Kenose und Trinität

Wir sprechen allzu leicht von «Kenose», als wüssten wir, was mit diesem seltenen griechischen Wort gemeint ist. Doch das ist nicht der Fall.

I

Es kommt in der Bibel nur selten vor und hat nicht immer die gleiche Bedeutung. Der Wortstamm bezeichnet zumeist eine Leere, etwas Vergebliches, das Fehlen von etwas Erwartetem oder gar Geschuldetem. So ­schicken die ungetreuen Weinbergspächter die Knechte ihres Herrn «mit leeren Händen» zurück (Mk 12, 5) und Gott lässt im Magnifikat «die Reichen leer ausgehen» (Lk 1, 53). Die gleiche Leere kennzeichnet auch alles, was «ohne Grund, leer, κενῶς » gesagt wird ( Jak 4, 5). So die «Prahlerei» (Gal 5, 26; Phil 2, 3) und das «gottlose Geschwätz» (1 Tim 6, 20; 2 Tim 2, 16), mit denen der «eitle (leere) Mensch» ( Jak 2, 20) sich selbst täuscht, indem er sich von «leeren Worten» (Eph 5, 6) und «eitler Lehre» (Kol 2, 8) täuschen lässt. Folglich gilt es, die Leere und das leere Geschwätz zu meiden.1 Paulus unterstreicht, «dass wir nicht vergebens (leer) zu euch gekommen sind», ohne etwas zu bewirken (1 Thess 2, 1); und dass er «nicht ins Leere gelaufen ist» (Gal 2, 2; Phil 2, 16), seine «Mühe ist nicht vergeblich, leer im Herrn» (1 Kor 15, 58; vgl. 1 Thess 3, 5). Es gilt vor allem, «die Gnade Gottes nicht vergeblich (leer) zu empfangen» (2 Kor 6, 1), sondern alles zu tun, «dass das Kreuz Christi nicht ausgeleert wird (µὴ κενωθῇ)» (1 Kor 1, 17), indem man meint, das Gesetz könne rechtfertigen; denn dann «wäre euer Glaube leer» (Röm 4, 14). Paulus ist überzeugt, «wenn Christus nicht auferstanden ist, dann ist unsere Verkündigung leer und ebenso leer ist euer Glaube» (1 Kor 15, 14). Er aber glaubt, dass «die Gnade in mir nicht wirkungslos (leer) gewesen ist» (1 Kor 15, 10). Hier ist immer von einem Mangel, einem Versagen, einem gründlichen Misserfolg die Rede. Das entspricht dem Sprachgebrauch im klassischen Griechisch, wo der Wortstamm auf ein Leersein hinweist und in der medizinischen Sprache auf eine Entleerung, auf das Ausstoßen von etwas «Verderblichem».2

So gesehen entspricht die Aussage des Philipperbriefs 2, 7: «Er hat sich seiner selbst entleert (ἐκένωσεν)», die ein ungewöhnliches, heilsames, nachahmenswertes Geschehen beschreibt, nicht dem bei Paulus, in den apostolischen Briefen und bei den Synoptikern üblichen Wortgebrauch. Dort wird stets etwas Negatives ausgesagt, und daraus ergibt sich ein hermeneutisches Problem. Das im Philipperbrief reflexiv und in positivem Sinn gebrauchte Verb kenoûn lässt sich nicht durch andere, negativ gemeinte Stellen erklären. Es ist vielmehr eine Art hapax legomenon, ein nur einmal vorkommender Ausdruck.3

Folglich können wir uns nur von der Sache selbst leiten lassen, wenn wir diese «Ausleerung» Christi verstehen wollen, das heißt von der Betrachtung des Mysteriums des Kreuzes, des Todes und der Auferstehung Jesu Christi, der der ewige Sohn des Vaters und zugleich wahrer Mensch ist. Wie aber können wir das weiter verfolgen, ohne uns in den Irrwegen «leeren und eitlen» Begreifens zu verlieren? Hier noch mehr als sonst ist große Vorsicht, große Zurückhaltung gefordert; wir stehen vor einem heiligen Boden, den, streng genommen, weder unsere Gedanken noch unsere Füße betreten dürften, und den nicht erst unsere Antworten, sondern schon die Art unseres Fragens zu entweihen drohen. Es handelt sich um das unergründlichste, das unnahbarste, das geheimnisvollste aller Mysterien – mehr noch als das Mysterium der Bosheit (mysterium iniquitatis, 2 Thess 2, 7). Es geht um «das große Mysterium unseres Glaubens» (1 Tim 3, 16): Wie konnte die Heiligkeit eines Einzigen zum Heil für alle werden? Wie konnte das Leiden und Sterben eines Einzigen das Leben für alle hervorbringen? Wie und warum hat Gott Den, den «niemand einer Sünde zeihen konnte» ( Joh 8, 46), den Einzigen, «der ohne Sünde geblieben ist» (Hebr 4, 5), «für uns zur Sünde gemacht» (2 Kor 5, 21)? Hier sind nur leise Töne angebracht, nur sie sind geziemend; Zurückhaltung drängt sich jedem Theologen und jedem Gläubigen auf, ja selbst einem Ungläubigen, wenn ihm bewusst wird, wovon er redet.

Das muss umso nachdrücklicher gesagt werden angesichts der Diskus­sion über das richtige Verständnis der Kenose und angesichts der «Kenotiker», die beide neuzeitlichen Ursprungs sind. Luthers Verständnis der hypostatischen Union im Sinne einer communicatio idiomatum hat einige Theologen zu fragen veranlasst, wie sich in der Passion Christi seine göttlichen und menschlichen Eigenschaften zueinander verhielten. Müsste man nicht sagen, dass die ersteren zurücktreten, wenn die letzteren in eine Krise kommen? Soll man das als eine Selbstbegrenzung des Logos verstehen (der im Sinne Calvins außerhalb des Fleisches bleibt und wirkt) und als einen Verzicht auf den Gebrauch seiner göttlichen Eigenschaften bis zur Auferstehung (Martin Chemnitz und die Gießener Schule), oder nur als eine Zurückhaltung und ein Verborgenhalten ( Johannes Brenz und die Tübinger Schule)? Diese Diskussion brachte tatsächlich ein viel umfassenderes Problem ans Licht. In der Passion ging es um ein so zutiefst menschliches Leiden und Sterben, dass wir kaum verstehen können, wo da die Gottheit Christi blieb. Wer das Menschsein Jesu nicht (doketisch) einschränken wollte, musste fast zwingend die Ausübung seines Gottseins beschränken. Die Diskussion der Lutheraner wäre ein Nebenschauplatz geblieben, hätte sie nicht einen scheinbar unauflöslichen Widerstreit ans Licht gebracht. Die menschliche und die göttliche Natur scheinen in der Person Jesu in jeweils umgekehrtem Verhältnis hervorzutreten, und wenn das Menschsein in der Passion an die äußersten Grenzen der Erniedrigung gelangt, scheint sich folglich sein Gottsein im gleichen Maß zu verdunkeln.4 Doch weshalb soll man einen solchen Widerstreit der zwei Naturen Christi in seiner Passion annehmen? Weil seine Erniedrigung durch Folter, Leiden und Hinrichtung zumindest für eine Weile seiner Herrlichkeit, Macht und dem Wissen um sein Gottsein zu widersprechen scheint. So oberflächlich diese Entgegensetzung zu sein scheint, sie zieht die letzte Konsequenz aus einer Schlussfolgerung Hegels, die alles andere als oberflächlich ist (und in dieser Frage sind wir oft Hegelianer ohne es zu wissen).

Ein naiv-frommes Gemüt sieht nur deshalb einen Widerspruch zwischen den beiden Naturen Christi, weil die Erniedrigung eines menschlichen Sterbens der Herrlichkeit Gottes ganz offensichtlich zu widersprechen scheint. Genauer gesagt, weil die Erniedrigung (das Leiden und Sterben) für die Herrlichkeit unerträglich sein muss, etwas, mit dem sie sich weder abfinden kann, noch das sie zu erdulden vermag. In der Tat erträgt die Liebe Gottes ( Jene Liebe, die Gott dem Menschen zeigt und schenkt, vor allem aber die innertrinitarische Liebe) das Leiden Christi nicht und schreckt vor ihm zurück. Weniger aus Angst, vielmehr weil es, um dem Leiden ­Christi gerecht zu werden, um den Widerstreit zwischen den zwei Naturen in der einen Person Jesu Christi zu überwinden, mehr und Besseres brauchen würde als Liebe (nämlich die selbstlose Liebe Gottes, die agapé); denn der menschlich verstandenen Liebe geht die nötige spekulative Tiefe ab: «Das Leben Gottes und das göttliche Erkennen mag also wohl als ein Spielen der Liebe mit sich selbst ausgesprochen werden; die Idee sinkt zur Erbaulichkeit und selbst zur Fadheit herab, wenn der Ernst, der Schmerz, die Geduld und Arbeit des Negativen darin fehlt.»5 Hier soll das «Negative», das heißt das verneinende Moment, welches das (Selbst-)Bewusstsein in jeden Satz einführt, um dessen spekulative Dynamik auszulösen und die theoretische Aussage zur Wirklichkeit des objektiv Vernunfthaften emporzuführen, die subjektive, gemüthafte Ohnmacht der Liebe ablösen. Darin zeigt sich, wie gotteslästerlich diese Lehre ist. Zunächst, weil sie die agapé entwertet, die doch «die höchste» aller Tugenden ist (1 Kor 13, 13), die «bis zum Letzten» geht ( Joh 13, 1), bis zu dem Punkt, wo man sie «vor den Menschen verleugnet»(Mt 19, 17 par.). Diese Lehre verfehlt alles, weil sie «den einzig Guten» (Mt 19, 17 par.) missachtet, den uns die Offenbarung nahebringen will. Sie wurde nicht nur durch ihre theoretischen Auswirkungen widerlegt, ganz zu schweigen von den historischen, auf die wir hier nicht eingehen. Schon Paulus hat sie im Voraus als falsch erwiesen, als er die agapé durch die vier Eigenschaften definierte, die Hegel dem «Negativen» zuschreiben wollte: «Die agapé erträgt alles, glaubt alles, hofft alles, hält allem stand (πάντα ὑποµένει)» (1 Kor 13, 7). Anders gesagt: Mehr als alles andere in der Welt und außer der Welt erfährt und verwirklicht die agapé den Ernst, den Schmerz, die Arbeit und die Geduld. Da geht es wirklich um etwas «Erbauliches», um den «Aufbau des Leibes Christi in agapé» (Eph 4, 16), und dies ohne Gefahr, in Fadheit abzugleiten; denn nichts erweist sich als kraftvoller als die agapé, vor allem da, wo Christus sie in seinem Leiden zeigt. Gewiss, man braucht das nicht zu glauben, wenn man es nicht sehen will.6 Das gilt von manchen Philosophen, vor allem von ihren Nachbetern. Die Schwierigkeit liegt darin, dass für uns, nach unserer Erfahrung und so wie wir die agapé verstehen, das menschliche Leiden und Sterben, folglich das negative Moment, mit mehr «Ernst» verbunden ist und mehr «Geduld» erfordert als das, was wir mit dem vieldeutigen und abgeschliffenen Wort «Liebe» benennen. Es fragt sich jedoch, ob wir mit dem, was wir unter «Liebe» verstehen, das richtig erfassen, was Gott mit agapé meint. Anders gewendet: Muss man, um den spekulativen «Ernst» Gottes zu erfassen, das Negative in die Dreifaltigkeit einführen, oder nicht gerade umgekehrt das, was die Philosophie als «Ernst» betrachtet, von der agapé her zu verstehen suchen, so wie sie der dreifaltige Gott im Leiden Christi offenbart?

Das ebenso wichtige wie umstrittene, aber jedenfalls maßgebliche Rahnersche Prinzip: «Die ‹ökonomische› Trinität ist die immanente Trinität und umgekehrt»7, ist gerade hier anzuwenden. Wenn sich die agapé im Leiden Christi in einer Weise zeigt, die all das übersteigt, was wir als Liebe kennen und erfahren, und die folglich im Licht der Gepflogenheiten Gottes zu sehen ist, dann muss man sie vom dreifaltigen Leben Gottes aus zu verstehen suchen. Doch dürfen wir uns eines Zugangs zum Innenleben der Dreifaltigkeit erkühnen? Von uns aus nie. Es gibt nur einen Zugang, den Christus uns offenbart, als Sohn des ewigen Vaters. Doch wo und wie offenbart er uns etwas von diesem dreifaltigen Leben außer im Heilsgeschehen, im äußersten Darleben der agapé – dem Äußersten, weil es bis in den Abgrund ihres Gegenteils, das Leiden und den Tod führt?

II

Nachdem wir so aufgezeigt haben, dass wir unsere Sichtweise umkehren müssen, gilt es jetzt, den Philipperhymnus (Phil 2, 6-11) in dieser neuen Sicht zu lesen.

Im ersten Vers (2, 6): «Er, der in der Gestalt Gottes war, hat es nicht als einen festzuhaltenden und zu verteidigenden Besitz (ἁρπαγµὸν, harpagmon) erachtet, Gott gleich zu sein (τὸεἶναιἴσαθεῷ)» finden sich einige im weitesten Sinne philosophische Ausdrücke (hyparkein, morphè, einai) und ebenso im zweiten Vers (morphè, homoiôma, schêma). Angesichts der Diskussion über ihre richtige Übersetzung ist zu sagen, dass sie jedenfalls nicht im Sinne metaphysischer Aussagen zu verstehen sind; das wäre ein typisch neuzeitlicher Irrtum. Bemerkenswert ist höchstens der im Neuen Testament äußerst seltene Infinitiv einai. So bleibt nur ein bedeutungsträchtiges Wort rätselhaft, harpagmos, das in der Heiligen Schrift nur hier vorkommt und auch im Profangriechischen äußerst selten ist. Im Vergleich mit zwei Substantiven (harpax, der Räuber, und harpagé, das Raubgut, die Beute) und einem Verb (harpazein, sich einer Sache bemächtigen, rauben) lässt sich eine angemessene Übersetzung erschließen.8 Der Harpagmos bezeichnet etwas, das man sich mit Gewalt angeeignet hat, um es in seiner Macht zu haben und um den Besitz zu wahren, solange man es vermag. Es handelt sich weder um eine «Anmaßung» (denn diese könnte auch ohne Gewalt geschehen) noch um einen «Erwerb», weil es schon ein Besitz ist, und auch nicht um ein «eifersüchtiges Festhalten» ohne gewaltsame Aneignung.9

Das aber macht die Schwierigkeit nur größer. Warf man Jesus nicht gerade vor, er habe sich den Rang Gottes angeeignet? Man wollte ihn töten «wegen Gotteslästerung; denn du bist nur ein Mensch und machst dich selbst zu Gott» ( Joh 10, 33). Noch genauer wegen eines Verbrechens, das mit fast den gleichen (seltenen) Worten bezeichnet wird wie im Philipperhymnus: «Darum waren die Juden noch mehr darauf aus, ihn zu töten, weil er nicht nur den Sabbat brach, sondern auch Gott seinen Vater nannte und sich damit gottgleich machte (ἴσον ἑαυτὸν ποιῶν τῷ θεῷ, Joh 5, 18)». Erstaun­licherweise verschweigt die Exegese diesen offensichtlichen Gleichklang fast immer. Trotz angeblicher chronologischer Unmöglichkeit scheint der Philipperhymnus die Anklage gegen Jesus aufnehmen zu wollen, um sie zu widerlegen. Jesus hat tatsächlich diesen Anspruch immer wieder erhoben: Seinem Vater gleichgestellt zu sein, Gott zu sein: «Wir haben ein Gesetz, und nach diesem Gesetz muss er sterben, weil er sich zum Sohn Gottes gemacht hat (ὅτι υἱὸν θεοῦἑαυτὸν ἐποίησεν, Joh 19, 7)». Immer geht es um diesen seinen Anspruch: «Denn er hat gesagt: Ich bin der Sohn Gottes» (Mt 27, 43). Oder im Munde Jesu: «Alles ist mir von meinem Vater übergeben worden» (Mt 11, 27; Lk 10, 22). «Jesus sagte ihr: Ich bin es, der mit dir spricht» ( Joh 4, 26,vgl. 42). Und nochmals: «Ich und der Vater sind eins» ( Joh 10, 30); denn «Ich bin im Vater und der Vater ist in mir» ( Joh 14, 10). Die Anklage besteht somit zu Recht, das Verbrechen scheint erwiesen. Und doch ist die Verurteilung ungerecht.

Denn es geht nicht darum, ob Christus der Sohn Gottes und «eins» mit dem Vater ist; entscheidend ist vielmehr, wie er es ist. Er ist zweifellos gottgleich; doch alles hängt davon ab, wie er diese Gottgleichheit besitzt. Diese Weise des Besitzes können die Ankläger im Tempel, die Schriftgelehrten und Pharisäer nur nach ihrem eigenen Verständnis eines Besitzens verstehen – als ein in Besitz nehmen, ein allenfalls gewalttätiges sich Aneignen, jedenfalls ein Beanspruchen. Kurz: als einen eifersüchtigen Anspruch Gott gegenüber – was seinerseits voraussetzt, dass Gott eifersüchtig ist, so wie ihn auch der Versucher verstanden hat: «Gott weiß: Sobald ihr davon [von der Frucht des Baumes] esst, gehen euch die Augen auf; ihr werdet wie Gott sein und erkennt Gut und Böse» (Gen 3, 4). Deshalb wirft Christus denen, die laut und nachdrücklich auf ihre «Abkunft von Abraham» pochen, nicht nur vor, «auf Ehre bedacht» zu sein, sondern auch, etwas Teuflisches an sich zu haben: «Ihr habt den Teufel zu eurem Vater, und ihr wollt das Begehren eures Vaters erfüllen» ( Joh 8, 33.50.44). Die Gegner Jesu verstehen seinen Anspruch auf Gottessohnschaft genau gleich, wie sie ihre eigene Abkunft von Abraham verstehen: als einen festzuhaltenden Besitz. Sie sehen es nie als etwas, das ihm geschenkt ist. Das würde dann deutlich, wenn er bereit wäre, es wieder hinzugeben.

Das gleiche Missverständnis findet sich fast noch ausgeprägter bei den Jüngern. Sie denken wie die Juden, wie alle Menschen: Wenn Jesus der Christus ist, der Heilige Gottes, und wenn sie seine Jünger und Apostel sind, dann ist zu fragen, was ihnen deshalb zusteht, worauf sie einen Anspruch erheben können, ein ihnen ihrer Meinung nach zustehendes Vorrecht. So brennt ihnen die Frage auf der Zunge, die eine voreilige Mutter, die sich Sorge um das Fortkommen ihrer Söhne macht, vielleicht als erste ausgesprochen hat (Mt 20, 20-21). Die Frage taucht immer wieder auf in einer «Auseinandersetzung», ja in einem «Streit» unter den Beteiligten (Lk 9, 46; 22, 24): «In jener Stunde kamen die Jünger zu Jesus und fragten: Wer ist im Himmelreich der Größte?» (Mt 18, 1-5). Oder: «Als sie dann zuhause waren, fragte er sie: Worüber habt ihr unterwegs gesprochen? Sie schwiegen; denn sie hatten unterwegs miteinander darüber gestritten, wer der Größte sei» (Mk 9, 33-34). Die Jünger betrachteten sich in der Tat als «Könige über die Völker», die sie «beherrschen» und «die Macht haben (ἐξουσιάζοντες), sich Wohltäter nennen zu lassen» (Lk 22, 25). Auch sie streben nach Macht, nach sicherem Machtbesitz.

Hier zeigt sich das Missverständnis. Den Gegnern Jesu geht es darum, an dem ihnen zukommenden Rang als Nachkommen Abrahams festzuhalten, mit allen damit verbundenen Vorrechten. Für die Jünger geht es um den Erwerb von Machtposten im kommenden Reich, samt den entsprechenden Vorrechten. Die einen wie die andern können sich nicht vorstellen, dass es für Christus anders sein könnte; sie stellen ihn sich als Besitzer einer Sohnschaft vor, die ihn dem Vater gleichstellt, samt all den dazugehörigen Vorrechten. Diese Sohnschaft, dachten sie, betrachte er als einen Besitz, den er zwar nicht an sich reißen, aber doch bewahren und verteidigen müsse – so wie sie das zweifellos täten, wenn sie es könnten. Um dieses Missverständnis, das im Rangstreit der Jünger seinen Höhepunkt erreicht hat, zu klären, legt Christus ihnen den gerade umgekehrten Grundsatz vor: «Wer sich so erniedrigen kann wie dieses Kind, der ist im Himmelreich der Größte» (Mt 18, 4). Dabei gebraucht er das Wort «erniedrigen», das der Philipperhymnus auf ihn selbst anwendet: «Er erniedrigte sich» (ἐταπείνωσεν ἑαυτὸν, Phil 2, 8). Folglich gilt nicht nur: «Wer der Erste sein will, soll der Letzte von allen sein» (Mk 9, 36); diese Umkehr der Wertordnung verlangt auch eine grundstürzende Erniedrigung, die in der Fußwaschung ihren Anfang nahm: «Begreift ihr, was ich an euch getan habe? Ihr nennt mich Herr und Meister, und das zu Recht; denn ich bin es. Wenn nun ich, der Herr und Meister, euch die Füße gewaschen habe, dann müsst auch ihr einander die Füße waschen» ( Joh 13, 12-14). Der Vorrang im Reich Gottes ist nicht im Sinne eines Besitzes zu verstehen; er beruht auf einer Entäußerung, nicht auf Festhalten, sondern auf Aufgeben. So sehr, dass im Gegensatz zum (metaphysischen) Prinzip, wonach jedes Seiende an seinem Sein festhalten will (conatus in suo esse perseverandi), auf dem das Prinzip des Nicht-Widerspruchs beruht (nichts kann von sich selbst verschieden sein), hier das genau umgekehrte Prinzip aufgestellt wird, das man als Prinzip des Widerspruchs gegen sich selbst bezeichnen könnte: «Wer mir nachfolgen will, verleugne sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach. Denn wer sein Leben retten will, wird es verlieren, und wer sein Leben um meinetwillen verliert, wird es gewinnen».10 Um zu retten und um selbst gerettet zu werden, darf man sich nicht um jeden Preis selbst retten wollen, im Gegensatz zur Meinung jener, die Christus zum Herabsteigen vom Kreuz zu bewegen suchten: «Rette dich selbst» (Mt 27, 40; Mk 15, 31). Sich selbst retten ist genau das, was der gekreuzigte Christus auf keinen Fall tun durfte; er sollte ja zeigen, dass nur der Vater, der aus dem Nichts (ex nihilo) erschafft, die Auferstehung schenken kann. Jesus, der Retter, hat andere nur dadurch gerettet, dass er nicht seinen Willen getan hat, sondern den Willen des Vaters, dem er sich anheimgab. Anders gesagt, weil er bei der Rettung der andern nicht auch oder zudem noch sich selbst gerettet hat, sondern Zeugnis gab vom Kommen des Reiches und von den Zeichen, die sein Kommen begleiten. Deshalb darf und soll man so weit gehen, «seine Seele zu hassen» (Lk 14, 26, vgl. 17, 33 oder Joh 12, 25) – vorausgesetzt, dass dies kein zerstörerischer Selbsthass ist, sondern die Umkehr der «Selbstliebe bis zum Gotteshass»11: Gott lieben bis zur Selbstverachtung, indem man alle Sorge für sich Gott übergibt. Gott gegenüber bin ich für meinen Bruder mehr verantwortlich als für mich selbst. Zur Rettung meines Bruders vermag ich viel; doch nichts zu meiner eigenen Rettung – außer dass ich meine Rettung von Gott erwarte und mich nicht selbst retten will.

Der Verzicht auf Selbsterlösung wird so zur Vorbedingung und zur einzigen Vorbedingung für das Erlangen des Heils. Wer sich sein Heil selbst verschaffen will, so wie jeder, der sich um Selbstbesitz müht, verdunkelt die Wahrheit, dass es zum Wesen des Heils gehört, eine Gabe Gottes zu sein, die ich von anderswoher und nicht von mir selbst erhalte – wenn ich sie denn erhalte. Eine Gabe wird nur gegeben, wenn ihr Empfänger bereit ist, sie zu empfangen – das heißt hier: nur wenn er auf die tödliche Meinung verzichtet, er könne sich sein Heil selbst verschaffen. Das Heil kann ich nur von einem andern geschenkt bekommen; ich erhalte es nur als Gabe, was voraussetzt, dass ich die Möglichkeit und die Sorge um das Geben, um das mir etwas Geben dem Geber überlasse. Ich kann nur etwas erhalten, wenn ich es nicht schon besitze, wenn ich es mir nicht selbst verschaffe, wenn ich es nicht schon in mir selbst bewahre. Nur in dem Maße kann ich etwas in Empfang nehmen, als ich darauf verzichte, über dieses Empfangen selbst zu verfügen und es auch der Gabe überlasse, in welchem Maß sie mir zukommen soll. Eine Gabe kann nur dank einer Selbstaufgabe des Empfangenden empfangen werden – indem er sie als etwas entgegennimmt, das er nicht selbst besitzt und das er nicht selbst hervorbringt, als etwas, das nicht von ihm kommt, sondern von anderswoher auf ihn zukommt. Eine Gabe bekomme ich nur im Raum einer Möglichkeit: dass ich sie möglicherweise erhalte. Diese Möglichkeit führt zur Erwartung; sie führt möglicherweise zur Entgegennahme, aber sie kann auch zur Enttäuschung führen. Sie setzt voraus, dass ich mich auf die Möglichkeit einlasse, mich ihr aussetze, sie nicht zunichtemache durch Besitznahme oder Besitzanspruch (harpagmos). Die Gabe gibt und verlangt nicht – sie setzt nur voraus, dass ich mich ihr hingebe. Die Hingabe an die Möglichkeit der Gabe bestimmt das Maß ihres Empfangens. In dem Maße, als Christus «sich seiner entleert hat», «sich selbst erniedrigt hat» – das heißt, sich so sehr hingegeben hat, dass er es dreimal tat: zuerst in der Menschwerdung («er ging in die Gestalt eines Sklaven ein und nahm die Haltung eines Menschen an»), dann im Gehorsam («er wurde gehorsam bis zum Tod»), schließlich am Kreuz («ja bis zum Tod am Kreuz») – in dem Maße hat seine unendliche Hingabe eine unendliche Gabe möglich gemacht: «Gott hat ihn erhöht und ihm die Gnade des Namens geschenkt, der über allen Namen ist» (Phil 2, 9).

Ein Besitz geht verloren mit seinem Besitzer. So unvergänglich eine Gabe sein mag, die empfangene Gabe geht mit dem, der sie besitzt, dennoch verloren. Gerettet wird nur, was weitergegeben wurde. Gerettet durch den Geber, der es einem andern gibt, der es im Maß seiner Hingabe empfängt. Der Tod Christi zeigt im äußersten Abgrund, den das urzeitliche Gewicht der Sünde in den Boden der Welt gegraben hat, die Wahrheit des Prinzips auf, dass alles verloren geht, was nicht weggegeben wurde; dass nichts überlebt, außer dem, was zur Gabe wird; dass nur die Gabe die Hingabe zu etwas Rettendem macht, weil nur die Gabe die Hingabe zur Voraussetzung hat. Der gekreuzigte Christus beweist, endgültig, dass wer sein Leben festhält, es verliert, und wer es hingibt, das Leben gewinnt.

III

Damit wird deutlich, dass sich die Kenose nur im Horizont des dreifaltigen Gottes verstehen lässt – wenn wir sie denn verstehen sollen, weil nur sie uns «das große Geheimnis unseres Glaubens» (1 Tim 3, 16) verstehen lässt. Die Diskussion über die («moralischen» oder «metaphysischen») Eigenschaften Christi, die das Problem auf die allzu menschliche Ebene der Psychologie seines Selbstbewusstseins verlagert (die wir doch höchstens annähernd verstehen können), trägt nicht zur Klärung bei und weicht nur dem Ernst der Frage aus. Die wahre, fast unüberwindliche Schwierigkeit liegt darin, zu erahnen, wie Christus im Abgrund der denkbar größten Sünde und unter Schmerzen, von denen Thomas von Aquin sagt, sie «übertrafen alles, was Menschen in diesem Leben erleiden können» 12 (weil er einen weit empfindlicheren Leib hatte als wir, weil sein reiner Geist jede Beleidigung noch tiefer empfand, und vor allem weil sein Wollen rückhaltlos auf das Heil aller Menschen ausgerichtet war), wie er all das erdulden konnte, ohne sich gegen Gott aufzulehnen (dem Vater vielmehr seinen Geist übergab, Lk 23, 46) und ohne irgendeinen Menschen anzuklagen (ihnen vielmehr verzieh, Lk 23, 34). Was hat er so «vollbracht» ( Joh 19, 30) und «bis zum Ende» vollbracht ( Joh 13, 1)? Er vollbrachte, in der Endlichkeit, im tiefsten Abgrund der Sünde und folglich im äußersten Schmerz, den gleichen Akt der agapé, der Ganzhingabe an den Vater, um sich von ihm, im Heiligen Geist, ganz und gar als Gabe zu empfangen, wie er das von Ewigkeit her im Leben des dreifaltigen Gottes (der so genannten immanenten Trinität) tut. Was Christus von seinem heilsgeschichtlichen Auftrag sagt: Er betrachte die Herrlichkeit, die ihn dem Vater gleichstellt, nicht als ein festzuhaltendes Besitztum; er empfange sie in je neu vollzogener Hingabe: «Ich suche nicht meinen Willen, sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat» ( Joh 5, 30); «Ich bin nicht auf meine Herrlichkeit bedacht; doch es gibt einen, der darauf bedacht ist, und der richtet […] Wenn ich mich selbst verherrliche, gilt meine Herrlichkeit nichts; mein Vater ist es, der mich verherrlicht» ( Joh 8, 50.54) – das offenbart, was ohne Sünde, ohne Endlichkeit, ohne Leiden in aller Ewigkeit im dreifaltigen Gott geschieht. Die Verherrlichung, die der Hymnus Christus in der Heilsgeschichte finden lässt, wenn «jede Zunge bekennt, dass Jesus Christus der Herr ist, zur Verherrlichung des Vaters» (Phil 2, 11), ist keine andere als jene, die der dreifaltige Gott (die immanente Trinität) in sich selbst vollzieht: «Und jetzt, Vater, verherrliche mich mit der Herrlichkeit, die ich bei dir hatte, ehe die Welt ward» ( Joh 17, 5). In seiner Passion vollbringt Jesus Christus die gleiche agapé, wie er sie im dreifaltigen Gott vollbringt, weil er als Sohn, der er seit Ewigkeit ist, nie aus der Trinität «heraustritt», noch sich ihrer entledigt oder «entäußert», wie die Philosophen in sinnloser (wohin soll er gehen?) oder gar gotteslästerliche Meinung (soll der Sohn sein Sohnsein aufgeben?) vorschlagen. Das Gegenteil ist wahr: Jesus Christus zieht die Welt – trotz ihrer Endlichkeit und trotz der Sünde – in das Innenleben des dreifaltigen Gottes hinein, er «fasst in sich alles zusammen» (Eph 1, 10), damit «Gott alles in allem sei» (1 Kor 15, 28). Er verwirklicht und zeigt das trinitarische Paradox (dass der Sohn alles, was er hat, empfangen hat, und eben deshalb der «Anfang» schlechthin ist) in der Heilsgeschichte, im Abgrund der Endlichkeit und unserer Sünde auf: «Dann werdet ihr erkennen, dass ‹Ich bin (ἐγώ εἰµι)›, und dass ich nichts von mir aus tue, sondern nur das sage, was der Vater mich gelehrt hat» ( Joh 8, 28). Die «Kenose» führt nicht das Negative, die Entäußerung, ja den «Tod Gottes» in den dreifaltigen Gott ein (genauer müsste man sagen: aus Gott heraus); sie offenbart vielmehr dem in der Finsternis der Sünde befangenen Menschen, der sich im Selbsthass und im Hass aller gegen alle verzehrt, das ewige Spiel von Gabe und Hingabe, in dem die drei göttlichen Personen triumphierend jubeln. Das Meisterwerk, das Christus vollbracht hat, besteht nicht in einer heroischen Tugend und auch nicht im Übermaß seines Leidens; denn weder ein überragendes Vorbild noch die Mühsal eines Freikaufs kann irgendjemanden erlösen. Es besteht darin, dass er, gleichsam ein musikalisches Genie, die vollkommenste Melodie und Komposition auf einem Instrument vorspielt, das nur noch eine Saite hat (den freien Willen) und dessen Saite (durch die Verderbnis des Bösen) zudem noch völlig verstimmt ist. Auf diesem Instrument (unserer Menschennatur, die immer falsch spielt) spielt er seiner Natur gemäß vollkommen richtig. Dank dem, was er so geleistet hat, kann er uns versprechen, dass auch wir richtig (oder annähernd richtig) werden spielen können, wenn wir uns von dem gleichen Geist leiten lassen, der ihn in aller Ewigkeit mit seinem Vater verbindet.

Der letzte Schrei des sterbenden Christus ist zweifellos ein Ausdruck seines Todeskampfes; es ist aber auch der Siegesschrei dessen, der weiß, dass er am Ende seines Laufs durch die Wüste unserer Verderbnis angekommen ist¸ dass er bis zum Letzten gegangen ist, und damit zu seinem Vater. Es gibt eine Freude Christi, an der er uns teilhaben lässt, wenn wir lernen, uns hinzugeben: «…damit sie meine Freude in Fülle in sich haben» ( Joh 17, 13). «Dies habe ich euch gesagt, damit meine Freude in euch ist und damit eure Freude vollkommen wird» ( Joh 15, 11). Die Auferstehung Christi beginnt mit diesem Freudenschrei im Augenblick des Todes. Wir erahnen in diesem Leben etwas von der Auferstehung, wenn uns diese Freude wenigstens von ferne anrührt.

Den lebendigen Gott schauen heißt für uns: richtig sehen. Die Kenose vom dreifaltigen Gott aus sehen und nicht die Dreifaltigkeit von der Kenose aus. Die vollkommene Gabe sehen in der Hingabe des Sohnes an den Vater, ungeachtet der Verzerrungen durch das dunkle und fast undurchsichtige Prisma der Sünde, dank der unvergleichlich richtigen Logik des Geistes. Anders gewendet: Im Gekreuzigten nicht nur den Sterbenden des Isenheimer Altars sehen und dann seinen Leichnam, sondern, unlöslich damit verbunden, auch den in Herrlichkeit Auferstehenden auf der Rückseite der Tafel. Man müsste – das wäre der wahre Glaube an die Auferstehung – die drei in einem einzigen Blick übereinander gelagert sehen, das Kreuz als die einzige Darstellung des dreifaltigen Gottes, zu der wir in diesem Leben Zugang haben.

Es fehlt nicht an Texten, in denen durch alle trübenden Nebel der Heilsgeschichte hindurch blitzartig etwas vom Innenleben des dreifaltigen Gottes (der so genannten immanenten Trinität) aufleuchtet. Christus wendet sich manchmal unmittelbar an seinen Vater: «Ich danke dir Vater, Herr des Himmels und der Erde, dass du das den Weisen und Gelehrten verborgen, und es den Kindern offenbart hast» (Mt 11, 25) – wobei, wie Lukas sagt, «Jesus, voll Heiligen Geistes, jubelte» (Lk 10, 21). Immer wenn ein Sterblicher das Wunder einer Offenbarung des dreifaltigen Lebens erlebt (denn es ist das einzige endgültige Wunder, zu dem alle andern Wunder nur hinführen sollen), jubelt Christus vor Freude auf; er sieht, wie das Licht aufzuleuchten beginnt, wie sich sein Auftrag erfüllt und wie sich die Herrlichkeit Gottes mitten in der Sünde durchsetzt. Auch da, wo er sieht, die Auferweckung des Lazarus könnte für das umstehende Volk nützlich sein, und wo sie deshalb möglich wird, erbittet er sie von seinem Vater und offenbart damit etwas vom ewigen Innenleben der Dreifaltigkeit: «Jesus erhob seine Augen und sprach: Vater, ich danke dir (εὐχαριστῶ), dass du mich erhört hast. Ich wusste zwar, dass du mich immer erhörst, aber wegen der Menge, die um mich herumsteht, habe ich es gesagt; denn sie sollen glauben, dass du mich gesandt hast» ( Joh 11, 41-42). Im Wunder sollen sie etwas von dem dreifaltigen Auftrag wahrnehmen, der er dieses Wunder ermöglicht hat und es Wirklichkeit werden ließ. Das zeigt sich vor allem dann, wenn Christus in seiner «Stunde» und beim Streitgespräch im Tempel über seinen Auftrag die Antwort des Vaters herausfordert: «Deshalb bin ich in diese Stunde gekommen. Vater, verherrliche deinen Namen» ( Joh 12, 27-28). Im «hohepriesterlichen Gebet», kurz vor der Passion, offenbart Christus das admirabile commercium (den «wunderbaren Tausch») seiner Herrlichkeit, die er als harpagmon aufgibt, um sie als Gabe zu empfangen: «So sprach Jesus, und indem er die Augen zum Himmel erhob, sagte er: ‹Vater, die Stunde ist gekommen! Verherrliche deinen Sohn, damit er dich verherrlicht›» ( Joh 17, 1). Der Vater selbst macht sich da und dort für die Menschen vernehmbar, indem er seinem Sohn antwortet, genauer gesagt, sich für ihn verantwortet. Zuerst bei der Taufe: «Da kam eine Stimme vom Himmel und sagte: ‹Dieser ist mein vielgeliebter Sohn, an dem ich Gefallen habe» (Mt 3, 17; Mk 1, 11; Lk 3, 22 macht daraus eine direkte Anrede: «Du bist mein Sohn»). Auch bei der Verklärung ist die Vision weniger wichtig als die «Stimme, die aus der Wolke kam und sagte: ‹Das ist mein vielgeliebter Sohn, an dem ich Gefallen habe; hört auf ihn!›» (Mt 17, 5; Mk 9, 7; Lk 9, 35). Auch die Bittrufe des Sohnes an den Vater erhielten selbstverständlich sogleich eine Antwort. Auf die Bitte: «Vater, verherrliche deinen Namen» antwortet eine Stimme: «Ich habe ihn schon verherrlicht und werde ihn wieder verherrlichen» ( Joh 12, 28). Man hörte die Stimme, aber verstand sie nicht; die Menge fragte sich, ob es gedonnert oder ein Engel gesprochen habe. Jesus erklärt ihnen: «Nicht für mich kam diese Stimme, sondern für euch» ( Joh 12, 30), zur Kundgabe der sogenannten immanenten Trinität in der Heilsgeschichte, wie bei der Auferweckung des Lazarus. Man könnte auch die Gefangennahme Jesu – genauer gesagt seine Einwilligung in die Gefangennahme, der er hätte entgehen können – als eine Bestätigung seiner Sohnschaft «in der Gestalt Gottes» (Phil 2, 6) auffassen: «Als er zu ihnen sagte: ‹Ich bin es› (ἐγώ εἰµι), wichen sie zurück und stürzten zu Boden» ( Joh 18, 6). Der Geist greift als Vermittler und Regisseur des trinitarischen Dramas ohne Worte ein, «nach Art einer Taube» (Mt 3, 16; Mk 1, 10; Lk 3, 24).

Auch die letzten Worte Christi muss man als Offenlegung des dreifaltigen Lebens Gottes im Zerreißen verstehen (wie der Vorhang des Tempels zerriss). Sein Sterben war ohne Zweifel die Hingabe von jeglichem harpagmos: «Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?» (Mt 27, 46; Mk 15, 34). Doch im ewigen Drama des innertrinitarischen Lebens ermöglicht diese Hingabe gleichfalls ohne Zweifel die nie wieder rückgängig zu machende Gabe. Weil der Sohn sagen kann: «Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist» (Lk 23, 26), ist in den Augen des Vaters tatsächlich alles «vollbracht (τετέλεσται)» und der Geist auch in dieser Welt freigesetzt: «…und er neigte das Haupt und übergab den Geist» ( Joh 19, 30).

Einige haben das gesehen, zwar nicht auf Anhieb, aber zu gegebener Zeit und endgültig. Oder ohne es ganz zu verstehen, als schlichte Feststellung einer Tatsache. So die Jünger beim Seesturm: «Wahrlich, du bist der Sohn Gottes» (Mt 14, 33). Oder der Hauptmann und die Soldaten, die mit ihm Jesus bewachten, «zutiefst erschrocken über das Erdbeben und das, was geschah»: «Wahrhaftig, das war der Sohn Gottes» (Mt 12, 54; Mk 15, 39; Lk 23, 47: «Wahrhaftig, dieser Mensch war ein Gerechter»). Oder auch als Vorahnung der Offenbarung des dreifaltigen Lebens in der Heilsgeschichte, wie Petrus bei Cäsarea: «Du bist der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes» (Mt 16, 16; Mk 8, 29-30; Lk 9, 20). Wo Petrus im Namen aller verbliebenen Jünger spricht, muss er noch deutlicher werden: «Herr, zu wem sollen wir gehen? Du hast die Worte des ewigen Lebens. Wir sind zum Glauben gekommen und haben erkannt: Du bist der Heilige Gottes» ( Joh 6, 68-69).

Sich mit der «Kenose» befassen, heißt erfassen, «wie das Allerhöchste (to hypsêlon), das bei seinem Kommen zum Niedrigsten (to tapeinon) wurde, im Niedrigsten sichtbar wird (kathoratai) ohne sein Höchstsein aufzugeben».13 Anders gewendet: Es heißt sehen lernen, dass die Verlassenheit Christi im Sterben eine Hingabe ist (er stirbt sozusagen intensiver als jeder andere Mensch und «hat das Geborenwerden nur im Hinblick auf sein Sterben auf sich genommen»14), die Anerkennung und Rückerstattung der Gabe, die der Vater ihm, dem Sohn, in der Einheit des Geistes schenkt. Auch in der Höllenwüste der Sünde, die sich mit höchster körperlicher, sittlicher und geistiger Kraft als beherrschend erwies, im Erleiden der Qualen bis zum Tod, in der Treulosigkeit und Ungerechtigkeit der Menschen und nicht zuletzt in der Verbundenheit mit den Verdammten, lebte und erlebte Christus sein ewiges Einssein im dreifaltigen Gottes. Wohl uns, wenn wir eines Tages sagen können, das «haben wir mit eigenen Augen gesehen und betrachtet» (1 Joh 1, 1).

Sprechen wir wenigstens nie von einer «Kenose Gottes» am Kreuz. Auch in der Kenose scheint noch die Herrlichkeit des dreifaltigen Gottes auf; doch die Dreifaltigkeit ergibt sich nicht aus der Kenose. Man muss die Kenose von der Dreifaltigkeit aus betrachten und im Hinblick auf sie. Die Kenose entfaltet das dreifaltige Leben, aber sie erklärt es nicht. Sie ist ein Aufleuchten des dreifaltigen Lebens mitten in der Finsternis der Sünde – wo der Ernst, die Arbeit, die Geduld und der Schmerz der agapé alles übertrifft, was sich unser armseliger Verstand und unsere tiefste Betroffenheit unter dem Ernst des «Begriffs» vorstellen kann. Die Freude des dreifaltigen Lebens birgt tieferen Ernst in sich als die – zwar scheußliche, aber endliche – Belanglosigkeit unserer Sünde. Das dreifaltige Leben ist auch in der Kenose am Werk; die Kluft, die es überbrückt, umfasst und überbietet jede endliche Kluft des Bösen, der Sünde und des Todes.15 «Die Kraft (dynamis) Gottes kommt in der Schwachheit zur Vollendung» (2 Kor 12, 9), weil «für Gott alles möglich ist (παρὰ θεῷ, πάντα γὰρ δυνατὰ)» (Mk 10, 27; Lk 18, 27).

Aus dem Französischen übersetzt von Peter Henrici.

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