Das Vaterunser ist das wichtigste Gebet der Christen. Dieses christliche Ur- oder Grundgebet geht nämlich auf Jesus selbst zurück und verdeutlicht mit wenigen Worten, was im Zentrum des christlichen Glaubens steht. Die theologische Tiefe des Vaterunsers wird allerdings oft übersehen – vor allem deshalb, weil sein Text so bekannt ist und es so oft gebetet wird. Man wägt sich in der Sicherheit, die Worte dieses Gebetes gut zu kennen. In bestimmten Situationen kann die Vertrautheit mit diesem Text hilfreich sein. Man muss nicht erst nach Worten suchen. Die Worte kommen von selbst und man kann sich ihnen anvertrauen und fast blind folgen. Doch manchmal erstarrt man auch in bloß äußerlichen Routinen, wenn man das Vaterunser spricht. Man hat sich an bestimmte Übersetzungen oder Interpretationen gewöhnt oder hört vielleicht gar nicht mehr auf die Worte, die man vor sich hin sagt. Man wiederholt den Text, ohne ihn wieder in die Gegenwart zu holen oder neu mit Leben zu füllen.
Daher bedarf manchmal gerade das allzu Vertraute einer erneuten Aufmerksamkeit und damit einer neuen Aneignung. Aus diesem Grund stellt die Communio das Vaterunser in den Mittelpunkt einer eigenen Reihe. Das Heft setzt die Reihe zum Vaterunser mit der Deutung dieses Urgebetes fort und ist der vierten Bitte «Unser tägliches Brot gib uns heute» gewidmet: Was genau bedeutet es, um das tägliche Brot zu bitten? Was sagt diese Bitte über den Menschen, über Gott und über sein Heilshandeln in Christus aus? Und in welchem Verhältnis steht diese Bitte zu den anderen Bitten des Vaterunsers? Stehen die Bitten mehr oder weniger unverbunden nebeneinander oder folgen sie einer theologisch gut begründeten Logik?
Zumeist wird die Bitte auf die konkrete Nahrung bezogen. Eckhard Nordhofen regt dagegen an, neu über die Bedeutung des «täglichen» Brotes nachzudenken. Seine theologisch, philosophisch und philologisch breit fundierten Ausführungen zeigen, dass das Vaterunser das nicht-alltägliche himmlische Brot in den Blick nimmt. Die Bitte ist nämlich eschatologisch zu verstehen und auf das Brot, das Christus selbst ist, und somit vor allem auch auf seine Präsenz in der Eucharistie bezogen. Sie zeigt zudem, wie Nordhofen darlegt, den für das Christentum zentralen Medienwechsel von der Schrift zum Fleisch. Gerd Neuhaus greift Nordhofens «Medientheorie des Monotheismus» auf und weist in seinem Beitrag die «Möglichkeiten und Grenzen einer Gottespräsenz im menschlichen ‹Fleisch›» auf. Dabei betont er insbesondere die auch von Nordhofen angesprochene Differenz zwischen der «horizontalen» Inkarnation aller und der «vertikalen» Inkarnation des göttlichen Logos. Kein Mensch kann nach Neuhaus so ein Kind Gottes werden wie Christus der Sohn Gottes war.
In seinen Überlegungen zur Eucharistie stellt Jean-Luc Marion die Realpräsenz Christi in den Mittelpunkt und zeigt, was darunter jenseits verbreiteter subjektivistischer und objektivistischer Verkürzungen verstanden werden kann. Er zeigt, inwiefern die Eucharistie ein «gesättigtes Phänomen» ist, und erinnert dabei an die Möglichkeit und Notwendigkeit der eucharistischen Anbetung. Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz stellt in ihrem Beitrag die Eucharistie in einen religionshistorischen und anthropologischen Kontext und verweist in einer tiefgehenden Auseinandersetzung mit dem Mythos auf das radikal Neue des Christentums: dass in der Eucharistie Gott selbst sich dem Menschen als Speise gibt.
Auch wenn das Vaterunser sich nicht auf ein konkretes Brot bezieht, bleiben Menschen darauf angewiesen, dass ihnen Nahrungsmittel zur Verfügung stehen. Dass es (immer noch) hungernde Menschen gibt, ist, wie die differenzierten Ausführungen von Ingeborg Gabriel zeigen, ein Skandal und eine Herausforderung für die christliche Individual- und Sozialethik. In ihrem Beitrag regt sie dazu an, globale Strukturen in der Landwirtschaft oder in der Nahrungsmittelindustrie wie auch das je eigene Verhalten kritisch zu überdenken, und zeigt, dass und wie eine gerechtere Welternährung möglich ist. Ergänzt werden die theologischen und philosophischen Ausführungen dieses Heftes durch Angelika Overaths einfühlsame Interpretation des Gedichtes «Wär ich einer Deiner Augenäpfel» von Christine Lavant, das seinen Höhe- und Schlusspunkt in einer «inversen Eucharistie» findet.
Dieses Heft der Communio gibt zu denken und regt dazu an, die These, die Eckhard Nordhofen entwickelt hat, weiter zu diskutieren. Nicht zuletzt stellt sich die Frage, ob die Übersetzung «Unser tägliches Brot gib uns heute», so etabliert sie einerseits ist, nicht andererseits heute viel zu missverständlich ist, als dass man nicht über eine andere Übersetzung nachdenken könnte. Zumindest stellt sich die Aufgabe, neu zu erschließen, was mit dieser zentralen Bitte wirklich gemeint ist.