel das Wort Gottes, und eine Hermeneutik des Lebens, die den Kairos der Gotteserkenntnis im menschlichen Herzen erkennen lässt, das Glanzlicht der Ewigkeit in der Zeit, das Geheimnis der Liebe im Alltag der Welt.

Hier liegt die Faszination der Mystik, die sich noch in den säkularen Surrogaten spüren lässt. Hier sind auch das Judentum und der Islam, der Buddhismus und der Hinduismus mit ihren Antworten präsent. Hier muss sich auch der Begriff der Mystik bilden und bewähren. Er verweist auf das Mysterium Gottes, von dem Jesus (Mk 4, 11 parr.) wie Paulus (1Kor 2, 7 u.ö.) gesprochen haben, um die unendliche Nähe Gottes im Leben der Menschen und die absolute Offenheit Gottes in der Verborgenheit des Kreuzes zu entdecken.

Eine solche Mystik ist schwere Arbeit, die im Entscheidenden von Gott selbst geleistet wird; sie verlangt hohe Aktivität, die im Kern Kontemplation ist; sie braucht eine gute Technik, die im Wesentlichen Gnade ist. Auf dem Kapitell in Vézelay, das dem Meister von Cluny zugeschrieben wird, also dem künstlerischen Protagonisten einer der wichtigsten Reformbewegungen in der Kirche des Mittelalters, wird all dies anschaulich: in einer Zeichensprache, die antike Formen innovativ aufgreift und deshalb bis heute, millionenfach photographiert, die Blicke auf sich zieht. Die Plastik kann die Augen für die Schnittstellen der Kommunikation zwischen Gott und Mensch öffnen, die im menschlichen Herzen liegen – insbesondere, wenn sie nicht nur als herausragendes Beispiel christlicher Kunst betrachtet wird, sondern an ihrem kirchlichen Ort als Hinweis auf das Geheimnis der Eucharistie, das in der burgundischen Kirche bis heute gefeiert wird.

Der biblische Beitrag Thomas Södings zeigt von Paulus her im Blick auf Jesus Christus, wie «durch ihn, mit ihm und in ihm» die Gemeinschaft mit Gott entsteht, die durch den Geist gewirkt wird und sich weniger in kurzen Momenten der Ekstase als in langen Phasen des christlichen Lebens in Glaube, Liebe und Hoffnung bewahrheitet. Von der Antike ein großer Sprung ins Mittelalter: Dem unmethodischen und anti-elitären Mystikverständnis des Meister Eckhart, dem die ganze Lebenswirklichkeit Schauplatz der Mystik ist, widmet sich der Beitrag von Martina Roesner. Marianne Schlosser stellt die im inneren Gebet konzentrierte kontemplative Erfahrung Teresa von Avilas vor, deren 500. Geburtstag gerade gefeiert wird. Jörg Splett sucht in Schlaglichtern die Mystik Charles Péguys zu erhellen, Hanna­-Barbara Gerl-Falkovitz zeigt, wie Edith Stein die Mystik eines Dionysius Areopagita rezipiert und – so dürfe man vermuten – selbst mystische Erfahrungen macht. In einem abschließenden Interview berichtet der Benediktiner Elmar Salmann, Philosoph und Theologe, von seiner lebenslangen und vielseitigen Auseinandersetzung mit Mystik.

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