Namen zeigen an, woher jemand kommt und wohin er gehört. Der Nachname ist hierzulande der Familienname: Er verweist auf den primären Sozialraum seines Trägers, auf seine Ursprungsfamilie, und markiert nach einer Heirat gegebenenfalls die Zugehörigkeit bzw. Gründung eines neuen Sozialverbundes, der wiederum die Herkunft der nächsten Generation bestimmen wird. Während der Familienname verbindet, macht der Vorname den Unterschied. Er identifiziert einen Menschen innerhalb seiner Familie. Denn der Mensch ist nicht nur Kind seiner Eltern, sondern auch ein Jemand, den man individuell benennen, ansprechen und rufen kann.
Eigenartiger Weise verwenden wir selbst, abgesehen von einer kurzen Phase, in der das Kind sich selbst als Ich im Gegenüber zur Welt (zum Nicht-Ich) zu entdecken beginnt, unseren Vornamen nur in kommunikativen Erstsituationen, etwa in einer Vorstellungsrunde, oder in formalisierten schriftlichen Zusammenhängen, in denen wir gewissermaßen von außen auf uns zeigen. Unseren Vornamen führen nicht wir selbst im Mund, sondern der uns vertraute Andere, wenn er uns anspricht oder mit anderen über uns spricht. In der ersten Person Singular ist der Rufname nicht aussagbar. Denn er ist keine Selbstaussage, sondern eine Adresse. Wer einen Vornamen trägt, braucht, wenn er sich selbst ausspricht, den sprachlichen Stellvertreter, das Pro-nomen. Dieses Personalpronomen wiederum ist für jeden, der in erster Person redet, dasselbe: Ich. Jedes Ich braucht um seines Namens willen den anderen, und jeder andere ist ein Ich.
Folgt man soziologischen Analysen, ist es dieses Ich, das modernen westlichen Gesellschaften ihr typisches Gepräge gibt. Die Logik des Ich, die Selbstaussage der vielen einzelnen mittels Personalpronomen, ist zum Programm und Projekt einer ganzen Gesellschaft geworden. Ein erfolgreiches, unverwechselbares Ich ist man jedoch nicht einfach, man muss es täglich neu werden, man muss es gestalten, inszenieren und vor allem zeigen. Unverwechselbarkeit, die keiner sieht, zählt in der Generation Selfie nicht viel. Selbstvergewisserung geschieht durch digitalen Existenznachweis im sozialen Netzwerk, wenn die Selbstinszenierung im Foto, Video oder Microblog von den friends der online-Community gesehen, kommentiert, vor allem aber bestätigt (geliked) wird. Das reale Ich bleibt zwar die Instanz von Freude und Hoffnung, Leid und Schuld, Trauer und Angst. Seine Präsentation in der digitalen Welt lässt (nur) sehen, was sich sehen lassen kann. Sie zeigt (nur) das, was vorzeigbar ist. Doch die Grenzen zwischen dem leibhaftigen Menschen und seinem halbierten digitalen Doppelgänger verschwimmen zusehends – nicht nur für das mediale Gegenüber, sondern auch für das Original des digitalen Abbilds. Es kann seine Manipulation durch die Algorithmen des Informationskapitalismus nur noch mit Mühe wahrnehmen. In dieser Welt wird sichtbar gemacht, was von vielen gesehen, und zu lesen gegeben, was von vielen gedacht werden soll. Die Logik der digitalen Welt erfasst und steuert, was berechenbar ist; unvorhersehbar Individuelles ist darin nicht vorgesehen.
Im angelsächsischen Sprachraum heißt der Rufname, sofern er nicht als «first name» auf seine Position im Gefüge von Vor- und Zuname reduziert wird, bis in die Sphäre zivilstandsrechtlicher Formulare hinein «Christian name». Die ursprünglich religiöse Codierung dieser immer noch üblichen Bezeichnung ist längst säkularisiert. Der Begriff dürfte einem Nichtchristen, der seinen Vornamen in amtliche Papiere einträgt, keine Schwierigkeiten bereiten. Aber er erinnert an einen wichtigen geistesgeschichtlichen Zusammenhang: Die Kirche tat sich mit den neuzeitlichen Errungenschaften der Autonomie und der Freiheitsrechte des Subjekts fraglos lange Zeit schwer. Die Moderne wurde zu einem guten Teil gegen die Beharrungskräfte und den Selbstbehauptungswillen des institutionalisierten Christentums erstritten. Jenseits dieser historischen Konfliktlinien ist die ideengeschichtliche Bedeutung des christlichen Glaubens für die Entdeckung der Personalität und Subjektivität des Menschen jedoch nicht zu verkennen. Das Christentum eröffnete einen geistigen Raum zur Individualisierung des Menschen. Die Taufe, auf die der englische Begriff für den Vornamen zurückgeht, stiftet Identität durch religiöse Namengebung. Das Ich findet in der sakramental besiegelten Beziehung zum Gott Jesu Christi, der es individuell beim Namen ruft und die Toten zum Leben erweckt, Grund und Dauer. Die dogmatischen Debatten des 4. und 5. Jahrhunderts brachten, obgleich aus christologischem und trinitätstheologischem Interesse, einen entscheidenden anthropologischen Durchbruch zur Bestimmung menschlicher Personalität. Und eine der ersten und wichtigsten Autobiographien der Antike entstand aus religiösem Interesse in einem dezidiert christlichen Kontext. Augustinus bekundet in seinen Confessiones (um 400 n.Chr.) die Erfahrung, durch Gottes Gnade im Innersten seiner selbst – inferior intimo meo et superior summo meo (Conf III,6) – zu sich selbst befreit worden zu sein.
Ob auf sakramentaler, reflexiver oder selbstreflexiver Ebene, immer wieder erweisen sich drei Dimensionen des Menschseins als zentral: Selbststand – in neuzeitlicher Diktion: Autonomie –, Leiblichkeit und Relationalität. Jede dieser Dimensionen lässt sich, wie die Geschichte zeigt, religiös, aber auch, wie die Gegenwart belegt, rein säkular interpretieren und formen. Jede dieser Dimensionen kann, einseitig betont oder einseitig vernachlässigt, menschliches Leben aus der Balance bringen. Das vorliegende Heft beschäftigt sich mit Gestalten und Konversionen des jeweils individuellen, aber ausnahmslos jedem aufgegebenen Ich. Außerdem stellt es einige explizit religiöse Optionen der Identitätsfindung zur Debatte. Auf einen zeitdiagnostischen Beitrag von Hans-Joachim Höhn zum Profil heutiger Suchbewegungen nach dem «wahren» Ich folgt zunächst eine Relecture der Entdeckungsgeschichte des Subjekts im Kontext christlich geprägter Horizonte durch Armin Wildfeuer. Erwin Dirscherl thematisiert sodann unter Rekurs auf Franziskus’ Appell zu einer Revolution der Zärtlichkeit den Leib als Medium menschlicher Beziehungen und Weltwahrnehmung. Alex LefrankSJ erinnert an den Beitrag ignatianischer Spiritualität zur Entwicklung und Gestaltung menschlicher Identität. Meik Schirpenbach weitet den Horizont von Subjektivität und Intersubjektivität um eine Perspektive des christlichen Ostens und erläutert die Überlegungen Dumitru Stăniloaes zur Reziprozität zwischenmenschlicher und gottmenschlicher Beziehungsfähigkeit.