Mystik als erfahrenes Leben und DenkenEin Gespräch mit Elmar Salmann OSB

Andreas Bieringer: Elmar Salmann, Sie haben sich in Rom jahrelang mit der Beziehung von «Philosophie und Mystik» beschäftigt. Woher kam dieses Interesse, wie hat es Ihre Theologie beeinflusst?

Elmar Salmann: Vermutlich liegen die Wurzeln dieses Interesses in meiner Kindheit und Jugend. Mich hat schon immer das Raumerlebnis von Kirchen interessiert. Auch begannen in meiner Jugend die Predigten nicht mit «Liebe Brüder und Schwestern» sondern mit «Andächtige im Herrn Versammelte», das gefiel mir ausnehmend. Andächtig sich erinnern, versammelt, gesammelt, im Raum Gottes sein, das schien mir plausibel. Dann kam im Studium meine Faszination für die Trinität hinzu: Gott selbst ist nicht nur Einheit, sondern auch Differenz, Distanz und Gegenseitigkeit. Von dieser Optik her entdeckte ich dann eine mystische Grundierung in der Philosophiegeschichte – von Platon über Plotin, Cusanus, den Deutschen Idealismus bis hin zu Heidegger und Wittgenstein. Im Noviziat schließlich las ich alle großen Texte der christlichen Mystik von Origenes bis Teilhard de Chardin. In meiner Theologie hat diese Lektüre später viele Fragen ausgelöst: Welche Erfahrungen bringen den Menschen dazu, Gott, Schöpfung, Erlösung und Gnade zu denken, zu fühlen und Spuren davon im Alltag zu suchen?

Bieringer: Wie prägt Ihre Lebensform als Mönch den Zugang zur Mystik? Steht man als Mönch der Mystik besonders nahe?

Salmann: Zunächst ist das Mönchische natürlich etwas Objektives, Liturgisches, Sakramentales und Aszetisches. Aber im Wiederkauen, im Singen der Texte, im täglichen Wiederholen der selben Gesten, Gebärden und Worte entsteht eine Tiefendimension. Daraus kann natürlich auch eine falsche Routine und Mechanik werden. Will man dem Rhythmus des mönchischen Lebens fruchtbar standhalten, wird man die Texte so tief neu lesen müssen, um mit der Gegenwart Gottes in diesen Wirklichkeiten in Kontakt zu kommen. Ich selber habe das Bedürfnis gespürt, die psychologisch-subjektive Seite dieses Erfahrens zu verstärken, indem ich mich intensiver mit der Geschichte und Wirklichkeit des Mystischen beschäftigt habe. Einen solchen Weg geht man nicht ohne eine tiefe Anziehung von etwas oder der Fähigkeit zur Andacht, zur Frömmigkeit, zum Gott-Inne-Sein, sich gerne im Raum der Geheimnisse des Kirchlichen zu bewegen. Man kann wahrscheinlich ein monastisches Leben auf Dauer nicht gut und fruchtbar aushalten, ohne seinen Sinn für diese Wirklichkeit zu vertiefen.

Bieringer: Wenn das Stichwort «Mystik» fällt, denken vielen an Karl Rahners Diktum: «Der Fromme von morgen wird ein Mystiker sein, einer, der etwas erfahren hat, oder er wird nicht mehr sein.» Wie kann man dieses Zitat - mehr als 40 Jahre nach seiner Entstehung - deuten? Wie steht es um das Verhältnis von Mystik und Alltagsspiritualität heute?

Salmann: Wahrscheinlich ist es noch dringlicher geworden, denn das Moralische, Dogmatische und Historische am Christentum verblasst immer mehr. Deswegen stellt sich heute die Frage, wie überhaupt ein Zugang zum Christentum möglich ist. Die mystischen Dimensionen liegen hier immer noch am nächsten. Der Mensch kann wahrscheinlich nicht ganz ohne mystische Erfahrungen existieren. Da gibt es die Naturmystik, die musikalische Erfahrung, da sind Erfahrungen des Gelingens, des Glückens, des Unheimlichen, des Tragenden. Alles was ich gerne mit «vita passiva» bezeichne. Jeder Mensch erfährt, dass er sich selbst vorgegeben, ja vorgesetzt ist. Ich bin mir geboren, mir zugespielt, mir zugedacht, etwas umfasst mich, umgreift mich und unterfängt mich, etwas erleuchtet mich, inspiriert mich, ich weiß mich im Tiefen anerkannt, aber auch angegangen und ausgesetzt. Das sind elementare Alltagserfahrungen, die sich schnell zum Mystischen hin erschließen lassen – auch wenn diese Erfahrungen meist anonym bleiben. Zugleich ist aber auch das Dunkel da, das Sich-Entziehende, das Unterbrechende, das, was ich nicht fassen kann. Aber es gibt auch Erfahrungen des Geborgenseins, der Fassung und Rahmung, auf die man im Unglück wie im Glück zurückgreift. All das sind kleine Spuren des Mystischen im Alltag, die heute wahrscheinlich einer der wenigen Zugänge zur Religion sind.

Bieringer: Im Unterschied zu vielen anderen Begriffen der Theologie ist Mystik positiv besetzt, man könnte auch von einer seit längerem anhaltenden Modeerscheinung sprechen. Wie genau definieren Sie christliche Mystik, auch in Abgrenzung zu pantheistischen oder esoterischen «Mystiken»?

Salmann: Zunächst einmal grenze ich nicht ab, sondern ordne zu und verbinde. Wenn Mystik aus Alltagserfahrungen entsteht, wenn es das Ankommen eines Umfassenden ist, das mich ergreift, und ich erfahre, dass ich gemocht und gelitten bin, dass ich in einem Raum beheimatet bin, den ich nicht geschaffen habe, dass mir etwas glückt, dass etwas mein Leben durchkreuzt, dass ich aufatmen kann in einem größeren Zusammenhang, dann sind solche Formen pneumatischer Erfahrung durchaus mit «Mystiken» anderer Räume, z.B. des Buddhistischen, des Vorpersonalen, des «Spirituellen» im weiten Sinne verwandt. Ich spreche gerne von freudigen Wahlverwandtschaften zwischen solchen mystischen Urerfahrungen. Das gilt auch von Formen des Leerwerdens, wo ich spüre, dass keine der Erfahrungen meines Ich, meiner Freiheit, meiner Verbindung zu anderen Menschen oder zur Natur dem ganz gerecht wird. Auch esoterische und an die Grenze des Pathologischen gehende Erfahrungen sind der christlichen Mystik nicht unvertraut. Hier gibt es eine breite Schicht des Gemeinsamen im Religiösen, die sich auch in der Musik oder in literarischen Formen, denken wir an die Romane Hermann Hesses, ausdrücken können. Vor all dem habe ich keine Angst, sondern grüße freudig solche Affinitäten. Im Christentum wird dieses Spirituelle auf verschiedene Weise erschlossen, relativiert und noch einmal kritisch unterschieden. Es wird vertieft, erweitert und geläutert: Auf die Gestalt Jesu Christi hin und auf das Mysterium der Dreifaltigkeit, auf das Gebet zum Vater durch den Sohn im Heiligen Geist. Ein wichtiges Kriterium der Wahrheit und Wahrhaftigkeit mystischer Erfahrungen ist für mich aber auch, inwieweit sie zur Lebbarkeit, Lebensdienlichkeit und Liebenswertheit des Lebens beitragen, also Ferment im Alltag werden und damit sich auch im Personalen wie Sachlichen bewähren.

Bieringer: Eine Ihrer Grundthesen lautet, dass eine enge Wahlverwandtschaft zwischen Mystik und Aufklärung besteht. So sehen Sie etwa Gemeinsamkeiten zwischen Meister Eckhart, Johannes vom Kreuz, Franz von Sales und Descartes, Kant, Hegel und Wittgenstein (u.a.). Können Sie diese Verbindung näher erläutern? Viele würden Mystik und Aufklärung eher als Widerspruch auffassen.

Salmann: Natürlich existieren Formen der Mystik und der Aufklärung, die gar nichts miteinander zu tun haben. Aber es gibt doch Horizonte und Abgründe, die Aufklärung und Mystik miteinander verbinden. Ich habe schon von der mystischen Grundierung der Intuitionen der Philosophie von Platon bis Wittgenstein gesprochen. Und tatsächlich ist wahrscheinlich keine große Philosophie ohne Inspiration und Erleuchtung zu verstehen. Darüber hinaus bestehen noch weitere historische und systematische Verbindungen: Die Geburt der Neuzeit spielt sich auch in der Geschichte der Mystik ab, in ihren vielen Formen, die vom 13. bis zum 17. Jahrhundert zur Entdeckung des Ich, seiner Höhen und Tiefen, seiner Abgründigkeit, seiner Fähigkeit zur Selbstkritik, aber auch seiner Welthaftigkeit führten. Jakob Böhme etwa wird für den Deutschen Idealismus wichtig. Der Pietismus ist bedeutsam für Kant und wiederum für die Philosophen von Fichte bis Schelling. Der Quietismus hat auf die französischen Aufklärer großen Eindruck gemacht, weil die Mystiker zur tiefen Kritik an aller Erfahrung fähig sind, alle Dinge noch einmal im Gegenlicht lesen und darin zugleich die Tiefe der Freiheit, der Spontaneität, des Schöpferischen, der Autonomie des Ich entdecken und einen Welt- und Ichzusammenhang erschließen, den man nicht nur einfach philosophisch denken kann, sondern der eine Intuition braucht, damit er aufgeht. Es kommen also Weltkritik und Selbstkritik, Entdeckung der Spontaneität, des Unheimlichen und des Erhellenden zusammen. Aber die Mystik hat noch weitere Seiten: Sie ist gewissermaßen «demokratisch», sie ist Frauen wie Männern zugänglich und sie hat einen starken literarischen und sprachschöpferischen Einschlag. Die Mystik besitzt Sinn für Sensibilität, Erotik, Dramatik und die Wandlungsmächtigkeit des Menschen. All das ist auf andere Weise auch in der Aufklärung neu entdeckt worden. Da bestehen eigentümliche Verwandtschaften und Grußverhältnisse, denen ich gerne nachgegangen bin. Das Ganze ist nun kein theoretischer Ansatz, sondern eher ein «Vorschlag zur Güte», eine Weise, Dinge anders zu lesen – ohne daraus eine Metatheorie destillieren zu wollen.

Bieringer: Wenn ich Sie richtig verstanden habe, dann sind beide Größen durch ein besonderes Krisenbewusstsein nach Innen (Kritik des Subjekts) und Außen (Wert und Verbindlichkeit äußerer Traditionen) miteinander verbunden. Wohin führt dieser Weg, was ist das gemeinsame Ziel von Mystik und Aufklärung?

Salmann: Vielleicht gibt es kein gemeinsames Ziel, sondern eine überraschende Weggemeinschaft, die man immer wieder neu entdecken muss. Diese Verwandtschaft liegt nicht offen zu Tage, es gibt auch kein gemeinsames Telos, sondern eine geistesgeschichtliche und archetypische Nähe. In diesem Kontext möchte ich zunächst die Kritikfähigkeit nennen. Denken wir daran, wie scharf Johannes vom Kreuz oder Meister Eckhart alle Vorstellungen, Bilder, Projektionen, Vorurteile, vorläufigen seelischen Erfahrungen und Identifizierungen sowie auch kirchlich-sakramentale Festlegungen kritisieren und als nicht zu Gott gehörig ausscheiden, um dann schließlich dem bildlosen Gott als Ein und Alles Raum zu geben. Da können oft die überzeugtesten Aufklärer nicht mithalten. Hier gibt es im Vorgehen und im Entdecken viele Gemeinsamkeiten. Es ist eine parallele Entdeckungsreise des neuzeitlichen Subjekts zum Unvordenklichen und zu dem, was es trägt und überhaupt erst ermöglicht. An dieser Stelle wäre auch die Negative Theologie wiederzuentdecken, da Mystik etwas «Agnostisches» hat. Sie weiß nicht nur, was Gott nicht ist, sondern erlebt und durchfährt dieses Nicht-Sein auch am eigenen Leib, um dann zu einem geläuterten Gottesverständnis, ja zu einer Entbergung der Gott-Gegenwart zu kommen. Darüber hinaus verbindet Mystik und Aufklärung das gemeinsame Wissen um die Abwesenheit Gottes, um seine Nichtverfügbarkeit.

Bieringer: Sie haben einmal gesagt: «Mystik und Aufklärung gipfeln und bewahrheiten sich im Ereignis der Erleuchtung.» Was meinten Sie damit? «Erleuchtung» ist ja ein äußerst schillernder Begriff.

Salmann: Ich würde sagen, sie gipfeln und bewahrheiten sich nicht nur in der Erleuchtung, sondern sie kommen von der Erleuchtung her. Es gibt kein großes Denken ohne eine Fulguration, ein Aufblitzen, eine Erhellung des Horizontes, eine gegenstandslose Helle, in der die Dinge zusammenkommen und sich neu differenzieren. Dieter Henrich zeigte in seinem Buch «Werke im Werden» (2011) auf, wie alles große Denken in einer Uridee, eben in einer Erleuchtung wurzelt. Erleuchtung heißt, dass das, was zunächst nebeneinander steht und sich auszuschließen scheint, auf einmal zusammenstimmt – wie ein Magnet, der die vielen Späne zu einem geordneten Feld zusammenfügt. In der Erleuchtung wird das, was bisher neben, aus- und gegeneinander stand, als Teil eines Wirklichkeitsfeldes erfasst. Aber auch umgekehrt: Was bisher diffus eins und gleichgültig zu sein schien, gewinnt auf einmal eine differenzierte Ordnung, entfaltet sich ins Viele. Dann gehören zur Erleuchtung auch Erfahrungen, in denen man nicht mehr weiterzukommen scheint: Man steht wie vor einer Mauer, die sich am Ende doch als Anfangspunkt eines neuen Verstehens erweist. In der Erleuchtung kommt das Subjektive – das Empfinden, Tasten und Suchen – und das Objektive zusammen. Erleuchtung ist dabei nicht harmlos. Sie braucht fast immer den Durchgang durch den Zweifel, das Nichtverstehen und Nicht-Weiterwissen. Die Erleuchtung bleibt auch immer ungesichert – trotz aller Klarheit, die dann einmal in einem Augenblick aufblitzen kann.

Bieringer: In diesem Zusammenhang interessiert mich das Verhältnis von Mystik und Ethos. Sie betonen stets, dass Mystik über einen «antieudämonischen» und «aszetischen» Zug verfügt, der vom eigenen Streben nach Glück absieht und sich für die Wirklichkeit des Anderen öffnet. Wie sieht diese Offenheit für das Andere aus?

Salmann: Mir ist aufgefallen, dass es bei Malebranche, Fénelon und Kant oder besser von Ignatius bis Freud und Husserl ein antieudämonistisches Ethos gibt: Eine Indifferenz, die das Ich bereit sein lässt zum gastfreien Ertragen jeder Andersheit, ohne das Wahre zu opfern. Der Mensch ist nicht direkt auf Glück angelegt; es stellt sich erst dann ein, wenn in der Entsagung, im Verzicht, in der erschlossenen Aufmerksamkeit dem Anderen gegenüber die verschlüsselte Gegenwart Gottes sichtbar wird. Und dazu gehört die Kritik am Subjekt und an der Wahrnehmung, die Kritik an allen falschen Vorstellungen der Welt, an allen Komplexen und Neurosen. Dazu gehört aber auch eine helle Freude, in der man seine Bestimmung entdecken kann und noch mehr: Es wird zu einem Sich-Mitfreuen-Können an der Freiheit und dem Wachstum anderer.

Es geht um Entsagung und Freiheit, eine Entbindung meiner Selbst und des Anderen im Blick auf ein fruchtbares Leben. Das scheint mir der Kern des Ethos der Neuzeit zu sein. Mystik ohne Aszese wird tatsächlich falsch, esoterisch oder naschsüchtig, etwas für Feinschmecker im geistigen Lokal. Wie es keine Erleuchtung ohne den oft dunklen Weg des Zweifelns und des Durchbrechens gibt, so gibt es auch keine Mystik ohne vorgängige Aszese.

Bieringer: In Aufklärung und Mystik erscheint Gott nicht einfach als der, an den und dem zu glauben ist. Sie betonen, dass Gott garantiert, dass alles, auch das Unscheinbarste und Widrige zu einem Symbol seiner Gnade werden kann. Wie ist dieser Symbolisierungsprozess zu verstehen?

Salmann: In der Mystik erscheint - wie auch in der Aufklärung - Gott nicht als Objekt des Glaubens, sondern vielmehr als Möglichkeit, Urgrund, anonyme Präsenz, die dann auf einmal Prägnanz gewinnt. Mystik und Aufklärung ist darüber hinaus gemein, dass Gott als Horizont – ein Begriff der Rahner teuer war – erfahren wird, in dem alle Dinge anders und neu erscheinen. Gott selbst gewährt sich selten direkt als Du, als greifbare Wirklichkeit. Auch beim Mystiker sind das nur kurze Augenblicke, die sich dann wieder schmerzlich entziehen. Es bleibt jedoch der andere, frische, unerwartete, neugeborene Blick auf die eigene und weltliche Wirklichkeit. Und diese Wirklichkeit erscheint hier auf einmal als Symbol, das heißt sie kommt von weit her, ist mir zugespielt als Vorgabe. Jeder ist sich geboren, zugespielt von Fern, ja die ganze Welt wird auf einmal als Schöpfung bestimmt, als Kunstwerk eines intuitiven und kreativen Prozesses. Alle Wirklichkeit erscheint auch als Metapher, als erst noch zu entdeckendes Sprach- und Wirklichkeitsereignis, als ewige Neuheit, die mir zukommt. Die vielen Gleichnisse Jesu wollen diese neue Heraufkunft einer Welt in Sprache und Realität ankündigen und zugleich einlösend vorbereiten. Schließlich erscheint alles als Spur und Fährte, der ich folgen kann, die mich zum Lesen der Wirklichkeit nötigt. Kurzum, der Vorbehalt und Horizont Gottes ermöglicht es, die Dinge in ihrer Prägnanz, in ihrer Einmaligkeit, in ihrer Originalität und in ihrer Offenheit nach vorne und nach hinten zu lesen. Das Geheimnis Gottes in der Welt lässt die Welt auf diese Weise neu verstehen – und vielleicht ermutigt das auch zu einer anderen Lebenspraxis, die dieser Entdeckungsfahrt entspräche. Man könnte auch sagen, dass das Christentum angewandte und gelebte Relativitätstheorie ist. Alles ist in Relation zu sich selbst, zum anderen, zum Geheimnis, zur Herkunft, zur Zukunft, zum Wandlungsgang der Dinge, die sich immer neu konstellieren. Alles ist geburtlich, selbst das Sterben. Das scheint mir die Urentdeckung von Religion und Mystik zu sein.

Bieringer: Folgt man Rahner, dann hängt Glaube, Erfahrung und Mystik untrennbar zusammen. Sie sprechen in diesen Zusammenhang davon, dass aus der Erfahrung des Glaubens ein Ethos, ein Habitus, ja ein Stil wird. Mystik ist demnach ein langer Weg, eine Übung, ein Durchgang zur größeren Reife. Wie lässt sich dieser Stil im alltäglichen Leben finden?

Salmann: Mystik ist das Natürlichste. Sie ist das, was den Menschen immer schon umhegt, einbirgt und freisetzt. Man könnte es noch einmal tiefer definieren: Mystik ist, sich spontan mit den anderen Menschen und, in der Religion, als mit Gott verbunden verstehen und erfahren können. Der Mystiker weiß sich eingelassen in einen Raum des Zusammenhalts. Er kann sich nicht ohne den anderen definieren. Hier gibt es eine sichtbare Parallele zur Definition von Ehe von Freundschaft. Aus diesem Grund hat Mystik auch immer etwas Erotisches und Freundschaftliches an sich. Das kann sich auch in einer Leidensmystik ausdrücken, wenn man sich unverbrüchlich mit dem anderen vereint weiß, dann spürt man auch seine Andersheit, spürt, dass er fremd bleibt, ja, dass man sich selbst fremd bleibt. Natürlich kann auch hier das Geheimnis des Faszinierenden und des Befremdlichen verstören. Je näher wir einander sind, umso tiefer erfahren wir auch die Differenz und das Nichterfassbare unserer Selbst und des anderen. Deswegen hat alle Liebe, das Verhältnis zwischen zwei Partnern, eine tiefe Freundschaft, auch etwas Mystisches. Ich kann es nicht machen, ich muss es empfangen, ich muss es erleiden. Zugleich entsteht eine tiefe Beglückung, derer ich nicht Herr bin. So beschreibt es auch Rahner in den alltäglichen Dingen. Freilich geht er mehr von den negativen Dingen und Verhältnissen aus, die es zu überwinden gilt: Hast du dich schon einmal ganz engagiert, obwohl du es nicht wolltest? Hast du dich einem anderen Menschen ausgesetzt, obwohl du keine Kraft fühltest? Ich beginne dagegen immer beim Positiven. Ist dir schon etwas geglückt? Hast du etwas tief verstanden? Ist dir so etwas wie Zuneigung und Gelittensein schon erfahren? Ich möchte immer vom Charme ausgehen, vom Schmerz, auch vom Schleier allen Lebens, dass alles Leben eine zugespielte Schönheit, ein abgründiges Erleiden und ein Tiefengeheimnis ist, wo ich mich dann auch als unterfangen und ins Weite freigesetzt empfinde. Eine solche Mystik wäre Ferment, Rahmung, Eintiefung und Korrektiv des Lebens.

Bieringer: «Der aufgeklärte Mystiker wird das Wahre lieben, ohne Fanatiker, das Schöne, ohne Ästhet, das Gute, ohne Moralist zu sein.» Ist das eine Art Quintessenz Ihrer Vorstellung von aufgeklärter Mystik?

Salmann: Ja, aber es ist nur eine einseitige Quintessenz, es braucht unbedingt die andere Perspektive: Der Mystiker wird das Wahre nicht behaupten, ohne zu lieben, das Schöne nicht lieben, ohne das Wahre. Mystik geht nicht ohne den anderen, ohne Gott, aber auch nicht ohne das Befremdliche. Mystik erschließt uns das, was wir sonst ausschließen, was aber doch so nahe läge. Das «ohne» ist jeweils doppelwertig: Einmal verhindert es als aufgeklärte Form die Ideologisierung. Andererseits erschließt es uns etwas, was uns völlig neu aufgeht. Es geht nicht ohne das Fremde und Große. Dieser Doppelrhythmus ist die Musik der aufgeklärten Mystik.

Bieringer: Nach der Modernismuskrise ist es in den 1920er Jahren gelungen, Theologie und kirchliche Praxis mit Hilfe der liturgischen Erneuerung und dem Geist mystischer Glaubenserfahrungen zu erneuern. Welches Potential steckt in Liturgie und Mystik für die Gegenwart? Sind dies mittlerweile nicht zwei völlig getrennte Welten?

Salmann: Zunächst einmal möchte ich betonen, dass das Aufblühen des mystischen Interesses in der Theologie der 1920er Jahren maßgeblich dazu beitrug, quasi durch die Hintertür, die Modernismuskrise zu überwinden. Ihr ist es gelungen, die Erfahrung wieder zum Thema der Theologie zu machen. Fundamentaltheologie und spirituelle Theologie, die ja erst in den 1920er Jahren entstand, gingen auf einmal einen eigentümlichen Bund ein. Selbst ein so klassischer Theologe wie Garrigou-Lagrange OP las Thomas von Aquin und Johannes von Kreuz zusammen. Man könnte diese Wendung auch als indirekte Verarbeitung der vorherigen Abspaltung von Erfahrung und Geschichte in der thomistischen Theologie bezeichnen. Plötzlich wurde die Erfahrung als theologischer Ort bedeutsam. Das Ganze ist Teil dessen, was man «Bewegungen» nennt, etwa die mystische, liturgische oder Jugendbewegung. Hier sehe ich einen wichtigen Anknüpfungspunkt für unsere jetzigen Fragen und Nöte: Was kann Religion heute noch in Bewegung bringen? Welche Bewegung können wir heute neu entdecken und leben lernen? Wir sprechen oft von den charismatischen Bewegungen, von den vielen neuen Ordensgründungen. Auch das Aufblühen der Freikirchen gehört in diesen Kontext: Kleine Gemeinschaften, die enthusiastisch und spontan sind, zugleich aber ein ethisch strenges Leben führen. Gerade deswegen sind sie erfolgreich und werden zur Keimzelle des Christentums. Ob aus unserer heutigen Liturgie und kirchlichen Mystik noch etwas entstehen kann, ist meiner Ansicht nach offen. Ich mache aber darauf aufmerksam, dass diese Dinge auch für die Alltagsandacht nicht ohne Bedeutung sind. Der Mensch hat Sehnsucht nach dem Zusammenfall oder der gegenseitigen Zuordnung von Wirklichkeit und Wort, von Leib und Seele, von ich und du, von Innen und Außen, von traumatischen Erfahrungen und Weisen der Heilung. Deswegen wird auf einmal auch der Ritus wieder aktuell, wenn z.B. ein großes Unglück geschieht. Da werden Kerzen und Blumen aufgestellt und ein Ritual vollzogen. Ohne gottesdienstliche Fassung scheint es einfach nicht zu gehen. Und immer noch suchen Menschen nach Ritualen des Segens für ihre Kinder, im Moment der Hochzeit, der Beerdigung – unabhängig davon, ob es kirchliche oder säkulare Riten sind. Der Mensch ist ein rituelles Wesen, weil er Leib und Seele, Innen und Außen irgendwo als zusammenfallend erfahren muss, gerade unter Bedrängnis oder Glück.

Bieringer: Wer mit den Biographien moderner Mystiker wie Maurice Blondel, Dag Hammarskjöld oder Simone Weil etwas vertraut ist, weiß um die Wahrhaftigkeit dieser Lebenswege. Aber ist ihre «mystische Aufgeklärtheit» nicht ein Ideal, dem man als gewöhnlicher «Alltagschrist» kaum gerecht werden kann?

Salmann: Solche Figuren sind kein Ideal. Sie sind Gesprächs- und Sparringspartner, Inbilder einer bestandenen Geschichte – wie überhaupt Mystik kein Ideal ist. Ich habe sie zuvor Ferment genannt, Rahmung, Korrektiv und Eintiefung. Mystik kann man nicht wollen, man kann sie auch nicht anstreben und schon gar nicht als Über-Ich verwirklichen müssen. Es ist eine Dimension, die es zu entdecken gilt. Auch mir sind viele Figuren, mit denen ich mich näher beschäftigt habe, wie z.B. Simone Weil, Dag Hammarskjöld oder Dietrich Bonhoeffer, völlig fern. Wie ich überhaupt rate, diese Autoren nur in kleinen Dosen, homöopathisch zu lesen, weil die Gefahr besteht, dass man sich überhebt und unter Umständen sich etwas einhandelt, was dem Leben nicht zuträglich ist. Mystik ist anonyme Gegenwart des Geheimnisses im Alltag, weitet ihn aus, reichert ihn an, unterfängt und belebt ihn. Und deswegen sind mir Mystiker im Allgemeinen auch nicht sympathisch. Ich selbst bin kein Mystiker – aber es zieht mich etwas daran an, da die Mystiker über ein ganz bestimmtes Salz verfügen, ein Gewürz, einen Horizont, auf den ich nicht verzichten möchte. Aber als Ganzes ist mir diese Welt fern.

Bieringer: Gibt es trotzdem Mystiker, die ihnen nahestehen?

Salmann: Wenn sie mich fragen, welche Mystiker mir nahe stehen, muss ich ehrlich sagen: keiner. Da ist mir etwas zu Entschiedenes und ein Leidensweg, der mir unerschwinglich scheint. Und dennoch finde ich da eine Spur, etwas Symbolisches, Metaphorisches, ohne das ich nicht auskommen möchte. Bei mir geht es also nicht ohne die Mystik; ich möchte fromm sein, ohne Mystiker zu werden. An dieser Stelle möchte ich noch auf zwei Dinge aufmerksam machen: Mystiker erscheinen oft als Paare: Franz von Sales und Johanna Franziska von Chantal, Fénelon und Madame de Guyon, Franziskus und Clara, Heinrich Seuse und Elsbeth Stagel, Teresa von Avila und Johannes vom Kreuz usw. Mystik hat demnach viel mit Eros, Liebe und Aufgeschlossenheit für das Entgegengesetzte zu tun. Die Präsenz des Anderen gewinnt eine alltägliche Gestalt, sie wird zu einer Geschichte der gegenseitigen Bereicherung. Und dann möchte ich einige Gestalten erinnern, die mir zu denken geben: um 1906 sind geboren: Dietrich Bonhoeffer, Hannah Arendt, Simone Weil, Mascha Kaléko. Vier Gestalten, davon drei Frauen und zugleich drei Jüdinnen, die den Holocaust aus einer Innenkraft oder wie Hopkins sagt mit «instress» und «inscape» bestanden haben. Bei Bonhoeffer, in «Widerstand und Ergebung», geht es um die Neuentdeckung des «weltlichen Glaubens», aber auch eines Urvertrauens – trotz allem. Simone Weil entdeckt auf widerständige Weise die Christusmystik, ohne dass sie kirchlich würde. Sie ist eine Utopistin, die das an ihrem Leib erfahren und einlösen muss. Mascha Kaléko erscheint als Großstadtspatz und populäre Dichterin, eine polnische Jüdin, die mit einem Synagogenmusiker verheiratet ist. Es ist beeindruckend, wie sie das Exil, das Leben und das Sterben ihres Sohnes heiter und doch mit einer anonymen Frömmigkeit unterlegt und in das Intarsienwerk ihres Lebens einarbeitet. Und schließlich noch Hannah Arendt, die zwar nicht fromm ist, aber deren Gedanken der Geburtlichkeit und des Handelns religiöse Schichten berühren. Bedeutend scheint mir der Gedanke der Geburtlichkeit, des Immer-Neu-Anfangen-Könnens. Was wäre das für eine Freiheit, wenn man immer neu mit sich, der Welt und dem Anderen etwas anfangen könnte? Für Hanna Arendt bündelt sich das im Gestus der Vergebung und der Verheißung, wie sie es selbst in ihrem Werk «Vita activa» (1960) an der Gestalt Jesu deutlich macht. Arendt ist nicht religiös, aber doch eine tapfere aus jüdischen und christlichen Quellen schöpfende Frau.

Am Anfang und am Ende wird man fragen müssen, ob Jesus selbst Mystiker war. Seine Gebärden und Gleichnisse, seine Souveränität wie seine Passion sind offenbar von einem Müssen und einer Gnade durchpulst, die ihm von seinem Gott her zukommen und im Geist zugespielt werden. Er selbst ist ein Geisterfüllter im Handeln, Beten und Leiden. Er kann sich nicht einen Augenblick ohne seine Gott- und Menschenverbundenheit verstehen. Das zeigt sich an den vier aramäischen Worten, die von ihm überliefert sind: In den Urworten «Abba» und «Eli, Eli, lama sabachthani» misst er die unverbrüchliche Nähe wie die unerbittliche Ferne zum Geheimnis Gottes aus, in «Effata» und «Talitha kumi» die zugewandte Nähe zu den Menschen. Endlich drücken die Sieben letzten Worte am Kreuz dieses Doppelgeheimnis als sein Testament aus und entfalten es. Die erlittene Distanz wie die Anheimgabe Gott gegenüber, seine Bitte um Vergebung wie die Verheißungsmächtigkeit auf Zukunft hin, seine Freigabe der Kirche wie das Es-ist-Vollbracht sind letzte Worte der Freiheit angesichts des Todes und der scheinbaren Aussichtslosigkeit. Es ist Mystik mitten im Leben und im Sterben.

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