Übersehener Vermittler?Zur Melanchthon-Biographie Heinz Scheibles

Abstract / DOI

The Overlooked Mediator: On Heinz Scheible’s Biography of Melanchton. This is a review of the newly revised biography of Melanchton by Heinz Scheible (Munich: C.H. Beck 2016). The review provides a basic outline of the relevance of Melanchton’s life and works for the Protestant Reformation and his relationship to Martin Luther, higlighting the state of the art in research on Melanchton as well as its potential regarding ecumenism.

Auf dem Wittenberger Marktplatz steht Philipp Melanchthons Denkmal – in einigem Abstand von Martin Luther, doch auf gleicher Augenhöhe. Barhäuptig und im Talar präsentieren sich die beiden Professoren der Nachwelt – Theologe (Bibliker) der eine, Philologe (Gräzist) der andere. Das erscheint angemessen, gehören doch beide historisch eng zusammen, war doch Melanchthon, nach Joseph Lortz’ Urteil, «Luthers größter Einzelgewinn».

Von Melanchthons Berufung nach Wittenberg (1518) bis zu Luthers Tod (1546) haben die beiden Wittenberger Gelehrten in der Stadt nahe beieinander gewohnt und bald auch intensiv zusammengearbeitet. Melanchthon vertrat Luthers Sache 1530 auf dem Augsburger Reichstag (Luther, seit 1521 in der Reichsacht, musste damals in Coburg, auf dem Gebiet seines Protektors, bleiben). Er war für den Schmalkaldischen Bund unterwegs und führte zahlreiche Religions- und Einigungsgespräche. Das «Augsburger Bekenntnis» ist Melanchthons Werk – wie er auch mit den «Loci communes» (1521, später wiederholt überarbeitet) die erste protestantische Dogmatik schrieb. Kurzum, «Magister Philippus» war – obwohl von Haus Philosoph, nicht Theologe – der erfolgreiche Vermittler, der getreue Protokollant der Reformation. Bis heute steht seine Augsburger Konfession in jedem evangelischen Gesangbuch als das grundlegende Bekenntnis der evangelisch-lutherischen Kirchen. Vermutlich, so urteilte Siegfried Wiedenhofer im Lexikon für Theologie und Kirche (1998), «hat Melanchthon die Kirchenwerdung der Reformation stärker bestimmt als Luther». Er war nicht einfach ein zweiter Mann im Reformationsgeschehen, er war Luthers Pair.

Diese Bedeutung spiegelt sich freilich in der Melanchthonforschung nur unzulänglich wider. Das Schrifttum über den aus Bretten stammenden Gelehrten, obwohl in jüngster Zeit erheblich gewachsen, ist noch immer überblickbar und kann an Umfang weder mit der Lutherforschung noch mit den Studien über Calvin wetteifern. Während auf dem internationalen Markt ständig neue Lutherbücher erscheinen, während vor allem in der angelsächsischen Forschung Calvin als weltweit wirksamste Reformationsfigur ihren festen Platz hat, blieb Melanchthon lange Zeit im Hintergrund. Der einschlägigen Forschung fehlte es an der nötigen Infrastruktur. Noch in den sechziger Jahren war Melanchthons Wohn- und Sterbehaus in Wittenberg ein Heimatmuseum mit Zinnsoldaten (und etwas Melanchthon). Das Geburtshaus in Bretten lag als Erinnerungsstätte im Dornröschenschlaf. Vor allem bei den deutschen Lutheranern hatte Melanchthon als «Leisetreter», der angeblich Luthers Rechtfertigungslehre «verdorben» habe (Karl Holl) und der sowohl Katholiken wie Calvinisten allzu weit entgegengekommen sei, ein schlechtes Ansehen. Die Erforschung und die wissenschaftliche Edition seiner Werke standen erst in den Anfängen.

Neue Anstöße gab es freilich bald. Robert Stupperich, Inhaber des Lehrstuhls für Kirchengeschichte in Münster, gab von 1951 an eine Auswahl der Werke Melanchthons heraus, die bis 1975 auf sieben Bände anwuchs. Die vierte Tagung des Internationalen Lutherkongresses im Jahr 1961 – ebenfalls in Münster abgehalten, im 400. Todesjahr Melanchthons – widmete sich dem Thema «Luther und Melanchthon»; sie hatte spürbare Wirkungen auf die internationale Melanchthonforschung. Und seit den sechziger Jahren begann auf Initiative von Heinrich Bornkamm unter dem Dach der Heidelberger Akademie der Wissenschaften die Arbeit an der Edition der Briefe Melanchthons – ein Unternehmen, das schließlich in eine dauerhafte Melanchthon-Forschungsstelle mündete. Ihre Leitung und die Herausgabe des umfangreichen Melanchthon-Briefwechsels – ca. 9.750 Stücke! – wurden zur Lebensaufgabe des Theologen, Altphilologen und Paläographen Heinz Scheible. 12 Bände Regesten (mit Registern) und 16 Bände Textedition liegen inzwischen vor, 14 Bände sind in Vorbereitung. Nach dem altersbedingten Ausscheiden Scheibles leitet Christine Mundhenk die Heidelberger Forschungsstelle.

Heinz Scheible schrieb auch die erste wissenschaftlich fundierte Melanch­thon-Biographie. Sie erschien erstmals 1997 im Münchner Verlag C.H. Beck. Im Hinblick auf das Reformationsgedenken 2017 hat der Autor nun eine überarbeitete, durch Bilder und Kommentare, Nachweise und eine Zeittafel erweiterte und aktualisierte Fassung vorgelegt, die im Untertitel auch das Besondere des Reformators hervorhebt: «Melanchthon. Vermittler der Reformation. Eine Biographie» (München 2016).

In Melanchthons Briefwechsel tauchen mehr als siebentausend Personen auf. Es handelt sich, was die Zahl der Beteiligten angeht, um das breiteste personelle Quellenwerk der (deutschen) Reformationsgeschichte. Vieles musste erst in Biogrammen erschlossen werden. In den Texten wurden die Geschehensabläufe klarer als bis dahin deutlich. Das gilt besonders für die über Luthers Tod hinausreichende Zeit – immerhin 14 Jahre –, die Melanchthon noch als aktiv Handelnder, als theologisch wie kirchenpolitisch Beteiligter erlebt hat. Für diese Epoche interessierten sich lange Zeit nur wenige Forscher. Nach Scheibles Überzeugung waren jedoch gerade diese Jahre samt den in ihnen ausgetragenen Streitigkeiten, den Annäherungs- und Ausgleichsversuchen, den dauerhaften Trennungen zwischen den neu entstehenden Konfessionen, aber auch den Rissen innerhalb des evangelischen Lagers selbst für den Fortgang der Reformation in Deutschland und Europa entscheidend.

Kann man auf dieser Basis, gestützt auf die Originalbriefe Melanchthons und die Regesten und Biogramme der Editoren, eine Biographie erstellen? Es sollte im Grunde einfach sein, denn das Quellenmaterial ist unüberbietbar breit und dicht – ein großer Vorteil. Aber behält der Leser noch den Überblick, wenn ihm in einer Biographie so viele oft unbekannte Namen begegnen? Scheible ist auf diesen Einwand gefasst. «Melanchthon lebte nicht wie Hieronymus in der Klause, was er sich gelegentlich wünschte – er hat sein vielfältiges wissenschaftliches und literarisches Lebenswerk im Trubel einer Universität und als politischer Berater in bewegter Zeit geschaffen […] All dies muss in seiner Biographie sichtbar werden […] Dass Melanchthon als Mensch und als Denker nicht der Vergessenheit anheimfällt, dazu möchte diese Biographie beitragen» (323f ).

So schildert der Autor in einer faktengesättigten Darstellung die Lebensstationen des Brettener Gelehrten. Früh, fast noch im Knabenalter, macht sich Philipp Schwartzerdt – von seinem Mentor Reuchlin nach Humanistenart Melanchthon (= Schwarz-Erd) getauft – einen Namen in der lateinischen und griechischen Sprache, so dass er sogar die Aufmerksamkeit des Erasmus erregt. Im Judenbücherstreit steht er auf der Seite Reuchlins (eines entfernten Verwandten). Kaum zwanzigjährig veröffentlicht er seine Terenzausgabe, seine griechische Grammatik – Auftakt einer Vielzahl philosophischer, philologischer, theologischer und pädagogischer Schriften, unter denen auch Dichtungen nicht fehlen. Am 28. August 1518 hält der Einundzwanzigjährige – soeben auf eine neue humanistische Lektur der Universität zu Wittenberg berufen – seine Antrittsvorlesung in der dortigen Schlosskirche. Unter den Zuhörern ist auch Luther.

Scheible geht dem Verhältnis Luther-Melanchthon unter Einbeziehung aller zugänglichen Quellen nach. Er schildert unter der Überschrift «Verliebtheit» (177f ) die Anfangszeit des «begeisterten gegenseitigen Kennenlernens», der enthusiastischen Urteile übereinander; sie bildet die emotionale Voraussetzung für eine langjährige ertragreiche Zusammenarbeit – trotz bleibender Verschiedenheit der Charaktere und immer wiederkehrender wechselseitiger Irritationen. Spätestens seit 1519 nimmt Melanchthon offen Partei für Luther. Er wird zu einem der Wortführer der reformatorischen Theologie. Er ist es auch, der Luther nach dessen eigenem Zeugnis zur Bibelübersetzung auf der Wartburg anregt.

Zur Nagelprobe der Freundschaft wird der Streit zwischen Erasmus und Luther über die Willensfreiheit. Scheible zeigt, wie Melanchthon sich in diesem Streit zwar auf Luthers Seite stellt, jedoch im Verlauf der Auseinandersetzungen die in seinen eigenen frühen Vorlesungen und Schriften geäußerte Abwertung der Willensfreiheit und die einseitige Betonung der Prädestination zurücknimmt (186). Er bezieht in diesem Streit als Philosoph, der er geblieben ist, als Mitglied einer philosophischen Fakultät eine durchaus eigenständige, unabhängige Stellung. Auch die schließlich gefundene «reformatorische Lösung» geht auf ihn zurück: Im Artikel 18 des Augsburger Bekenntnisses habe Melanchthon, so Scheible, den Streit über die Willensfreiheit dialektisch «aufgehoben» und sei damit Luther wie auch dem Antipoden Erasmus entgegengekommen; dort heißt es, «dass der Mensch etlichermaß ein freien Willen hat, äußerlich ehrbar zu leben und zu wählen unter denen Dingen, so die Vernunft begreift; aber ohne Gnad, Hilf und Wirkung des Heiligen Geistes vermag der Mensch nicht Gott gefällig zu werden» (189).

Noch in seinem eigenen Testament hat Melanchthon Luther gehuldigt: Er habe von ihm, so sagt er, das Evangelium gelernt. Doch hat er auch die Grobheit und Heftigkeit des Freundes beklagt, unter der er oft zu leiden hatte. Am deutlichsten wird er in einem Brief an einen sächsischen Hofrat, geschrieben nach Luthers Tod, in dem der Satz steht: «Tuli servitutem paene deformem» (Ich ertrug eine fast entehrende Knechtschaft). Nicht ohne Verwunderung bemerkt Scheible zu diesem Satz: «War Melanchthon so naiv zu meinen, sein Urteil über Luther würde die Gegner nicht mit Häme und die Freunde mit Kummer erfüllen? Oder bezweckte er etwas, das wir nicht durchschauen? Auch wenn man sich ein Leben lang mit einem Menschen befasst, behält er seine Geheimnisse, die man nicht ergründen kann» (206).

Scheible gelingt es, einige Klischees auszuräumen, die sich im Lauf der Zeit mit der Person und dem Werk Melanchthons verbunden haben. So widerlegt er die Legende von der «Hilflosigkeit» Melanchthons gegenüber den «Zwickauer Propheten» – deren gefährlichen Spiritualismus habe der Meister sofort erkannt und abgewehrt. Auch auf die oft erörterte Frage, warum Melanchthon nach dem Baccalaureus biblicus nicht noch den theologischen Doktorgrad erwarb, hat er eine Antwort: Weil er dazu über die Sentenzen des Petrus Lombardus hätte lesen müssen, was er nicht wünschte – überhaupt weil er in der philosophischen Fakultät bleiben wollte, in der er zeitlebens seine Heimat sah.

Ein «Leisetreter», ein schwankender Vermittler sei Melanchthon nie gewesen – nicht auf dem Augsburger Reichstag, auch nicht im Adiaphora-Streit oder in späteren Religionsgesprächen. Wohl aber habe er – zeitweise ganz auf sich gestellt – Verhandlungsspielräume für sich in Anspruch genommen und angesichts realer Kriegsgefahren, die aus der konfessionellen Spaltung erwuchsen, intensiv nach Lösungen gesucht. Scheible plädiert dafür, vieles im Licht der heutigen Ökumene-Diskussion, aber auch angesichts der jüngsten innerevangelischen Annäherungen zwischen Lutheranern und Reformierten neu zu sehen und zu bewerten. So habe Melanchthon von Anfang an den Spaltpilz des Abendmahlsstreits zu überwinden versucht, der die Einheit der reformatorischen Bewegung gefährdete. Scheible sieht in seiner Annäherung an Bucer und die Schweizer geradezu eine Vorwegnahme der Leuenberger Konkordie in der Gegenwart. Aber auch in Richtung der alten – nachreformatorisch katholisch genannten – Kirche hat Melanchthon nach seiner Meinung Möglichkeiten der Verständigung offengehalten: so in der Rechtfertigungslehre, im Verständnis des Gesetzes, im Neuaufbau des (neuerlich an Aristoteles orientierten) akademischen Unterrichts – und ganz allgemein in der Betonung der philosophischen Ethik, die Melanchthon als Philosoph nie vernachlässigt sehen wollte, weil sie für das notwendige Zusammenleben der sündigen Menschen unentbehrlich war. (Hier sieht Scheible übrigens in der Gegenwart Hans Küng mit seinen Bemühungen um ein «Weltethos» in der Linie Melanchthons!)

Eine kritische Rezension seiner Melanchthon-Biographie hat Heinz Scheible selbst geschrieben. In der Einleitung seines Buches (10) bemerkt er, es sei «vermessen, ein fremdes Leben beschreiben zu wollen» – möglich sei allenfalls «eine chronistische Zusammenstellung aller bekannten Fakten aus Melanchthons Leben», wie er sie mit Hilfe des Regestenwerkes von Melanchthons Briefwechsel unternehmen konnte und auch unternommen habe. Und im Nachwort (323f ) gesteht er ein, es sei ihm nicht gelungen, wie ursprünglich geplant eine «Theologie Melanchthons […] gleichgewichtig neben die Lebensbeschreibung» zu setzen (eine souveräne Skizze des Problems hat er immerhin in der Theologischen Realenzyklopädie, Bd. 22 vorgelegt!). Solche Demut bewahrt den Biographen, der eine historische Persönlichkeit darstellt, vor dem Gestus triumphierender Aneignung. Melanchthon bleibt für Scheible in vieler Hinsicht ein Geheimnis, trotz aller Aufklärung und Annäherung – und nicht ohne Absicht stellt er das «Tuli servitutem» des Wittenbergers unübersehbar an den Anfang des Buches.

Heinz Scheibles Melanchthon-Buch beweist überzeugend, dass man mit präziser Nahsicht auf Details und mit der gebotenen Zurückhaltung bei Gesamturteilen eine vorzügliche Biographie schreiben kann, auch wenn dafür vom Leser Geduld und Beharrlichkeit verlangt werden. Dazu muss man sich freilich in vierzigjähriger Arbeit hingebungsvoll mit den einschlägigen Quellen beschäftigt haben. Über die damit erworbene Vertrautheit verfügt wohl unter den heutigen Melanchthon-Forschern Heinz Scheible ganz allein.

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