Beim Weihnachtsfest handelt es sich wohl um den «Exportmeister» christlicher Motive in die Gesellschaft. Längst haben pappschneebedeckte Weihnachtsbäume die Einkaufsmalls von Rio de Janeiro erobert, kaum ein deutsches Lied dürfte einen derartigen Bekanntheitsgrad weltweit aufweisen wie das Weihnachtslied «Stille Nacht». Dass das Weihnachtsfest außerhalb des Kirchenraumes zu einem kulturellen Großereignis, einem vielschichtig aufgeladenen Fest der Familie, des Friedens, des Schenkens geworden ist und Festbeleuchtung, Weihnachtsmänner und eine Dauerbeschallung mit Weihnachtsliedern das Kind in der Krippe in den Hintergrund treten lassen, nimmt Stephan Wahle nicht zum Anlass einer Lamentatio über die Verflachung eines christlichen Festes im «Weihnachtschristentum» (Matthias Morgenroth). Vielmehr nimmt er aus liturgiewissenschaftlicher Perspektive umfassend das «Phänomen» Weihnachten in den Blick. Denn, um Weihnachten und seiner Bedeutung für den heutigen Menschen gerecht zu werden, bedarf es einer vorurteilsfreien Erschließung sämtlicher Ausdrucksformen weihnachtlicher Festkultur, von der Liturgie am Heiligen Abend über Rituale wie Geschenkkultur und Familienfeier hin zu Requisiten wie dem Tannenbaum oder der Weihnachtskrippe. So verfolgt Wahle in seiner Studie drei Anliegen, die sich in drei Gliederungsteilen wiederspiegeln: «erstens einen soliden Überblick über die biblischen und historischen Grundlagen des Weihnachtsfestes geben, zweitens die Liturgie von Weihnachten in die christliche Theologie (speziell in die Theologie vom Pascha-Mysterium Jesu Christi) einordnen und drittens die Transformationsprozesse des Festes in Kultur und Gesellschaft wie auch in Kirche und Theologie befragen» (13).
Ein theologischer Leitgedanke der Studie ist die enge Bezogenheit des Weihnachtsgeschehens auf das Paschamysterium: Krippe und Kreuz bilden zwei Pole des einen Erlösungsgeschehens. Bereits die biblischen Geburtsgeschichten setzen, wie Wahle im ersten Teil der Arbeit beleuchtet, das Bekenntnis zum auferstandenen Gekreuzigten voraus. Auch die zentralen theologischen Motive der Weihnachtsliturgien, die im zweiten Teil anschaulich herausgearbeitet werden, zielen auf die Erlösung des Menschen im Licht des Ostergeschehens: Deutlich wird dies beispielsweise im Motiv des «wunderbaren Tauschs», das auf die Heiligung der Menschennatur abhebt, oder der Deutung der Menschwerdung als «principium» der Erlösung. Ferner rekonstruiert Wahle übersichtlich die komplexe Entstehungsgeschichte der Weihnachtsmessen des römischen Ritus im 4. Jahrhundert und zeigt Einflüsse durch die Jerusalemer Stationsliturgie auf.
Der dritte Teil, in dem sich theologische und kulturwissenschaftliche Perspektive durchdringen, geht den einschlägigen Bräuchen und Ritualen von Weihnachten nach und gibt dem Leser aufschlussreiche Informationen an die Hand: über die Genese der Krippenfeier, den Siegeszug des Weihnachtsbaums oder die Dimension des Schenkens, repräsentiert durch Weihnachtsmann, Christkind und andere Gabenbringer. Besonders hervorzuheben ist ein Kommentar zu den Weihnachtsliedern im Gotteslob mit Fokus auf dem legendären Lied «Stille Nacht», der auf die existentielle Aussagekraft der Lieder abhebt. Neben pastoralliturgischen Gedanken zur Gestaltung der Weihnachtsgottesdienste kommen nicht zuletzt ethisch-handlungsorientierte Überlegungen zu Wort: Aus der Menschwerdung des Gottessohnes erwächst die Befreiung zur Menschwerdung des Menschen, der Einsatz für ein menschenwürdigeres Leben im Vertrauen auf das Erlösungshandeln Gottes.