500 Jahre Reformation: ein Grund, in Jubelstürme auszubrechen? Ein Grund, in Sack und Asche zu gehen? Auf katholischer Seite gibt es nicht geringe Befangenheiten: Hätte man Martin Luther, Johannes Calvin, Huldrych Zwingli und all den anderen Reformatoren nicht aufmerksamer, selbstkritischer, konstruktiver begegnen müssen? War die Spaltung der lateinischen Christenheit wirklich unvermeidlich? Hat sie nur Nachteile gebracht? Oder hat Konkurrenz vielleicht doch auch das Geschäft belebt?
Nach wie vor tun weltweit die meisten Katholiken oft so, als ob es die Reformation nie gegeben hätte. Das ist keine besonders gute Einstellung. Ob im konfessionell gemischten Mittel- und Westeuropa und Nordamerika, ob angesichts der pentekostalen Bewegungen in Lateinamerika, in Asien und Afrika – der Protestantismus ist eine weltweite, lebendige, hybride, wachsende Bewegung, die anders organisiert ist als die katholische Kirche und deshalb jede Selbstverständlichkeit in Frage stellt, mit der man katholisch ist. Gewiss: Die katholische Kirche lebt nicht von konfessioneller Profilierung, sondern lässt sich von einem breiten und starken Traditionsstrom tragen. Aber zu viel Selbstgewissheit schadet. Es gibt eine Alternative: nicht nur eine katholische Kirche ohne Papst, sondern auch eine andere Zählung und Gewichtung der Sakramente, eine andere Stellung des Amtes, ein anderes Verständnis von Kirche, eine andere Bedeutung von Synoden, eine andere Betonung der Gewissensfreiheit, der Sündenverstrickung und der Teilhabe an Gottes Gnade.
Diese Alternative kann nicht theologisch entsorgt werden, indem sie als Ketzerei diffamiert, sie lässt sich auch nicht vereinnahmen, indem sie als grandioses Missverständnis klassifiziert wird. Die ökumenische Bewegung, die zu den großen Hoffnungszeichen der Gegenwart gehört, hat vielmehr gerade im evangelisch-katholischen Dialog, der stark auf den Diskurs setzt, gezeigt, dass erstens die Gemeinsamkeiten weit größer, vor allem aber auch weit wichtiger als die Unterschiede sind und dass zweitens die Differenzen einander nicht unbedingt ausschließen müssen, so dass sie kirchentrennenden Charakter gewinnen, sondern auch einander erhellen und begrenzen, stimulieren und transzendieren können.
Am 31. Oktober 2016 kommt es in Lund zu einem historischen Ereignis: Papst Franziskus macht sich auf den Weg nach Schweden und feiert dort mit Vertretern des Lutherischen Weltbundes einen ökumenischen Gottesdienst. Es ist der erste so repräsentative Gottesdienst seit der Reformation. Er steht unter einem sprechenden Motto: «Vom Konflikt zur Gemeinschaft». Er findet in Lund statt, weil dort 1947 der Lutherische Weltbund, die weltweite Verbindung lutherischer Kirchen, gegründet worden ist. Danach geht es ins Eishockeystadion von Malmö zu einem Fest für junge Leute von heute.
In dem Gottesdienst geht es nicht um eine Abrechnung. Es geht zuerst um einen Dank: einen Dank an Gott, der doch offenbar mit beiden, mit Katholiken und Lutheranern, noch etwas vorhat. Es geht auch um ein Geständnis: den eigenen Glauben gegen die anderen in Stellung gebracht zu haben. Vor allem geht es um einen Aufbruch, einen gemeinsamen Weg in die Zukunft. Die Richtung gibt ein Dokument vor, das die Kommission für die Einheit des Lutherischen Weltbundes und des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen 2012 veröffentlicht hat, unter genau dem Titel: «Vom Konflikt zur Gemeinschaft». Fünf ökumenische Imperative werden am Schluss aufgestellt und begründet. Sie sind als Wegweiser gedacht. Der erste lautet: «Katholiken und Lutheraner sollen immer von der Perspektive der Einheit und nicht von der Perspektive der Spaltung ausgehen, um das zu stärken, was sie gemeinsam haben, auch wenn es viel leichter ist, die Unterschiede zu sehen und zu erfahren.» Der Gottesdienst in Lund nimmt diesen Impuls auf.
Das Spektrum der reformatorischen Bewegungen ist viel weiter als das Luthertum. Aber der 31. Oktober 2017 ist doch untrennbar mit Martin Luther und der Veröffentlichung seiner 95 Ablassthesen verbunden. Auch wenn er sie nicht an die Türen der Schlosskirche zu Wittenberg gehämmert hat, um die Kirche und die ganze Welt zu erschüttern, wie das 19. Jahrhundert sich die Szene gerne vorgestellt hat – die Debatte, die er anstoßen wollte, hört bis heute nicht auf. «Vom Konflikt zur Gemeinschaft» – der Titel erweckt nicht den Eindruck, alle Probleme seien gelöst. Die eucharistische Einheit fehlt.
Unterwegs muss, wie in der Emmausgeschichte, auch gesprochen werden. Einige Beiträge versammelt dieses Heft: Wie Luther als Exeget eine Reform der Kirche an Haupt und Gliedern aus der Lektüre der Heiligen Schrift angestrebt hat, untersucht Thomas Söding. Wie sich das reformatorische zum katholischen Freiheitsverständnis verhält, reflektiert Magnus Lerch. Wie sich die Freiheit eines Christenmenschen mit der Kirchlichkeit des Glaubens vertragen kann, analysiert Eberhard Schockenhoff. Wie Melanchton aus Luthers Schatten treten und zum Brückenbauer werden kann, stellt Hans Maier anhand der Biographie von Heinz Scheible dar. Wie Martin Luther mit seinem Umfeld die Marienfrömmigkeit bereichern kann, stellt Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz heraus. Wie das Gedenken an 1517 gerade im Blick auf das Verhältnis zum Judentum immer wieder vor großen Herausforderungen stand, zeigt Hartmut Lehmann.
Bei seinem Besuch im Augustinerkloster Erfurt am 23. September 2011 hat Benedikt XVI., leider nur im kleinen Kreis, an den Glaubensweg Martin Luthers erinnert: «Auf diesem Weg ging es ihm ja nicht um dieses oder jenes. Was ihn umtrieb, war die Frage nach Gott, die die tiefe Leidenschaft und Triebfeder seines Lebens und seines ganzen Weges gewesen ist.» In der Gottesfrage verdichtet sich nicht nur das Erbe der Reformation, sondern auch der Auftrag aller Christen und ihrer Gemeinschaften, in einer säkularisierten und globalisierten Welt Zeugnis vom Grund ihrer Hoffnung zu geben. Wenn das Gedenkjahr dazu einen Beitrag leisten könnte, wäre 2017 ein Grund, zu feiern. Nur dann.