Wie im Himmel, so auf Erden

In vielen Vaterunser-Auslegungen und -katechesen liest man, das Gebet Jesu bestehe aus zwei Teilen, von denen der erste, die «Du-Bitten», analog zu den beiden mosaischen Gesetzestafeln Gott, der zweite mit seinen «Wir-Bitten» dagegen die Beterinnen und Beter in den Blick nehme. Diese Gliederung in zwei Abschnitte drängt sich in der Tat auf. Ob es allerdings den Kern der Sache trifft, dass sich die Bitten um die Heiligung des göttlichen Namens, um das Kommen des Gottesreiches und das Geschehen des göttlichen Willens anders als die folgenden vier Bitten auf Gott beziehen und nicht ebenso sehr auf die Menschen, die sie formulieren, wäre erst noch zu überlegen. Denn die Klammer um den ersten Abschnitt des Vaterunser – wie im Himmel, so auf Erden – führt den Impetus dieser Bitten wieder in die Sphäre des Menschen zurück und benennt sein irdisches Dasein, seine Gottbedürftigkeit, als Sinnspitze. Im Himmel – dann, wenn Gott alles in allem und in allen ist, wenn Sein Geist alles durchwirkt und prägt – wird Sein Name gepriesen, regiert Seine Herrschaft, geschieht Sein Wille. Für den Himmel muss man all das nicht erbitten. Anders auf Erden; dort ist all das fraglich und brüchig.

Doch rechnet, wer die Worte des Vaterunsers in den Mund nimmt, ernsthaft damit, dass Gott seine Bitte erfüllt, dass Er Seinem Willen im Erdenleben des Beters Ausdruck verleiht und Seine Herrschaft aufrichtet? Stellen Christen, wenn sie so beten, ihr Tun und Lassen tatsächlich sub conditione Jakobaea ( Jak 4, 15) – unter den Vorbehalt des göttlichen Willens –, wie es das unter Muslimen geflügelte Wort insha‘allāh ausdrückt? Das kennzeichnet doch die Ambivalenz auch des gläubigen Daseins, dass der homo viator nicht nur, nicht immer, ja, oft genug gar nicht tut und glaubt, wozu er sich von Gott her ermächtigt wissen könnte: aus ganzem Herzen darauf zu setzen, dass Gott Seine Verheißungen wahr machen wird. Besonders patristische Homilien zum Vaterunser legen vor diesem Hintergrund Wert auf eine anthropologische Linienführung und erläutern auch die ersten drei Bitten so, dass sie sich weniger auf Gott und seinen Himmel als vielmehr auf die Menschen und ihr Erdendasein beziehen: dass sie gern einstimmen mögen in die Heiligung Seines Namens, auf dass sie das Kommen Seines Reiches wahrnehmen und nichts weiter wünschen als dass Sein Wille den ihren bestimme. So wird das Gebet Jesu als Grundvollzug christlicher Existenz, als lebendige Antwort auf Gottes Verheißungen, verständlich.

Anders als die großen, nach römischem Vorbild aufgebauten liturgischen Orationen, die jeder Bitte Gedächtnis und Dank voranstellen, besteht das Vaterunser nach der Anrufung des himmlischen Vaters ausschließlich aus Bitten. Gegenwärtige gnaden- und freiheitstheologische Debatten darum, ob man angesichts der Krise des Bittgebets und der Dominanz der Theodizeefrage überhaupt noch mit Sinn und Verstand beten könne und ob man das Vaterunser weiterhin als Bittgebet verstehen müsse, verweisen auf aktuelle Themen der systematischen Theologie. Ihrem Interpretationsgegenstand werden solche Debatten aber schwerlich gerecht. Denn so sehr sich die Assoziationen, die sich um die einzelnen Abschnitte des Vaterunser ranken, im Laufe der Zeit verändert haben, so wenig wurden sie je breitenwirksam umformuliert oder ihrer Sprachform als Bitte entkleidet. Sie beziehen ihre Legitimation aus dem Gebot Jesu, der sie den Seinen nicht als Feststellungen oder moralische Appelle, sondern als Bitten an Gott, den Vater, auf die Lippen gelegt und ins Herz geschrieben hat (Mt 6, 9; Lk 11, 2). Er ist Mitte ihres Gedächtnisses und Grund ihres Dankes. In Ihn mündeten nach christlicher Überzeugung die Verheißungen Gottes. In Ihm ist Gottes Ja verwirklicht (2 Kor 1, 19).

Das Heftthema ist Teil einer Communio-Reihe zum Vaterunser. Nach der Vater-Anrede im vergangenen Jahr ist nun der nächste Abschnitt im Blick: die ersten drei Vaterunser-Bitten, welche durch die Wendung «wie im Himmel, so auf Erden» zu einer Einheit zusammengeführt werden. Ihren biblischen Kontext lotet Wilfried Eisele aus, dessen Augenmerk besonders auf dem Bittcharakter des Vaterunser liegt. Der Schwerpunkt liegt sodann auf der Bitte um die Heiligung des göttlichen Namens. Verena Lenzen erläutert die Wurzeln dieser Kategorie zunächst jüdischer Ethik und Religion, die bis zum Martyrium reicht und vielfach sogar zur Interpretation der jüdischen Opfer der Shoah herangezogen wird. Holger Zaborowski erkundet die Dimensionen und Tiefenschichten des Namens, der Benennung und der namentlichen Selbstkundgabe Gottes und des Menschen. Alexander Zerfaß ruft die Verehrung des göttlichen Namens anhand eines sprechenden Beispiels der Namen-Jesu-Frömmigkeit in Erinnerung. Jürgen Werbick expliziert ausgehend von der Bitte um das Kommen des Gottesreiches die Medialität der Bitte, die selbst als das Ereignis verständlich werden kann, in dem geschieht, worum man bittet. Julia Knop sondiert Entwicklungen in der Interpretation des Gotteswillens, der theologisch im Rahmen der sogenannten Vorsehungslehre reflektiert wurde. Nicht nur in der entsprechenden Theoriebildung, auch in der Praxis dürfte allzu oft vergessen worden sein, was der Jesuit Alfred Delp kurz vor Vollstreckung seines Todesurteils durch das nationalsozialistische Terrorregime im Winter 1944–45 so treffend formuliert hat: «Das Reich Gottes ist Gnade, deswegen beten wir darum.» Dass es auch in unseren Tagen anbreche, kann nur Gegenstand einer Bitte sein: der vertrauensvollen Hinwendung des Menschen zu dem, der seinem Bitten noch zuvor kommt und dessen Gegenwart Erfüllung aller Bitten ist.

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