Nicht mehr ich, sondern Christus in mir (Gal 2,20)Ignatianische Impulse als Anleitung zum Ich

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«I no longer live, but Christ lives in me»: An Ignatian Impulse. God has dared to create another ego endowed with freedom. This endeavour failed. Henceforth man existed focused on himself driven by greed and anxiety. God himself entered into human history, in order to restore man to his original freedom. To deny being an ego seems to be the radical solution; it has been realised many times in history. True healing requires instead the cooperation of the human ego. In his Spiritual Exercises Ignatius of Loyola began by focusing on the discrepancy between an idealised ego-perception and the reality of the retreatant. God’s mercy visible in Christ frees man to accept his sinful reality. Based on this acceptance he is able to discover the invitation to follow Christ and thus to become like the incarnate God himself.

1. Das Wagnis Gottes

Wenn man ernst nimmt, was Geschaffen-Sein heißt, kann einem aufgehen, welches Wagnis es war, dass Gott Menschen erschaffen hat. Denn Mensch-Sein ist Person sein: Ich sein, Zentrum von eigenem Wollen, von selbst-verantworteter Freiheit. Und das bei gleichzeitiger vollständiger Abhängigkeit vom Concursus divinus, vom ständigen Im-Dasein-Gehalten-Sein durch den göttlichen Schöpfer. Irgendwie stehen sich dann doch zwei Macht-Zentren gegenüber: das göttliche und das geschaffene.

So betrachtet, ist schon die Schöpfung ein ungeheures Geheimnis. Jedenfalls wenn wir es von unserer Erfahrung mit Macht her betrachten. Diese Erfahrung besagt: Wenn es verschiedene Macht-Zentren gibt, dann ist mit Konflikt zu rechnen. Und tatsächlich kam es schon in der Urgeschichte der Menschheit zum Konflikt. Wie konnte Gott auch so kühn sein – oder sollen wir sagen: so töricht sein? –, sich ein eigenständiges Ich gegenüber zu setzen.

Im deutschen Sprachgebrauch denken wir «erschaffen» eher von «machen» her. Mit diesem Wortfeld bewegen wir uns in der Sachwelt, nicht im Bereich von Beziehungen zwischen Personen. Demgegenüber sieht schon das Alte Testament – vor allem im Buch Deutero-Jesaia ( Jes 40–55) – das Schöpferhandeln Gottes als Unternehmen der Liebe. Gott schafft sich ein Gegenüber, das er lieben kann und das ihm in Liebe zu antworten vermag. Liebe und Freiheit gehören zusammen und bedingen sich gegenseitig. Denn erzwungene Liebe ist keine Liebe. Und nur Liebe vermag Freiheit zu schaffen.

Die Geschichte hätte so schön weitergehen können. Wenn der Mensch die Chance, das Glück erfasst hätte, dass er vom liebenden Schöpfer dazu ermächtigt worden ist, in Liebe frei zu antworten; anzuerkennen, dass er ganz abhängig ist, aber diese Abhängigkeit nicht als Begrenzung zu missdeuten, sondern als Basis dafür anzunehmen, in freier Liebe zu antworten. So wie es Kinder können, wenn sie ihren Eltern vertrauen. Nicht von ungefähr stellt uns deshalb das Evangelium das Kind als Vorbild vor Augen: «Wenn ihr nicht umkehrt und wie die Kinder werdet, könnt ihr nicht in das Himmelreich kommen.» (Mt 18, 3)

2. Die Tragödie des Menschen

Das Wagnis ging schief. Der Mensch stieß sich daran, dass es da ein Erinnerungs-Zeichen daran gab, dass er Dasein und Reichtum einem Anderen verdankte. «Von allen Bäumen des Gartens darfst du essen, doch vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse darfst du nicht essen; denn sobald du davon isst, wirst du sterben.» (Gen 2, 16–17) Das Böse brauchte der Mensch nicht zu erkennen, denn es ist nur Lüge und führt zur Vernichtung.

Eben so sehr wie Liebe und Freiheit zusammen gehören, gehören Liebe und Vertrauen zusammen. Denn Liebe ist nicht beweisbar. Sie ist nur glaub-bar. Der Ansatz zur Ursünde ist der Riss des Vertrauens. «Hat Gott wirklich gesagt: Ihr dürft von keinem Baum des Gartens essen?» (Gen 3, 1) Mit dieser Frage sät die Schlange die Vorstellung in die Seele Evas, Gott könnte es nicht gut mit ihr meinen. Zunächst antwortet Eva korrekt. Aber die Schlange legt nach: «Nein, ihr werdet nicht sterben. Gott weiß vielmehr: sobald ihr davon esst, gehen euch die Augen auf; ihr werdet wie Gott und erkennt Gut und Böse.» (Gen 3, 4–5)

«Da sah die Frau, dass es köstlich wäre, von dem Baum zu essen, dass der Baum eine Augenweide war und dazu verlockte, klug zu werden.» (Gen 3, 6) Es gelingt der Schlange, den Blick Evas von der Fülle des Gartens weg auf diesen einen Baum zu fixieren. Nachdem der Gedanke da war, der Gott, von dem der Mensch alles hat, könnte doch nicht nur gut sein und würde dem Menschen etwas vorenthalten, erwacht in ihm die Begierde. Er muss sich nun selbst verschaffen, was ihm nicht zugedacht ist. Die Emotionalität, die vorher im Vertrauen auf den guten Schöpfer geborgen und auf ihn ausgerichtet war, hat sich nun aus dieser Beziehung gelöst und wird zur Triebkraft, das Vorenthaltene an sich zu reißen.

Gleichzeitig wird die Wahrnehmung verfälscht. Zuerst verblasst die Fülle des Paradieses vor dem einen Baum. Sodann wird aus dem Gott, der alles geschenkt hat, ein Fremder, dem man doch nicht trauen kann. Weil man nicht mehr darauf vertrauen kann, dass einem gegeben wird, was gut ist, hört das Dasein auf, reines Geschenk zu sein und wird zum Kampf ums Leben.

Die Ernüchterung folgt sofort: «Da gingen beiden die Augen auf, und sie erkannten, dass sie nackt waren.» (Gen 3, 7) Nacktsein heißt ausgeliefert sein, den Blicken und der Begierde Anderer. Die innere Reaktion ist Angst. Sie bestimmt fortan das Leben des Menschen. Aus der Geborgenheit des geschaffenen Ich des Menschen im Du des liebenden Gottes ist so das ausgesetzte Ich dessen geworden, der mit sich allein ist, weil ihm das verlässliche Du Gottes abhandengekommen, ja zur Bedrohung geworden ist. Dabei gibt es noch einmal eine Trübung der Wahrnehmung: Dass der Mensch selbst Urheber seiner Not geworden ist, wird ausgeblendet; er sieht nur noch die leidvolle Folge seiner Tat. Deshalb ist er damit beschäftigt, «sich einen Schurz zu machen» (Gen 3, 7), sich zu schützen. So ist der Mensch zu dem geworden, der um sich besorgt und mit sich beschäftigt ist.

Aber Gott überlässt ihn nicht sich selbst. Er kündigt die Beziehung nicht auf. Er spricht ihn an: «Adam, wo bist du?» Adam gesteht seine Not: «Ich habe dich im Garten kommen hören; da geriet ich in Furcht, weil ich nackt bin, und versteckte mich.» Die bohrende Frage Gottes nach seiner Schuld aber vermag Adam nicht auszuhalten. Er schiebt die Schuld von sich weg auf jemand Anderen: «Die Frau, die du mir beigesellt hast...»; und die Frau: «Die Schlange hat mich verführt.» (Gen 3, 9–13)

Das geschaffene Ich, das Gott als Partner gewollt hatte, ist nun auf der Flucht; auf der Flucht vor der Wahrheit und damit vor Gott und vor sich selbst. Der Mensch ist zum Getriebenen geworden. Zuerst von der Begierde und dann von der Angst. Immer meint er, dass er irgendwo zu kurz gekommen ist. Und immer gibt es eine Bedrohung. Immer wieder muss er sich verstecken und fürchten, entdeckt zu werden.

3. Die Rettung

Gott hat den Menschen in seiner Verlorenheit nicht allein gelassen. Er ist ihm zu Hilfe gekommen, «um die zu befreien, die durch die Furcht vor dem Tod ihr Leben lang der Knechtschaft verfallen waren.» (Heb 2, 15) Er tut dies, indem er selbst ein menschliches, hinfälliges Ich wird, ausgesetzt wie alle Menschen, gefährdet und dem Tod verfallen.

Gott hat also nicht getan, was nahe gelegen wäre: Er hat die entgleiste Geschichte nicht beendet, indem er Schluss gemacht hat mit diesem Menschengeschlecht, sondern er ist Teil dieser Geschichte geworden und hat die Folgen der Ursünde auf sich genommen. «Obwohl er der Sohn war, hat er durch Leiden den Gehorsam gelernt». (Heb 5, 7–9) Gott geht in Christus den Weg zurück durch die Folge-Geschichte der Ursünde zum Anfang dieser Unheilsgeschichte: dem Ungehorsam der Stammeltern und setzt mit seinem Gehorsam den Neuanfang.

Bevor Jesus seinen Leidensweg antritt, macht er durch seine Machttaten, seine Heilungen und Dämonenaustreibungen, klar, dass Gott das Paradies nicht aufgegeben hat, sondern es dem Menschen wieder eröffnen will: Eine Welt ohne Bosheit, Leiden und Tod. Aber dies geht nur, wenn der Mensch den Weg zur Liebe wieder findet. Darum kann der Erlösungsweg nicht nur in Wohltaten bestehen, welche die Not des Menschen beheben. Sie müssen als Zeichen der Liebe entdeckt werden. Darum geschehen die Heilungen im Dialog; sie sind Beziehungsgeschichten. Hinter den Wohltaten soll der erkannt werden, der sie schenkt.

Aber die Menschen sind so sehr von ihrer Not besetzt, dass sie diesen Schritt nicht schaffen. Als sie durch die Brotvermehrung satt geworden sind, «erkannte Jesus, dass sie kommen würden, um ihn in ihre Gewalt zu bringen und zum König zu machen.» ( Joh 6, 15) Sie erkennen nicht, dass der Mensch nicht vom irdischen Brot allein zu leben vermag, sondern dass Gott ihnen «Brot vom Himmel» ( Joh 6, 31) reicht, den Menschensohn, der «das Brot des Lebens» ( Joh 6, 35) ist. Dieses Liebes-Brot, das wahrhaft nährt, empfängt man dadurch, dass man glaubt, dass man den Sprung des Vertrauens wagt, zu dem er einlädt.

Weil Jesus nicht davon ablässt, diesen Schritt zu verlangen, wächst das Unverständnis der Menge und die Gegnerschaft derer, die sein Auftreten als Bedrohung empfinden. Selbst Petrus bleibt im Nützlichkeits-Denken der Menschen gefangen. Seinen Protest gegen den Leidensweg weist Jesus scharf zurück: «Du hast nicht das im Sinn, was Gott will, sondern was die Menschen wollen.» (Mt 16, 23) Von dem, «was die Menschen wollen», muss der Mensch umkehren zum Glauben, dass der Weg Jesu der Weg ins Paradies ist. Er muss die Fixierung auf seine Bedürfnisse und die Knechtschaft der Angst hinter sich lassen. Das ist geradezu eine «neue Schöpfung» (2 Kor 5, 17) gegenüber dem erbsündlichen Ich, das um sich kreist, ein neues Ich, zu dem er werden muss.

4. Die falsche Umkehr

Wie wird der Mensch neue Schöpfung, ein neues Ich? Wohl am besten dadurch, dass er gar nicht erst «ich» sagt. «Sich selbst zu verleugnen», verlangt doch das Evangelium (Mk 8, 34). Von sich absehen, den Anderen den Vortritt lassen und auf die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse verzichten, das scheint der Weg zu sein.

Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass dieser Weg tatsächlich gegangen wurde. Regime wie das Nazi-Regime oder der Kommunismus konnten sich nur entwickeln, weil es ihnen gelang, ihre Ziele als Ideale darzustellen und viele dafür zu begeistern. Islamistische Selbstmord-Attentäter realisieren diesen Weg in Extremform. So etwas wird dadurch möglich, dass ein Ideal angeboten wird, das einen höheren Selbstwert verspricht, wenn man sich aufopfert. Denn die tiefste Sehnsucht des Menschen geht nicht auf den Selbsterhalt, sondern darauf, wertvoll zu sein. Das Ich mit seinen Bedürfnissen und Ängsten scheint dafür das größte Hindernis zu sein. In der Verleugnung dieses Ichs strahlt das Ideal als verwirklicht auf. Das Über-Ich hat dann scheinbar gesiegt. Diese innere Tyrannei kann aber über kurz oder lang zu äußerer Tyrannei führen, in der die nur unterdrückte und nicht integrierte Bedürftigkeit des Menschen als Brutalität bis hin zu sadistischen Exzessen durchbricht. Ein Christentum, das die Leidensnachfolge einseitig glorifiziert, macht anfällig für diesen Kurzschluss. Die Identifikation mit Christus kann nämlich zum Abwehrmechanismus werden, um sich selbst mit seinen Bedürfnissen und Ängsten nicht annehmen zu müssen.

Als das Christentum zur Religion des Volkes wurde und die Kultur Europas prägte, galt «Ich-Werdung» deshalb weithin nicht als Ziel der Erziehung. Unterwerfung unter die akzeptierten Normen und Anpassung an die geltenden Ideale standen im Mittelpunkt, nicht Freiheit und Selbstbestimmung. Der Ordensstand mit seinem dreifachen Verzicht auf Selbstverwirklichung war zum Ideal geworden.

Als daher in der Neuzeit der Mensch als Individuum, als Subjekt, immer mehr in den Blick geriet und damit sein Freiheitswille erwachte, erhob sich Protest gegen diese Sicht des Menschen. Statt der Verleugnung des Ichs des Menschen kam es nun zur Leugnung des Ichs Gottes. Der Mensch könne nur eigenverantwortlich und frei sein, wenn er nicht von einem allmächtigen Anderen, dem er sich verdankte, abhängig sei. Die Idee «Gott» müsse als Projektion des menschlichen Ichs begriffen und fallen gelassen werden. Nur so könne die Menschheit aus einem infantilen Stadium in die volle Reife gelangen.

5. Der Weg zum authentischen Ich

Wenn also die Verleugnung des Ich-Sagens und Ich-Sein-Wollens ein Irrweg ist, wie kann dann der Weg aussehen, der zur echten Ich-Fähigkeit führt und doch die Herausforderungen des Evangeliums ernst nimmt?

Zu Beginn der Neuzeit hat Ignatius von Loyola dazu einen exemplarischen Weg gewiesen. Dieser Weg beginnt ohne Umschweife mit einer Erwägung über die Freiheit, also über das, was das Ich des Menschen auszeichnet. Wenn es stimmt, dass der Mensch geschaffen ist und somit sein Lebensziel im personalen Bezug zum Schöpfer besteht, dann sind alle geschaffenen Dinge und Situationen demgegenüber Mittel und Wegstationen. Sie sind «für den Menschen geschaffen, damit sie ihm bei der Verfolgung des Zieles helfen...Deshalb ist es nötig, dass wir uns gegenüber allen geschaffenen Dingen ...indifferent machen. Wir sollen also nicht unsererseits mehr wollen: Gesundheit als Krankheit, Reichtum als Armut, Ehre als Ehrlosigkeit, langes Leben als kurzes; und genauso folglich in allem sonst».(EB 233.5-6)1

Indifferent, d. h. innerlich frei ist ein Mensch nur, wenn er weder in Anhänglichkeit noch in Ablehnung so an eine Sache oder einen Zustand gekettet ist, dass er ihm gegenüber keinen Spielraum für Entscheidung hat. Die Beispiele, die Ignatius anführt, betreffen vitale und emotionale Grundbedürfnisse des Menschen. Die jeweiligen Negativa (Krankheit, Armut etc.) machen ihn leiden. Da der Mensch nicht mehr im Paradies lebt, sind diese Leiden reale Bedrohungen. Wenn er also nicht leidensbereit wird, ist er erpressbar; seine Freiheit bleibt dann ein theoretisches Ideal. Die Menschheitsgeschichte ist voll davon, wie politische, wirtschaftliche und physische Mächte es geschafft haben, die Freiheit der Menschen auszuhebeln. Das gelingt diesen äußeren Mächten, indem sie in uns die Angst mobilisieren, dass wir nicht bekommen, was wir zum Leben brauchen oder zu brauchen meinen. Nur wenn der Mensch gegenüber dem Druck der Angst frei wird, vermag er sein Leben als personales Ich zu gestalten und selbstverantwortete Entscheidungen zu treffen.

Die Umwandlung des Ichs, das um sich und seine Bedürfnisse kreist und dadurch erpressbar ist, zum freien Ich kommt einer «neuen Schöpfung» (2 Kor 5, 17) gleich. Der Mensch kann sie also nur von Gott erhoffen und erbitten. Aber da er schon als Ich existiert, und Gott keine andere Schöpfung, sondern eine Erneuerung der bestehenden Schöpfung will, muss dieses Ich der Menschen dabei mitwirken. Dafür hat Ignatius die «Geistlichen Übungen» entwickelt. Sie sind ein Gebetsprozess. Die Gebets-Übungen, die Ignatius anbietet, beginnen mit zwei Vorbereitungsschritten, die entscheidend sind, damit der Prozess gelingt:

1. Ein Gebet darum, dass Gott «alle meine Absichten» (EB 46) darauf ausrichtet, ihm zu entsprechen. Dieses Gebet ist als allgemeines Vorbereitungsgebet zu Beginn aller Übungen beizubehalten. Es ist in allen geistlichen Schulen als Gebet um die reine Absicht geläufig. Es schließt die Bitte um die Freiheit ein, die zuvor formuliert worden ist.

2. Ohne das Gesamtziel der Exerzitien, das in diesem Vorbereitungsgebet angesprochen ist, aus dem Auge zu verlieren, lädt Ignatius zu einer zweiten Hinführung ein, die für jeden Übungsschritt neu zu formulieren ist: «Gott unseren Herrn um das bitten, was ich ( jeweils) will und wünsche.» (EB 48) Dieser Schritt ist erstaunlich und dürfte einmalig in der geistlichen Tradition dastehen.

Ich soll also mein Ich, wie ich es jeweils als «Zentrum des Wünschens und Wollens»2 erfahre, nicht übergehen, sondern in den Gebetsprozess einbringen. Nun ist mein Ich jeweils mit vielerlei Empfindungen, Vorstellungen, Gedanken und Absichten beschäftigt. Ich bin dabei – zunächst meist unbewusst – von den Bedürfnissen und Ängsten getrieben, deren Gefangener der unerlöste, erbsündliche Mensch ist. Ignatius leitet dazu an, in diesem Vielerlei das Augenmerk auf die Impulse zu richten, aus denen mein Tun und Lassen entsteht: «Was ich will und wünsche». Anstatt mein Wünschen und Wollen zu verleugnen, soll ich es vor Gott bringen. Damit trete ich in einen direkten Dialog mit Gott ein, sozusagen von Ich zu Ich. Das Entscheidende an diesem Dialog ist, dass er aufrichtig und ehrlich ist. Das kann er nur sein, wenn er nicht unter einer Zensur steht; wenn ich nicht, statt zu offenbaren, was ich tatsächlich will und wünsche, nur vortrage, was ich meine wünschen zu sollen, und verschweige, was meiner Meinung nach vor Gott nicht bestehen kann.

Mit seinem Gespür für den springenden Punkt, auf den es jeweils ankommt, greift Ignatius in den Geistlichen Übungen genau diese Diskrepanz zwischen Ideal- und Real-Ich auf. Dabei setzt er einen Menschen voraus,

1. dem bereits zum Ideal geworden ist, nach Gottes Willen zu leben;

2. der erkannt hat, dass er das – jedenfalls in wichtigen Punkten – bisher nicht getan hat, d. h. dass zwischen seinem Ideal-Ich und seiner Lebensrealität ein Widerspruch besteht;

3. dass ihn das aber emotional nicht bewegt. Seine Einsicht meldet ihm zwar, dass es mit ihm nicht in Ordnung ist; aber seine Gefühle spielen ihm vor, es gäbe keinen Grund zur Beunruhigung. Er befindet sich in der Unwahrheit, ohne dass ihn das irritiert. Um nicht nur theoretisch, sondern existentiell wahrhaftig zu sein, müsste ihn die erkannte Wahrheit betreffen, ihn als Ich irritieren.

Deshalb formuliert Ignatius für die erste Übung: «Hier wird dies (die Bitte)sein: Um Beschämung und Verwirrung über mich selbst bitten» (EB 484). Das ist eine ziemliche Zumutung, denn Beschämung und Verwirrung sind Seelen-Zustände, vor denen wir zurückschrecken. Beschämt sind wir, wenn wir an uns etwas entdecken, das unseren Selbstwert infrage stellt. Verwirrt werden wir, wenn wir unseren Ort, unsere Heimat im Dasein und dadurch unsere Orientierung verlieren. Was gibt uns den Mut, solche existentielle Irritation zu wollen und zu erbitten?

Wir vermögen das nur, wenn uns ein Gott entgegenkommt, der uns nicht verurteilt, wenn wir in unserer Wahrheit vor ihn treten, sondern barmherzig aufnimmt. Er tut es als «Menschensohn, der gekommen ist, um zu suchen und zu retten, was verloren war.» (Lk 19, 10) Deshalb führt Ignatius schon in derselben Übung, die damit begonnen hat, um die fällige Beschämung und Verwirrung zu bitten, vor das Kreuz Christi als den unwiderlegbaren Erweis dieses Erbarmens. Im gegenüber zum Gekreuzigten wandelt sich die Beschämung der Angst in die beseligende Beschämung über das unverdiente Erbarmen. Die Erfahrung, bedingungslos geliebt zu sein, befreit das Ich zu lieben. So erfüllt sich das Wort Jesu: «Wenn ihr in meinem Wort bleibt,» indem ihr mein Erbarmen annehmt, «seid ihr wirklich meine Jünger. Dann werdet ihr die Wahrheit erkennen»; nicht eine abstrakte Wahrheit über Gott und die Welt, sondern die Wahrheit eures Lebens; «und die Wahrheit wird euch befreien» ( Joh 8, 31–32) zu einem Leben in Liebe.

Ein Barmherzigkeits-Verständnis, das diesen Schritt zur Wahrheit nicht ermöglicht und fordert, ist nicht die Barmherzigkeit des Evangeliums, sondern Komplizenschaft mit den Fluchttendenzen des verlorenen Menschen. Es gaukelt vor, dass Gott sich von der Wahrheit verabschieden könnte; sozusagen aus Mitleid mit dem erbärmlichen Menschen sein Ideal-Ich für seine Realität halten könnte.

Nachdem jemand begonnen hat, sich um Gott zu kümmern, ist dies die nächste Etappe, – im Exerzitienbuch des Ignatius «erste Woche» genannt, – auf dem Weg, «neue Schöpfung» als freies Ich zu werden. Der Mensch kommt damit in seiner Wahrheit als Sünder vor Gott an und erfährt Vergebung und Befreiung. Er wird dadurch mit seinem Real-Ich versöhnt und muss nicht mehr in ein Ideal-Ich fliehen. Dadurch wird es möglich, dass er über seine bisherige Realität hinaus wächst.

6. Die Einladung, doch «wie Gott zu werden» (Gen 3, 5)

Indem Gott Mensch geworden ist, eröffnet er die Möglichkeit, dass der Mensch ihm ähnlich wird. Grundlegend geschieht dies, indem er das Erbarmen Gottes annimmt, sich der eigenen Wahrheit stellt und in der Wahrheit des Geschöpf-Seins bleibt. Dafür frei zu werden, ist notwendig, auch wenn es schmerzlich ist. Der Mensch wird damit schon dem Sohn Gottes gleich, der in der Verborgenheit von Nazaret ein menschliches Leben gelebt hat. Jesus hat sich aber nicht damit begnügt, die Wahrheit des Geschöpf-Seins in Nazaret selbst zu leben. Er ist aufgebrochen, um den Vielen, den anderen Menschen, das Erbarmen Gottes erfahrbar zu machen. Und er ist dieser Sendung treu geblieben, auch als sie ihm Konflikt und Leiden eingebracht hat. Mit der Einladung, ihm auf diesem Weg zu folgen, eröffnet er für den Menschen eine neue Chance, tatsächlich «wie Gott zu werden» (Gen 3, 5) – nicht als Anmaßung wie im Paradies, sondern als freie Antwort auf ein freilassendes Angebot. Es zu erkennen und darauf zu antworten, darum geht es in dieser neuen Etappe des Dialogs Gottes mit dem menschlichen Ich. Im Prozess der ignatianischen Exerzitien ist das die «zweite Woche» des Exerzitienbuchs.

Was kann uns motivieren, uns wie Jesus aufzumachen, unseren sicheren Ort hinter uns zu lassen und uns in die Gefahrenzone zu begeben, in der Konflikt und Leiden drohen, – gleichsam wie Petrus aus dem Boot auszusteigen und übers Wasser zu gehen? Es geht um eine neue Dynamik, die sich nicht damit begnügt, das Notwendige zu tun, sondern nach dem Mehr fragt, zu dem die Torheit der Liebe einlädt. So formuliert Ignatius für den, der diese neue Chance ergreifen will, als Gebet «was ich will. Hier wird dies sein: Innere Erkenntnis des Herrn erbitten, der für mich Mensch geworden ist, damit ich mehr ihn liebe und ihm nachfolge.» (EB 104)

Wo aber ist das Boot, aus dem Petrus aussteigt, der sturmbewegte See Genesareth und Jerusalem als Ort der Konfrontation mit den Gegnern Jesu in unserer Zeit? Wo und wie kommen sie in unserem Leben vor? Wie können wir erkennen, wozu Jesus uns an unseren jeweiligen Orten einlädt und beruft? Der Prozess dieser Phase läuft doch darauf zu, dass ich bereit werde, wie Jesus für die Menschen dazusein, dass ich erkenne, zu was konkret Jesus mich in meinem Leben einlädt, und dass ich mich dann dafür entscheide. Objektive Kriterien allein können darauf keine Antwort geben. Dafür müssen wir uns mit Jesus und seinem Weg vertraut machen und eine neue Erkenntnisfähigkeit entwickeln, die in und hinter den Fakten, die das Evangelium erzählt, erspürt, was das für uns jeweils heißen kann. Denn unsere Nachfolge Jesu wird keine Kopie seines Weges sein. Über Wort und Beispiel Jesu hinaus braucht es dazu den «Beistand, den Heiligen Geist, der euch alles lehren und euch an alles erinnern wird, was ich euch gesagt habe.» ( Joh 14, 26) In ihm wächst eine neue Identität, ein neues Ich heran. Es «lebt aus dem Geist» (Gal 5, 25) und vermag sich «vom Geist führen zu lassen» (Gal 5, 18). Nach dem Weggang Jesu aus der sichtbaren Welt verlangt Gott nach Menschen solcher Identität, damit er durch sie und ihr Reden und Handeln in diese Welt hinein wirken kann.

Dabei besteht die Gefahr der Täuschung, «denn viele falsche Propheten sind in die Welt hinausgezogen.» (1 Joh 4, 1) Einerseits kann uns die große Begeisterung irreführen wie auf der anderen Seite geheime Angst abhalten. Konflikt, Misserfolg und Einsamkeit, die Jesus erlitten und uns in Aussicht gestellt hat, müssen uns eigentlich Angst machen. Wenn wir diese Angst nicht mehr spüren, drohen wir in eine Hochstimmung zu geraten, die uns hochmütig macht. Ein Kriterium dafür, dass es der Heilige Geist ist, der uns zu einem bestimmten Projekt einlädt, und nicht unser geistlicher Ehrgeiz, ist es deshalb, wenn wir dabei beides, mutmachende Freude und bange Unsicherheit gleichzeitig erfahren.

Im Exerzitienbuch redet Ignatius in dieser Phase, – obwohl es eindeutig um die Liebe geht, – nicht von Liebe, sondern von Demut (vgl. EB 164–168); demütig uns unserer Schwachheit bewusst zu bleiben, uns nicht über Andere zu erheben und die einfachen Gebote christlichen Lebens weiterhin ernst zu nehmen. Sich der Geistführung anzuvertrauen, kann man gut mit einer Klettertour vergleichen: Wer sich darauf einlässt, verlässt die vorgebahnten Wege und setzt sich der Gefahr aus, abzustürzen. Sicherung am Seil ist deshalb geboten. Der Absturz droht, wenn man sich verstiegen hat. Das Seil stellt bildlich die Bindung an die kirchliche Gemeinschaft dar. Sie vermag den Absturz zu verhindern. Dieses Seil wird oft als hinderlich empfunden. Es bewahrt aber davor, sich zu isolieren und das eigene Ich zur unfehlbaren Instanz zu erheben.

Indem Gott in Christus «sich erniedrigte und gehorsam war bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz» (Phil 2, 8), hat er einen Weg eröffnet, um tatsächlich «wie Gott zu werden» (Gen 3, 5). In der Kraft des Heiligen Geistes vermögen Menschen ihm auf diesem Weg der Erniedrigung und des Gehorsams ähnlich zu werden. Als gottähnliches Ich «verleugnet sich» der Mensch in dem Sinne, dass er die Angst um sich und sein Leben zwar spürt, sich davon aber nicht mehr beherrschen lässt. Er ist innerlich frei geworden und vermag der Bedrohung durch äußere Mächte standzuhalten. Er lebt das Paradox der Liebe, das im Evangelium so formuliert ist: «Wer sein Leben liebt, verliert es; wer aber sein Leben in dieser Welt hasst, wird es ins ewige Leben bewahren.» ( Joh 12, 25)3 So kann Paulus sagen: «Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir.» Und er gibt die Quelle an, aus dem dies möglich geworden ist: «Soweit ich noch in dieser Welt lebe, lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich für mich hingegeben hat.» (Gal 2, 20)

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