1. Einleitung: Ein erster Blick auf das Thema
Gelegentlich spukt ein Schreckgespenst durch theologische Diskurse: der so genannte Relativismus. Es wird viel von ihm geredet (meistens nichts Gutes), aber nur selten genauer hingesehen. Relativismus ist zu einem pejorativen Begriff geworden, dessen Konturen oft schemenhaft bleiben. Was jedoch zeichnet relativistische Positionen aus und worin liegt ihre theologische Relevanz?
Ein exponierter Vertreter der Kritik am Relativismus ist Papst Benedikt XVI./Joseph Ratzinger. Der Relativismus sei «zum zentralen Problem für den Glauben in unserer Stunde geworden», weil er nicht nur eine «Resignation vor der Unermeßlichkeit der Wahrheit» darstelle, sondern sich auch exklusiv «von den Begriffen der Toleranz, der dialogischen Erkenntnis und der Freiheit her»1 definiere, wodurch Wahrheitsansprüche, die über den Bereich des Partikularen hinausgehen, als intolerant und freiheitsfeindlich inkriminiert werden. Politisch gesehen gebärde sich der Relativismus zur unentbehrlichen Voraussetzung der Demokratie, indem er fordere, dass der Staat die Frage nach dem Wahren und Guten unbeantwortet lasse. «Der Begriff Wahrheit ist in die Zone der Intoleranz und des Antidemokratischen gerückt. Sie ist kein öffentliches, sondern nur ein privates Gut, bzw. ein Gut von Gruppen, aber eben nicht des Ganzen.»2 Konkret setzt Ratzinger sich in seiner Kritik am politischen Relativismus mit den Ideen Hans Kelsens auseinander. Kelsen hat in seiner 1920 erschienenen Schrift Vom Wesen und Wert der Demokratie dem «politischen Absolutismus», in dem es Programme gebe, die absolute Gültigkeit beanspruchen, das Ideal eines «politischen Relativismus» entgegen gestellt: «Auch die gegenteilige Meinung», so Kelsen, «muß man für möglich halten, wenn man auf die Erkenntnis eines absoluten Wertes verzichtet. Der Relativismus ist daher die Weltanschauung, die der demokratische Gedanke voraussetzt.»3 Die durchaus richtigen Aspekte, die in dieser These liegen, verdunkelt Kelsen durch einen Exkurs über den Prozess Jesu, in dem er Pilatus als vorbildlichen, relativistischen Demokraten darstellt.4 Für Ratzinger ist Kelsen der Vertreter einer politischen Philosophie, die die Freiheit vom Wahren und vom Guten entkoppelt und umgekehrt die Annahme, dass es etwas absolut Wahres und Gutes gebe, als freiheitsgefährdend einstuft.5 Im theologischen Bereich macht Ratzinger den Relativismus vor allem für eine Infragestellung der dogmatischen Lehrentwicklung – oder allgemeiner: der heilsgeschichtlich fundierten Wahrheitsansprüche des christlichen Glaubens – verantwortlich, wie sie sich in der pluralistischen Religionstheorie finden. «Das Absolute bzw. den Absoluten selbst», fasst Ratzinger die von ihm problematisierte Position zusammen, «kann es in der Geschichte nicht geben, nur Modelle, nur Idealgestalten, die uns auf das ganz Andere ausrichten, das in der Geschichte eben als solches nicht zu fassen ist. Es ist klar, daß damit Kirche, Dogma, Sakramente gleichfalls ihre Unbedingtheit verlieren müssen.»6
Mit Gespür für politische oder religiös einflussreiche Ansätze, die das Denken vieler Menschen auch jenseits von akademischen Fachdiskursen prägen, versucht Joseph Ratzinger, das Christentum als kritischen und auskunftsfähigen Gesprächspartner zu profilieren.7 Allerdings sind nicht alle theologischen Diskutanten so argumentationsfreudig wie er. Die Rede von der «Diktatur des Relativismus» verselbständigt sich bisweilen und dient allzu schnell zur Sammelbezeichnung für alle vermeintlichen Übel unserer Zeit. Oft wird durch die so entstandene Abwehrhaltung die Mühe gescheut, sich ein präziseres und wahrheitsgetreueres Bild der Ansätze zu machen, die unter dem Begriff des Relativismus zusammengefasst werden. Die folgenden Zeilen versuchen, den so genannten Relativismus aus theologischer Sicht ein wenig genauer zu konturieren.
2. Relativismus: Wogegen und was stattdessen?
So unterschiedlich die Ansätze, die als relativistisch bezeichnet werden, auch sein mögen, haben sie dennoch die Ablehnung einer bestimmten Erkenntnistheorie und Metaphysik gemeinsam. Unter Rückgriff auf eine Wendung des jüdischen Neuplatonikers Isaak Israeli definiert Thomas von Aquin den Wahrheitsbegriff durch die Formel der adaequatio rei et intellectus.8 Sie besagt, dass wahre Erkenntnis zustande kommt, wenn der Erkenntnis suchende Verstand (intellectus) und der zu erkennende Gegenstand (res) in ein Entsprechungsverhältnis treten. Dieses korrespondenztheoretische Wahrheitsverständnis fußt auf mehreren Voraussetzungen: Zunächst trivial klingend, aber keineswegs unumstritten, ist die Prämisse, dass es Gegenstände jenseits des Bewusstseins gibt, die so sind, wie sie sind, die also Existenz und eine bestimmte Beschaffenheit aufweisen, die ihnen in sich zukommt. Diese Annahme wird auch mit dem etwas unscharfen Begriff des Realismus gekennzeichnet. Die seinsmäßige Struktur der auch bewusstseinsunabhängig existierenden Wirklichkeit deutet Thomas im Rahmen des aristotelischen Hylemorphismus: Die Materie ist das, woraus etwas besteht, die Form gibt an, was etwas seinem Wesen nach ist. Die Form ist also ein Gestaltprinzip, das die Materie, die ohne Form ein abstraktes Was-auch-immer wäre, zu einem konkreten So-und-nicht-anders bestimmt. Durch die ratio ist der Mensch in der Lage, diskursiv zu denken, durch den Intellekt kann er Dinge begrifflich erfassen und erkennen. Die Tätigkeit des Verstandes konzipiert Thomas ebenfalls in enger Anlehnung an Aristoteles: Durch die Sinnesorgane vermittelt prägt sich in der Vorstellungskraft (der phantasia) des Menschen ein Abdruck der Form des zu erkennenden Gegenstandes ein, ähnlich wie die Gestalt eines Siegelrings sich heißem Wachs einprägen lässt.9 Der tätige Verstand (der intellectus agens) löst aus diesem sinnlichen Abdruck den geistigen Gehalt und stellt ihn dem möglichen Verstand (dem intellectus possibilis) vor,10 der – weshalb er als möglicher Verstand bezeichnet wird – in sich den geistigen Gehalt dessen aufnehmen kann, was er zu erkennen sucht. Wahre Erkenntnis kommt zustande, wenn der Mensch in seinem Verstand einen getreuen Abdruck des intelligiblen Gehalts der Form erhält,11 die dem Gegenstand außerhalb seines Verstandes eine Bestimmtheit verleiht, die auch bestehen würde, wenn sich kein Verstand auf ihn richtet.
Den relativistischen Ansätzen ist gemein, dass sie ein solches Verständnis von Wahrheit und Erkenntnis ablehnen. Philip E. Devine hat in seiner Studie zu Relativism, Nihilism and God vier Prämissen des Relativismus sowie die aus ihnen gezogenen Schlussfolgerungen dargestellt.12 Die erste Annahme bewegt sich im Schnittfeld von Sprachphilosophie und Erkenntnistheorie: Wenn jemand eine Behauptung aufstelle, setze er einen gewissen Maßstab (standard) voraus, nach dem seine Behauptung sich als wahr oder falsch zu erweisen habe. Dieser Prämisse fügt Devine zweitens die Beobachtung hinzu, dass Menschen nicht nur unterschiedliche, sondern sogar miteinander inkompatible Maßstäbe zugrunde legen, auch wenn sie eine Behauptung über ein und denselben Sachverhalt aufstellen. Bisweilen – so die dritte Annahme – seien diese Unterschiede des Maßstabs letztgültig (ultimate), weil es keinen absoluten Maßstab gebe, der gleichsam als Gottesstandpunkt entscheiden könnte, welcher der konkurrierenden Maßstäbe der richtige sei. Daraus folge viertens, dass man nicht sinnvoll denken könne (nonsense), dass nur einer der konkurrierenden Maßstäbe korrekt sei, weil es sich dann ja um den absolut richtigen Standard, dessen Existenz in der dritten Prämisse ausgeschlossen wurde, handeln würde. Daraus ergebe sich fünftens die Schlussfolgerung, dass die Annahme des einen und die Zurückweisung des anderen Maßstabs, der Behauptungen als wahr oder falsch erweisen könne, notwendigerweise ein willkürlicher Akt sein müsse («must of necessity be arbitrary»). Das entscheidende Charakteristikum des alethetischen (das heißt auf die Wahrheitsfrage bezogenen) Relativismus besteht über den Skeptizismus hinaus in einer Verknüpfung zwischen der Ebene der Erkenntnis und der des Seins: «Weil Wahrheit objektiv nicht erkennbar ist, gibt es keine objektive Wahrheit, nur Richtigkeit im Plural»13, so fasst Bernd Irlenborn die Konklusion zusammen, die er als relativistischen Fehlschluss bezeichnet, da die Beobachtung, dass von allen geteilte Kriterien oder Maßstäbe zur Beurteilung des objektiven Wahrheitsgehalts von Aussagen fehlen, nicht per se die selbst wiederum mit einem Wahrheitsanspruch auftretende These nach sich ziehen könne, dass es überhaupt keine objektive Wahrheit gebe.
Hans Jürgen Wendel zufolge versucht der neuere Relativismus, sich gegen solche Einwände zu immunisieren. Der Relativismus stellt – obwohl der Begriff die hier zugrunde gelegte Bedeutung erst im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert erhalten hat14 – im Kern eine Verarbeitung des dem Protagoras zugeordneten homo-mensura-Satzes dar, mit dem Platon sich bereits auseinandersetzte: Der Mensch sei das Maß aller Dinge – der seienden, dass sie sind, der nicht seienden, dass sie nicht sind.15 Laut Wendel habe die Position, die er als klassischen Relativismus bezeichnet, die genannte Auffassung, dass der Mensch das Maß vom Sein und Nichtsein der Dinge bilde, im Sinne eines strikten Idealismus gedeutet: Was ist oder nicht ist, hängt vom menschlichen Denken, Bewusstsein oder Erkennen ab. «Meiner Ansicht nach», so Wendel, «ist die Pointe des modernen Relativismus gerade in dieser Relativierung eines strikten Idealismus zu sehen»; der moderne Relativismus enthalte sich «jeglicher übergreifender Wahrheitsansprüche» und akzeptiere «einen erkenntnistheoretischen Naturalismus», weshalb auch seine eigenen erkenntnistheoretischen
Ansichten keinen apriorischen Status beanspruchen. Sie sind Teil eines Hypothesensystems, das geschaffen ist, insgesamt die «Welt» zu erfassen. D.h. auch relativistische Doktrinen sind selbst immer nur Teil eines bestimmten Hypothesensystems. Es kann also prinzipiell alternative Hypothesensysteme geben, die ihrerseits epistemisch als gleichermaßen gerechtfertigt gelten müssen. Indem die Vertreter eines solchen Relativismus bereit sind, alle Ansprüche auf eine zureichende erkenntnistheoretische Begründung außer Kraft zu setzen und damit der klassischen erkenntnistheoretischen Problematik zu entgehen, entfällt auch für sie das Problem einer Letztbegründung, also das Problem, die relativistische Lehre selbst durch irgendeine absolute, nicht wieder begründbare These, die jene erst etabliert, einzuführen, wodurch sich der Kern der relativistischen Position als selbstwidersprüchlich erweisen würde.16
Susan Haack hat im Rahmen ihrer Versuche, einen neuen oder «unschuldigen Realismus» zu entwickeln, versucht, verschiedene Spielarten des Relativismus zu systematisieren, indem sie klärt, «was als relativ in Bezug auf was dargestellt wird und in welchem Sinne von ‹relativ›»17 dies zu verstehen sei. Dabei entwickelt Haack folgendes Schema:
1. Bedeutung
2. Referenz
3. Wahrheit
4. Metaphysische Verpflichtungen
5. Ontologie
6. Realität
7. Epistemische Werte
8. Moralische Werte
9. Ästhetische Werte18
… IST RELATIV AUF …
a. Sprache
b. Begriffsschema
c. Theorie
d. Wissenschaftliches Paradigma
e. Version, Darstellung, Beschreibung
f. Kultur
g. Gemeinschaft
h. Individuum
Haacks Systematisierung erlaubt es, verschiedene Formen von Relativismus zusammenzustellen: Kombination (1-a) beschreibt die – wenig spektakuläre – These, dass Bedeutung stets nur relativ zu einem bestimmten sprachlichen Kontext ausgesagt werden könne, Kombination (8-f-g) geht – schon kontroverser – davon aus, dass moralische Werte sich nur in Relation auf eine spezifische Gemeinschaft als Trägerin einer bestimmen Kultur bestimmen lassen, Kombination (2-5-c) besagt, dass nicht nur eine Relativität der sprachlichen Bezüge, sondern auch eine Relativität der Ontologie vorliege mit Blick auf den theoretischen Rahmen, in dem sie formuliert wird. Letztgenannte Auffassung wird von Willard Van Orman Quine vertreten und soll als eine der konsequentesten Ausprägungen relativistischen Denkens exemplarisch skizziert werden. Haacks Systematisierung entstammt einem vornehmlich analytisch geprägten Interesse an der Philosophie, weshalb – wenn man so sagen kann – kontinentaleuropäisch ausgerichtete Ansätze sich darunter nicht ohne weiteres subsumieren lassen. Jean-François Lyotards Problematisierung eines monolithischen Vernunft- und Diskursbegriffs wird in Haacks Raster nicht präzise erfasst, wirkt aber in Gestalt der als postmodern bezeichneten Philosophie stark auf das Bewusstsein der Gegenwart ein. Lyotards Ansatz soll daher ebenfalls zu Wort kommen.
3. Zwei Spielarten des Relativismus: analytisch und kontinental
a) W. V. O. Quine: Ontologische Relativität im Spannungsfeld von Empirie, Sprache und Theorie
Auf Willard Van Orman Quine, den «Nestor der amerikanischen Philosophie»19, nehmen fast alle analytisch geprägten Entwürfe in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – sei es zustimmend, sei es ablehnend – Bezug. Aufschlussreich für Quines Problematisierung des Verhältnisses von Erfahrung und Sprache ist ein von ihm gern herangezogener, konstruierter Fall: Ein Linguist versucht die Sprache eines Eingeborenenstamms zu lernen, indem er beobachtet, was die Eingeborenen in verschiedenen Situationen sagen, um die gehörten Laute mit der beobachteten Situationen in Verbindung zu bringen. Als ein Hase vorbeihoppelt und die Eingeborenen gavagai rufen, kommt der Linguist zu dem Ergebnis, dass gavagai in der Eingeborenensprache so viel wie ‹Hase› im Deutschen bedeutet. Diesen Schluss hält Quine für problematisch, weil der Linguist «in Wirklichkeit seine eigene Denkweise»20 auf den Zusammenhang zwischen sinnlichem Reiz und sprachlichem Laut überträgt, ohne genau zu verstehen, welche Annahmen mit dem Ausdruck gavagai verbunden sind und was damit der theoretische Bezug dieses Wortes ist. Die Eingeborenen würden beim Vorbeilaufen eines Hasen auch gavagai rufen, wenn sie damit nicht einfach das verbinden, was im Deutschen als ‹Hase› bezeichnet wird oder was sich mit ‹Sieh, ein Hase!› beschreiben ließe, sondern sie könnten – so Quine – mit gavagai auch so viel wie ‹zeitliches Stadium eines Hasen›, ‹Hasentum›, ‹nicht abgetrennter Hasenteil›, ‹es häselt›, ‹ganzer Kosmos minus Hase› oder ‹Menge mit dem einzigen Element Hase› meinen. Anders gesagt: Auch wenn die Worte ‹Hase› und gavagai auf die gleichen sinnlichen Reize hin ausgesprochen werden, lässt sich nicht feststellen, worauf sie sich genau beziehen, welche Annahmen sie implizieren oder welche Weltsicht ihnen zugrunde liegt. Quine bezeichnet diesen Umstand als die «Unerforschlichkeit des Bezugs». Das gavagai-Beispiel soll die Annahme eines repräsentativen Verständnisses der Sprache in Frage stellen: Ein Wort bildet nicht einfach Gegenstände ab, sondern ist für Quine stets in umfassendere Theorien eingebettet, von denen jede in gleichem Maße mit empirischen Daten korrelieren könne. Quine geht davon aus, «dass jegliche zwischenkulturelle Korrelation von Wörtern und Wendungen und so auch von Theorien einfach eine unter mehreren empirisch zulässigen Korrelationen» sein könne; «in keiner einzigen Hinsicht ist eine solche Korrelation die allein richtige oder allein falsche.»21
Diesen Zusammenhang zwischen Erfahrung, Sprache und Theorie betrachtet Quine auch auf ontologischer Ebene. Durch die beschriebene «Unerforschlichkeit des Bezugs» verliere «der sprachliche Bezug seinen Sinn. Nicht zu Unrecht; er ist Unsinn, es sei denn, man relativiert ihn auf ein Koordinatensystem. In diesem Relativitätsprinzip liegt die Lösung unseres Dilemmas.»22 Wie genau sich Quine diese Lösung vorstellt, ist mit einigen Unklarheiten behaftet. Zunächst fordert er die Entwicklung einer Rahmensprache und einer Rahmentheorie, in denen der Sinn des sprachlichen Bezugs genauer erfragt und bestimmt werden kann. Im Kontext des Hasen-Beispiels ließe sich aus Sicht einer Rahmensprache erfragen: In welchem Sinn bezieht sich gavagai auf Hasen? Der damit in Gang gesetzte Regress, der in einer Antwort besteht, die wiederum im Kontext der Rahmensprache zu hinterfragen wäre, was wiederum eine Antwort evoziert, die erneut zu befragen wäre, wird in der Praxis dadurch zu einem Ende gebracht, dass Sprecher ihre «Muttersprache nicht mehr hinterfragen und ihre Wörter wörtlich verstehen».23 Auf theoretischer Ebene kann es für Quine einen solchen Reflexionsstopp allerdings nicht geben, weil es den absoluten Ort nicht gibt, von dem aus man feststellen könnte, was ein Gegenstand jenseits alles Relativen eigentlich ist. Dies führt Quine «zu der relativistischen These, dass es sinnlos ist zu sagen, was die Gegenstände einer Theorie sind, es sei denn, wir beschränken uns darauf zu sagen, wie diese Theorie in einer anderen zu interpretieren oder zu reinterpretieren ist.»24 Diese andere Theorie ist das, was Quine als Rahmentheorie bezeichnet, welche auf eine Objekttheorie angewandt wird. Auch wenn eine Rahmentheorie, je nach dem, was sie leisten soll, bestimmte Anforderungen erfüllen muss, die in ihrem Umfang und ihrer Komplexität die Objekttheorie übersteigen können, legt Quine großen Wert auf die Feststellung, dass auch die Rahmentheorie über keine universelle Prädikation verfügt, die aussagen könnte, was die Gegenstände innerhalb der Objekttheorie wirklich und im absoluten Sinne bezeichnen. Die Rahmentheorie ist (einfach gesprochen) keine bessere Theorie als diejenige, die sie interpretiert, sondern eine andere Theorie, die derjenige anwendet, der eine Objekttheorie verstehen will. Daher gilt für Quine, dass «ontologische Fragen, absolut genommen, sinnlos»25 sind.
b) J.-F. Lyotard: Der Untergang der großen Erzählungen
Es ist umstritten, ob Jean-François Lyotard überhaupt im Kontext des Relativismus einzuordnen ist. Wolfgang Welsch etwa besteht darauf, dass Lyotards Denken als Pluralismus zu verstehen sei und eine Etikettierung von Lyotards Ansatz als Relativismus «auf mentaler Bequemlichkeit und Arroganz»26 beruhe – ein Urteil, das niemand gern auf sich zieht. Wie lässt sich dennoch eine Thematisierung Lyotards im Kontext des Relativismus rechtfertigen? Wenn von Relativismus die Rede ist, wird dies oft als Attacke empfunden, gegen die es sich zu verwahren gilt; die Qualifizierung einer Theorie als relativistisch wird schnell als «Vorwurf des Relativismus»27 aufgefasst. Daran ist der plakative Umgang, der innerhalb der Theologie mit dem Relativismusbegriff bisweilen gepflegt wird, nicht unschuldig. Es geht hier jedoch nicht darum, dem Relativismus den Ketzerhut aufzusetzen, sondern ihn als theologischen Gesprächspartner kritisch zu profilieren. Wenn man nun den Relativismus – wie eingangs erläutert – im Sinne Philip Devines als eine Position versteht, die ihren Ausgang von der These nimmt, dass es im Widerstreit divergierender Wahrheitsansprüche keinen Meta-Maßstab gibt, der letztgültig entscheiden könnte, was wahr oder falsch ist, dann trifft dies haargenau eine Schlussfolgerung, die auch Lyotard aus seiner Analyse unterschiedlicher Diskursarten zieht. Es ist daher – auch jenseits mentaler Bequemlichkeiten – gerechtfertigt, ihn in diesem Kontext als kontinentalphilosophischen Exponenten einer zumindest im definierten Sinne relativistischen Theorie zu Wort kommen zu lassen. So sieht auch Bernd Irlenborn Lyotards «Kritik an einem starken Modell von Vernunft» als eine Spielart des «Relativismus bezüglich der Vernunft».28 Allerdings darf nicht verschwiegen werden, dass die relativistischen Brechungen, die Lyotard beschreibt, selbst an manchen Stellen wiederum anti-relativistisch durchbrochen werden.
In der Entwicklung des abendländischen Denkens sind die Begriffe der Erkenntnis und der Einheit eng verbunden. So ordnet Immanuel Kant in der Kritik der reinen Vernunft dem Verstand die Aufgabe zu, die Vielfalt der Gegenstände zu einer Einheit der Begriffe zu ordnen, während die Vernunft als das Vermögen der Ideen sich wiederum auf die Vielfalt der durch den Verstand gebildeten Begriffe richtet, um sie zu einer Einheit der Idee zusammenzuführen. Gott erscheint in diesem mehrfach gestuften Weg von der Vielfalt zur Einheit als regulative Idee, die dem Denken und Erkennen des Menschen «die größte Einheit neben der größten Ausbreitung»29 vor Augen stellt, indem sie als focus imaginarius dazu anleitet, zu immer größerer Einheit emporzusteigen, welche ihr transzendentales Ideal letztlich in der Einheit Gottes findet. Lyotards Denken lässt sich als konsequenter Versuch verstehen, dem Streben nach immer höherer Einheit eine Vielfalt entgegenzusetzen, die sich nicht auf ein letztes Einheitsmoment reduzieren lässt. Lyotards Ansatz stellt, so Wolfgang Welsch, «einen Kulminationspunkt der Entwicklung von Einheit zu Vielheit dar. Weiter als er [sc. Lyotard] wird man das Vielheitstheorem nicht treiben können.»30 Lyotard geht davon aus, dass unterschiedliche Diskursarten und die in ihnen zur Geltung kommenden, verschiedenen Formen von Rationalität es nicht erlauben, eine auf immer größeren Überblick zielende Vernunft auf sie anzuwenden. Die Annahme einer kontext- und diskursunabhängigen, letztlich omnikompetenten Vernunft ist für Lyotard lediglich die verkappte Ausbreitung einer diskursspezifischen Rationalitätsform auf andere, ihr fremde Diskurse, mit dem Ziel, Identitäten herzustellen, wo eigentlich Differenzen beachtet werden müssten. Diesen Vorgang bezeichnet Lyotard als Verwirrung der ‹Vernünfte› oder der Vernunftarten (la confusion des raisons).31 Die Hegemonie eines bestimmten Vernunftbegriffs über andere Formen der Rationalität wird für Lyotard durch so genannte Meta-Erzählungen gerechtfertigt. Dabei handelt es sich um einheitsstiftende Entwürfe, die das Denken normieren und den erkenntnismäßigen Wert des Einzelteils daran festmachen, wie sich dieses zum Großen und Ganzen verhält, das die Meta-Erzählung zu deuten versucht. Eine in der Moderne besonders einflussreiche Meta-Erzählung ist für Lyotard der Gedanke der Emanzipation des Subjekts, wie er in der Aufklärung formuliert wurde. «Aufklärung», so beantwortet Kant die Frage des angesichts vermeintlich religionsfeindlicher Umtriebe aufgebrachten Pfarrers Johann Friedrich Zöllner in der Berlinischen Monatsschrift, «ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit.»32 Die überspannende Zielsetzung der Aufklärungsepoche besteht also darin, Menschen zu befähigen, aus ihrer Unmündigkeit auszubrechen. Vernünftig ist innerhalb dieser Meta-Erzählung, wer selbst denkt, und gut ist, was den Menschen zum Selbstdenken anleitet. Den Emanzipationserzählungen kommt daher, so Lyotard, eine «Legitimationsfunktion» zu;
sie legitimieren Institutionen sowie soziale und politische Praktiken, Gesetzgebungen, Ethiken, Denkweisen, Symboliken. Im Unterschied zu den Mythen finden sie diese Legitimität aber nicht in ursprünglichen, «begründenden» Akten, sondern in einer einzulösenden Zukunft, das heißt in einer zu verwirklichenden Idee. Diese Idee (der Freiheit, der «Aufklärung», des Sozialismus, der allgemeinen Bereicherung) hat legitimierenden Wert, weil sie universell ist. Sie verleiht der Modernität ihren charakteristischen Modus: Das Projekt, das heißt den auf ein Ziel gerichteten Willen.33
Lyotard sieht diesem Willen eine ambivalente Struktur eingeschrieben. Ohne sich in eine Epoche vor der Moderne oder vor der Aufklärung zurückzusehnen, kritisiert er, dass die Aufklärung eine ganz spezifische Rationalitätsform – nämlich die wissenschaftlich-kognitive Vernunft (la raison cognitive) – zu einer, wie Welsch es formuliert, «Monopolrationalität» stilisiert hat, indem sie «die wissenschaftliche Rationalität zur umfassenden Rationalität erklärt, welche die anderen Ordnungen durchformen und zur Vollendung führen solle».34 Auch Fragen, wie die, was das Wahre oder das Gute schlechthin auszeichnet, die in ihrer vermeintlichen Universalität kontextunabhängig erscheinen, sind für Lyotard abhängig von der ganz spezifischen Erzählung, innerhalb derer sie gestellt und beantwortet werden.35 Wahrheit als absolute gibt es nicht, sondern nur Wahrheit in Bezug auf einen Diskurs und eine mit ihm verbundene Rationalitätsform. Umgekehrt gilt: Wo ein Wahrheitsanspruch mit Absolutheit erhoben wird, stilisiert sich eine Erzählung zu einer alle anderen überragenden und normierenden Meta-Erzählung – einen Akt, den Lyotard als repressiv brandmarkt.
Das Charakteristikum der Postmoderne sieht Lyotard als Abgrenzung von den totalisierenden Tendenzen, die er der Moderne zuordnet, in einer «Skepsis» oder – präziser übersetzt und theologisch nicht irrelevant – im «Unglauben gegenüber den Metaerzählungen»36 (l’incrédulité à l’égard des métarécits). An die Stelle des Großen und Ganzen tritt die Vielfalt verschiedener Diskursformen, die sich nicht aufeinander reduzieren lässt. Die Folge ist eine intellektuelle Entmonopolisierung der Instanzen, die Lyotard zufolge in der Moderne noch das Große und Ganze gesichert zu haben scheinen: Das Vernünftige schlechthin, das Wahre überhaupt und das Gute an sich gibt es für Lyotard in der Postmoderne nicht mehr, sondern nur eine Vielfalt von Rationalitätsformen, Wahrheiten und Vorstellungen über das Gute, die nicht zu einer umfassenden Synthese aufgelöst werden können, sondern in ihrer Differenzhaftigkeit nebeneinanderstehen. Lyotard beschreibt diesen Pluralismus durch Stichworte, wie «Inkommensurabilität, Heterogenität, Unstimmigkeit, die Hartnäckigkeit der Eigennamen, das Fehlen eines höchsten Gerichts»37. An die Stelle der Suche nach einer übergeordneten Vernunft setzt Lyotard die Analyse von Sprachspielen und Diskursarten, die nach ihren je eigenen Maßstäben betrachtet werden müssen.38 Auch Lyotard erläutert seine These durch eine Anekdote: Der Sophist Protagoras, so wird überliefert, vereinbarte mit seinem Rhetorikschüler Euathlos, dass dieser ihn erst für seinen Unterricht bezahlen müsse, wenn er einen Prozess vor Gericht gewonnen habe. Gewinnt Euathlos nie einen Rechtsstreit, braucht er also seinem Lehrer nichts zu bezahlen. Eines Tages klagt Protagoras sein Honorar ein. Wenn Protagoras den Rechtsstreit um das Honorar gewinnt, muss Euathlos bezahlen, weil er der im Rechtsstreit Unterlegene ist und dem Protagoras das Geld zugesprochen wurde. Wenn Euathlos aber den Prozess gegen Protagoras gewinnt, muss er ebenfalls bezahlen, weil dann die vereinbarte Bedingung eingetreten ist, unter der das Honorar fällig wird: Euathlos hätte seinen ersten Prozess gewonnen.39 Welche der streitenden Parteien hat nun Recht und welche Argumentation ist die vernünftige? Lyotards Antwort: Im umfassenden Sinne lässt sich das von keiner der Parteien sagen und mit Blick auf ihre jeweiligen Diskursarten haben beide Recht. Die Höchstform der Differenz zwischen zwei Diskursarten bezeichnet Lyotard als Widerstreit (le différend). Darunter versteht er einen
Konfliktfall zwischen zwei Parteien (mindestens), der nicht gelöst werden kann, weil eine Urteilsregel fehlt, die auf beide Argumentationen anwendbar ist. Dass die eine Argumentation legitim ist, impliziert nicht, dass die andere es nicht wäre. Wenn man aber dieselbe Urteilsregel unterschiedslos auf die eine wie die andere anwendet, um ihren Widerstreit zu lösen, als ob es sich um einen bloßen Rechtsstreit [un litige] handle, tut man einer der beiden Argumentationen Unrecht (mindestens einer, und beiden, wenn keine diese Regel anerkennt).40
Was wahr oder falsch ist, lässt sich also nur relativ zu dem Diskurs, in dem die Begriffe thematisiert werden, klären. Daraus ergibt sich aber auch das anti-relativistische Moment von Lyotards Position: Die Heterogenität der Diskurse ist unbedingt zu achten und darf nicht mit Gewalt auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden. Insofern ließe sich sagen, dass Lyotards Differenzdenken im Dienst einer Diskursethik steht, die nicht darin besteht, unterschiedliche Positionen auf ein gemeinsames Verständnis über das Wahre und Gute zu bringen, sondern darin, sie in ihrer Eigenart ernst zu nehmen und stehen zu lassen.41
4. Die Theologie zwischen atheistischem Absolutismus und kritischem Relativismus
Auch wenn sich der Relativismus theologisch nicht vereinnahmen lässt, legen die Skizzen zu Quine und Lyotard nahe, dass der Relativismus nicht schlechthin ein Gegenspieler des Gottesglaubens ist, sondern einen bestimmten Aspekt problematisiert, der Religionen meist eigen ist: den Exklusivitäts- und Allgemeinheitsanspruch. Auch wenn Quine eine – so der Titel eines Aufsatzes – Naturalisierte Erkenntnistheorie vertritt und Gott in seiner philosophischen Theorie keinen Ort hat,42 lassen sich die theologischen Folgen von Quines ontologischem Relativismus durchaus ambivalent deuten. Quines These, dass ein und dasselbe empirische Datum in den Kontext ganz verschiedener, sich sogar ausschließender Theorien eingebettet werden kann, die allesamt nur an ihren Rändern mit der Erfahrung zu tun haben, kann die Legitimität einer Theorie, auf deren Grundlage die Erfahrung im Licht des Gottesglaubens gedeutet wird, nicht grundsätzlich in Frage stellen. Man könnte zwar argumentieren, dass der ‹Gegenstand› Gott innerhalb einer religiösen Theorie sich in keine Rahmentheorie eines areligiösen Menschen übersetzen lässt und daher für diesen keine Plausibilität gewinnt; das wäre aber kein Grund, die Theorie, in der Gott vorkommt, für falsch zu erklären, weil es nach Quine keine absolute Metatheorie gibt, von deren kontextlosem Ort aus man Theorien als absolut richtig oder absolut falsch erweisen könnte. Die Mehrdeutigkeit menschlicher Erfahrung, von der Quine ausgeht, öffnet also auch der Religion einen legitimen Raum, sich dem nach Sinn und Verstehen suchenden Menschen als Deutekategorie seiner Erfahrung anzubieten. Damit setzt Quine sich von radikal empiristischen Strömungen ab, denen er vorwirft, selbst auf dogmatischen Annahmen zu beruhen. Quine kritisiert einen Reduktionismus, der davon ausgeht, dass jede sinnvolle Aussage «äquivalent zu einem logischen Konstrukt ist, das aus Termen besteht, die sich auf unmittelbare Erfahrung beziehen».43 Für Quine sind es nicht einzelne Sätze einer Theorie, sondern die Theorie als ganze, die sich vor der Erfahrung zu bewähren hat. Dabei tritt die vermeintlich auf dem Gedanken der Analytizität beruhende Logik nicht als rein apriorische Größe in Erscheinung, sondern ebenfalls als durch die Erfahrung modifizierbar. Mit dieser strittigen These erweist sich Quine, so die Deutung von Richard Rorty, als «häretische[r] Anhänger Russells».44 Aus theologischer Sicht ist aufschlussreich, dass Quine physikalischen Gegenständen innerhalb seiner Theorie keine andere epistemologische Stellung zugesteht als den Göttern Homers innerhalb einer mythischen Theorie. Auch wenn Quine es nicht für plausibel hält, an Homers Götter zu glauben, unterscheidet sich für ihn das epistemologische Fundament (epistemological footing) physikalischer Objekte und der Götter nur dem Grade, nicht dem Wesen nach (only in degree and not in kind).45 Das macht Religion für Quine zu einer schlecht begründeten, aber nicht zu einer epistemisch illegitimen Theorie.
Deshalb ist es – mit Blick auf manch innerkirchlichen Diskurs – nicht gerechtfertigt, den Relativismus als Inbegriff vermeintlich moderner oder postmoderner Religionsfeindlichkeit auszumachen. Der Relativismus ist nicht zu verwechseln mit höchst aggressiven, im Gewand eines pseudo-wissenschaftlichen Absolutismus auftretenden Formen des Atheismus, wie ihn etwa Richard Dawkins zu fragwürdiger Popularität gebracht hat. Der Relativismus stellt nicht religiöse Haltungen an sich in Frage, sondern problematisiert deren Ansprüche, verbindlich und einheitlich für alle zu klären, was das Wahre und das Gute im letzten Sinne ausmacht. Religiöses Denken heute befindet sich daher in einer doppelten, geradezu widersprüchlichen Gemengelage, die genaue Unterscheidung erfordert: Es hat sich auf der einen Seite mit einem Absolutismus, der jede Form des Gottesglaubens als delirienhaften Wahn abtut, und auf der anderen Seite mit einem Relativismus, der die Berechtigung exklusiv-universaler Wahrheitsansprüche hinterfragt, auseinanderzusetzen. Beide Strömungen stellen substantielle Anfragen an das Selbstverständnis christlichen Glaubens, dürfen aber nicht undifferenziert in einen Topf geworfen werden, weil es sich beim anti-religiösen Absolutismus und beim religionskritischen Relativismus selbst wiederum um konkurrierende Strömungen handelt. Während religiöse Menschen für Dawkins entweder dumm sind, weil sie sich den Erkenntnissen der Naturwissenschaften verschließen,46 oder psychologisch behandlungsbedürftig erscheinen, in jedem Fall aber nicht als ernstzunehmende Gesprächspartner gelten können, ließe sich eine derartige Herangehensweise im Kontext von Lyotards Diskurstheorie nicht rechtfertigen. Lyotard rechnet mit der Möglichkeit, dass eine Partei im Widerstreit ihre Position noch nicht klar definiert hat, was den Widerstreit zu einem «instabilen Zustand» macht, einem Zustand, «in dem etwas, das in Sätzen ausgedrückt werden muss, noch nicht in Sätzen ausgedrückt wurde. Dieser Zustand bringt Schweigen mit sich, das als ein negativer Satz zu verstehen ist, aber er ruft auch nach Sätzen, die im Prinzip möglich sind. Was diesen Zustand anzeigt ist das, was man normalerweise das Gefühl nennt. ‹Man findet keine Worte›.»47 Die argumentative oder sprachliche Verlegenheit einer Seite (z.B. religiöser Menschen gegenüber der aggressiven Kritik intellektuell vermeintlich überlegener Atheisten) berechtigt die andere, sich als stärker betrachtende Seite noch lange nicht, ihre eigenen, alles andere als voraussetzungslosen Rationalitätsvorstellungen auf den als unterlegen Erscheinenden zu übertragen. Lyotards relativistische Vernunfttheorie wird durch ihre anti-relativistische Diskursethik der unbedingten Achtung von Differenzen geradezu zu einem Schutzraum religiöser Überzeugungen. Während die Religion vonseiten eines aggressiv auftretenden, atheistischen Absolutismus von vorneherein als irrational, unterlegen und des Lichts der aufklärenden Vernunft bedürftig angesehen wird, ließe sich mit Lyotard solcher Eifer als eine Form von Gewalt entlarven, dem er aufseiten der vermeintlich Unterlegenen entgegenhält: Zeugen «wir für das Nicht-Darstellbare, aktivieren wir die Differenzen, retten wir die Differenzen, retten wir die Ehre des Namens.»48
5. Ausblick
Das vorgetragene Plädoyer zugunsten einer abwägenden Wahrnehmung der vielschichtigen Ansätze, die als Relativismus bezeichnet werden, versteht sich nicht als eine Werbeschrift zugunsten des Relativismus. Theologie kann, sofern sie christlich bleiben will, nicht in einem konsequent relativistischen Denkrahmen betrieben werden. An guten Argumenten gegen den Relativismus fehlt es nicht: Bernd Irlenborn hält den «Standardeinwand» gegen den Relativismus, demzufolge dieser «objektive Wahrheit voraussetzt, wenn er behauptet, es gebe keine objektive» Wahrheit, für «das beste Argument gegen den normativen Wahrheitsrelativismus».49 Armin Kreiner gibt zu bedenken, dass es dem Relativismus nicht gelinge zu klären, was eigentlich unter dem Begriff der relativen Wahrheit zu verstehen sei. Der Relativismus setze auf der einen Seite «die Einheit der Welt voraus, da die Rede von der Relativität der Wahrheit nur Sinn ergibt, wenn divergierende Geltungsansprüche über ein und denselben Gegenstand vorliegen». Wenn die Welt aber eine Einheit bildet, kann es für Kreiner «auch nur eine objektiv wahre Beschreibung dieser Welt geben, die zwar als solche nicht notwendig feststellbar, die aber dennoch prinzipiell möglich sein muß.» Geht der Relativismus auf der anderen Seite von einer Vielheit der Welten aus, lasse sich ebenfalls nicht klären, was unter der Relativität der Wahrheit zu verstehen sei, denn «Wahrheitsansprüche, die von verschiedenen Welten handeln, sind nicht miteinander vergleichbar und eo ipso auch nicht relativ, da die Behauptung der Relativität einen irgendwie gemeinsamen Bezugsrahmen voraussetzt.»50 Auch für Hans Jürgen Wendel ist die These, dass es Wahrheit nur in Abhängigkeit «von den Auffassungen von Subjekten oder vom Rahmenwerk theoretischer Systeme» gebe, nicht konsistent:
Auch wenn in der subjektunabhängigen Welt des Relativisten andere Personen vorkommen, so ist doch durch ihn im vorhinein festgelegt, daß für die Subjekte seiner subjektrelativen Welt Wahrheit mit dem Vorliegen bestimmter Überzeugungen äquivalent ist. D.h. innerhalb und für seine subjektunabhängige Welt ist die Wahrheit zumindest der von ihm aufgestellten relativistischen These genauso von den Auffassungen der in dieser Welt vorkommenden Subjekte unabhängig wie die Wahrheit von Aussagen im Falle des Realisten unabhängig davon ist, was irgend jemand darüber meint.51
Kurzum: Der Relativismus wirft Probleme auf, denen sich die christliche Theologie im Vertrauen auf die Belastbarkeit ihrer eigenen Überlieferung getrost stellen kann. Wesentliches Merkmal dieser Überlieferung und tieferer Grund ihrer Belastbarkeit ist aber die Fähigkeit zur Differenzierung, die der Theologie auch im Dialog mit dem vermeintlichen Schreckgespenst des Relativismus nicht verloren gehen darf. Auch hier gilt es, bei aller kritischen Distanz, «jenen Vorschuss an Sympathie, ohne den es kein Verstehen gibt»52, aufzubringen.