Glück ist immer der Moment davor.
Judith Hermann1
Der Erzähler Christoph Ransmayr ist ein Erkunder der terra incognita. Seine Geschichten stammen aus geographischen und zeitlichen Unbekanntheitszonen, sind aber nicht selten verwoben mit historischen Ereignissen und Personen. So auch in Cox oder der Lauf der Zeit, dem neuen Buch von Ransmayr, das seine Leser tief ins vormoderne China eintauchen lässt.2 Der britische Uhrmacher James Cox, für seine fantastischen Automaten und Zeitmesser weithin bekannt, konstruierte Mitte des 18. Jahrhunderts eine barometrische, von Schwankungen des Luftdrucks angetriebene Uhr, die den Erfindertraum des perpetuum mobile verfolgt. Daran anknüpfend entwickelt Ransmayr einen philosophischen Abenteuerroman, in dessen Zentrum Probleme der Zeitmessung stehen. Bei der Lektüre hört man förmlich die Uhren ticken. Der Autor arbeitet mit feinmechanischer Präzision: Wie die vorherigen Romane (es ist erst der fünfte in gut 30 Jahren) muss man diesen gemächlich lesen, nicht zuletzt wegen des opulenten Stils und der vielschichtigen Dramaturgie seines Satzbaus.
Alister Cox heißt im Roman der Uhrmacher, den der chinesische Kaiser Qíanlóng in die Verbotene Stadt holen lässt. Dort möge er ihm seine Kunstfertigkeit zu Diensten machen und ihn mit hochkomplexen Zeitmessgeräten erfreuen. Der Kaiser, eine gottgleiche Gestalt, dessen Kult keine Ungläubigen duldet und der mit einem Augenzwinkern den Tod seiner Untertanen verfügen kann, ist kein Auftraggeber wie jeder andere; die Titel «Herr der zehntausend Jahre», der «Unsterbliche», «Unbesiegbare», der «Himmelssohn» und «Herr über Himmel und Erde» trägt er nicht umsonst. Es ist charakteristisch für diese politische Theologie mit ihren streng zeremoniellen Abläufen, dass der Allerhöchste stets unsichtbar bleibt – für den größten Teil des Hofstaats und ohnehin für das Volk – und doch alles sieht: er ist allmächtig, allwissend, allgegenwärtig. Die Geschichte steht daher von den ersten Seiten an unter unheilvollen Vorzeichen, weil zwischen Cox und Qíanlóng eine Konkurrenz entsteht: Schon die Ankunft des englischen Großseglers im chinesischen Hafen, wo zur Stunde ein grausames Hinrichtungsspektakel im Gange ist, stiehlt der kaiserlichen Macht die Aufmerksamkeit der Menge – nach den Regeln dieser Theokratie ein Sakrileg. Andererseits wird von Beginn an eine Verwandtschaft des Geistes zwischen dem Uhrmacher und dem Kaiser angedeutet. Beide wissen oder meinen zu wissen, wohin die Wünsche und Gedanken des anderen gehen, beide träumen den gleichen Traum.
Die Uhren, die der Monarch bei Cox und seinen Gefährten in Auftrag gibt, haben nicht Präzision zum obersten Ziel, sie sollen nicht messen, dass die Zeit vergeht, sondern wie: denn «ob sie kriecht, stillsteht, fliegt oder uns in einer anderen ihrer ungezählten Geschwindigkeiten überwältigt – es liegt an uns, an den wie Kettenglieder miteinander verschlungenen Augenblicken unseres Lebens» (79). Der so über den Lauf der Zeit räsonierende Kaiser will als Betrachter selbst Teil der Uhr werden, er möchte dem Uhrwerk des Lebens die unterschiedlichen Vorzeichen menschlichen Empfindens geben: die Muße des spielenden Kindes, das Glück der Liebenden, die Angst der Todgeweihten. Bald zeigt sich, dass es einem Kaiser, der – so will es der Kult – selbst Herr der Zeit, Anfang und Ende ist, ja ohne den überhaupt keine Zeit wäre, mit mechanischen Spielereien nicht genug ist. Hat man es hier mit einem narzisstischen Despoten zu tun, dessen hybrider Wahn die Übereinstimmung von Weltzeit und eigener Lebenszeit will, oder mit einem Philosophenkaiser, den auch die Zeit der Anderen interessiert (wenn es auch die der zum Tode Verurteilten ist) und der die Zeit um ihrer selbst willen liebt? Sein letzter und größter Auftrag an die Engländer ist die Konstruktion einer Uhr, deren Lauf, einmal angestoßen, nie mehr enden wird. Ein Wunsch, den Meister Cox selbst schon lange hegt und den er nun für den Kaiser erfüllen soll: die absolute Uhr, ein Apparat zur Vermessung der Ewigkeit.
Im letzten Drittel des Romans steht die Arbeit an diesem als scheinbar vollkommen geschlossenes System gebauten Apparat im Zentrum. Zugleich verdichtet sich der Grundkonflikt der Geschichte zwischen Qíanlóng und Cox, eine Konkurrenz der Gleichgesinnten, im Blick auf die Beherrschung der Zeit: Gelänge es dem Konstrukteur, ein ewiges Uhrwerk zu bauen, so könnte ihm das als Lästerung des Kaisers, der doch der Gebieter aller Zeit ist, ausgelegt und zum Verhängnis werden. Will sich Qíanlóng wirklich als Zeitforscher betätigen, oder geht es ihm nur um die Erprobung der Reichweite seiner Macht? Aber das Projekt der absoluten Uhr ist noch in einem anderen Sinne ein prometheisches: Sowohl Cox als auch Qíanlóng treibt die Auflehnung gegen die Zeit selbst an, das Verlangen, sich mit ihr zu messen und ihre Absolutheit zu binden. Am Ende steht die Rache der Zeit an ihren Provokateuren, denn sie demonstriert ihre Macht in einem Augenblick von Fülle, der die Spannungsbögen der Geschichte bündelt. Im Ineinanderschießen von Erinnerungen, Hoffnungen und ästhetischer Epiphanie kommt es zu Cox’ Zusammenbruch, der für ihn fatale Folgen haben könnte.
Er empfand, daß dieser eine Augenblick im Angesicht des Kaisers und seiner Geliebten keiner Zeit mehr angehörte, sondern ohne Anfang und ohne Ende war, um vieles kürzer als das Aufleuchten eines Meteoriten und doch von der Überfülle der Ewigkeit: von keiner Uhr zu messen, scheinbar ohne Ausdehnung wie ein Jahrmilliarden entfernter, glimmender Punkt am Firmament.
Vielleicht stand ein solches Licht jedem Menschen zu, war aber niemals und von niemandem festzuhalten, sondern irrte über Köpfen und Herzen dahin, hielt für einen unmeßbaren Augenblick inne, irrte weiter. Und wer darauf hoffte, daß dieses Glimmen, dieses Leuchten für immer verbunden bliebe mit einer Geliebten, einem Liebsten, folgte in Wahrheit nur einem labyrinthischen Weg. Und was er am Ende fand, war Asche. (281)
Zuletzt: Ransmayr bemerkt in einem Nachwort, dass der historische Qíanlóng für eine Entscheidung berühmt geworden ist, die ihn unter den Herrschern Chinas einzigartig hervorhebt: den freiwilligen Thronverzicht. Dem Kaiser im Roman werden am Ende die Schlüssel zur Inbetriebnahme des perpetuum mobile, des Apparats zur Bezwingung der Endlichkeit, in die Hände gelegt. Ob er dem verhängnisvollen Missverhältnis, dass «ein Wesen mit endlicher Lebenszeit unendliche Wünsche hat»3, erliegt?