Das Kreuz Christi ist für uns das Zeichen des Gottes,
der an die Stelle der Gewalt das Mitleiden und das Mitlieben setzt.
Benedikt XVI. in Assisi, 2011*
Unvergessen sind die Bilder von den einstürzenden Zwillingstürmen in New York am 11. September 2001. Dschihadistische Attentäter hatten voll besetzte Passagierflugzeuge in Bomben verwandelt und die hoch aufragenden Zitadellen des World Trade Center in Schutt und Asche gelegt. Die Absicht der Attentäter, in der westlichen Hemisphäre ein Gefühl der Unsicherheit und Angst zu erzeugen, ist aufgegangen. Eine ganze Serie weiterer Anschläge in den Metropolen Europas und anderswo hat in den letzten Jahren dem diffusen Gefühl weiter Nahrung gegeben, jeder könne jederzeit an jedem x-beliebigem Ort ein Anschlagsopfer des islamistischen Terrors werden. Die verschärften Sicherheitsmaßnahmen, die seitdem getroffen wurden, um die offenen Gesellschaften zu schützen, haben den Nebeneffekt, dass sie die Freiheit, die sie doch verteidigen wollen, zugleich gefährden. Jedenfalls sind wir der gläsernen Gesellschaft – bislang ein literarischer Topos negativer Utopien – ein gutes Stück näher gekommen.
Das Thema «Religion und Gewalt» hat durch die dschihadistischen Anschläge zweifellos erhöhte mediale Präsenz gefunden. Die Frage nach dem Zusammenhang von Religion und Gewalt ist allerdings komplex. Es beginnt bei den Begriffen, mit denen man sich dem Problem anzunähern versucht: Lassen sich Judentum, Christentum und Islam, um nur diese zu nennen, unter den einen Begriff der ‹Religion› subsumieren, ohne dass grundlegende Unterschiede eingeebnet werden? Weiter ist der semantisch unscharfe Begriff der ‹Gewalt› im Deutschen präzisierungsbedürftig: Zumindest muss zwischen den Aspekten violence und power unterschieden werden, wenn klar gestellt werden soll, dass Gewalt nicht per se schlecht ist. So haben die Organe der Staatsgewalt die demokratische Freiheitsordnung gegen terroristische Gewalt zu schützen und sich dabei an die gesetzlichen Vorgaben zu halten. Die Dschihadismus-Forschung fragt nach den möglichen Ursachen für den Terror. Sind es primär politische, ökonomische oder soziologische Faktoren, die im Hintergrund gewaltbereiter Radikalisierungstendenzen stehen, oder werden auch theologische Gründe angeführt, um den «Kampf gegen die Ungläubigen» zu rechtfertigen?
Über das Problem des Dschihadismus hinaus werden seit längerem auch grundsätzliche Fragen diskutiert, die die Genese und Geltung des biblischen Monotheismus betreffen: Ist die «Mosaische Unterscheidung» zwischen wahr und falsch, die nach Jan Assmann eine Revolution in der Religionsgeschichte eingeleitet hat, latent gewaltträchtig, weil sie im Namen des einen und wahren Gottes die vielen anderen Götter zu Götzen degradiert und andere Formen der Götterverehrung als Idolatrie brandmarkt? Wäre der Polytheismus – als eine Art «Gewaltenteilung im Absoluten» (Odo Marquard) – nicht eine tolerantere und pluralitätsfreundlichere Alternative? Oder haben vielmehr umgekehrt der Abschied vom Pantheon leidenschaftlich rivalisierender Götter und die damit verbundene Entdivinisierung des Kosmos einen Freiheitsgewinn gebracht und zivilisatorische Errungenschaften ermöglicht, hinter die wir nicht zurückgehen können? Andererseits befremdet, dass die Durchsetzung des Monotheismus in den kanonischen Schriften des Judentums, Christentums und Islams in Geschichten erzählt und erinnert wird, die auch von Massakern und Hinrichtungen handeln. Die Bibelwissenschaft hat das sperrige Erbe dieser Gewalterzählungen längst als Herausforderung angenommen und historisch-kritische Erklärungsvorschläge unterbreitet oder spirituelle Lesarten vorgelegt. Auch in der Koranexegese gibt es erste Ansätze, die durch Historisierung und Kontextualisierung kurzschlüssige Deutungen entsprechender Suren abwehren. Die Schattenseiten der Gewaltgeschichte in den unterschiedlichen religiösen Traditionen – oft das Resultat einer unglücklichen Verquickung von Religion und Politik – sind ein weiteres Thema, das in den Fokus historischer Forschung gerückt ist.
Auch der kirchenoffizielle Umgang mit den dunklen Kapiteln in der zweitausendjährigen Geschichte der katholischen Kirche steht nicht mehr unter apologetischen Vorzeichen. In den Vergebungsbitten des Jubiläumsjahres 2000 hat Johannes Paul II. das Versagen der Kirche offen eingestanden und einen Prozess der purificazione della memoria angestoßen, der für eine glaubwürdige Bezeugung des Evangeliums unumgänglich ist. Benedikt XVI. hat in seiner Regensburger Rede von Pathologien der Religion gesprochen und als Rezept das Ringen um eine neue «Synthese von Glaube und Vernunft» empfohlen. Auch wenn strittig ist, wie das Verhältnis von Glaube und Vernunft genau bestimmt werden soll, so dürfte doch unstrittig sein, dass ein dunkler Voluntarismus im Gottesverständnis für ideologischen Missbrauch besonders anfällig ist. Papst Franziskus hat zuletzt Attentate im Namen Gottes als Blasphemie verurteilt. Mit seiner Botschaft der Barmherzigkeit versucht er Impulse für die Verständigung zwischen den Religionen zu geben. Die Mahnung zu wechselseitigem Respekt und Dialogbereitschaft soll das friedliche Zusammenleben zwischen Juden, Christen und Muslimen in der globalisierten Moderne fördern. Die größte Herausforderung eines auf Verständigung abzielenden Religionsdialogs dürfte darin bestehen, die Bruchlinien und Probleme produktiv anzugehen. Besonders akut ist hier die augenfällige Asymmetrie in der Gewährung der Religions- und Gewissensfreiheit: Während muslimische Bürgerinnen und Bürger in den rechtsstaatlichen Demokratien Westeuropas ihren Glauben frei ausüben können, ist dies für Nichtmuslime in den allermeisten Ländern, in denen der Islam Staatsreligion ist, ohne teils massive Einschränkungen nicht möglich. Bei allem Bemühen um Verständigung mit dem Islam heute darf die angestiegene Zahl bedrängter und verfolgter Christen nicht in den toten Winkel der öffentlichen Wahrnehmung abgedrängt werden.
Das vorliegende Communio-Heft kann kaum mehr als einige Schlaglichter auf das angedeutete Problembündel «Religion und Gewalt» bieten. Hans Maier geht in seinem Beitrag der Wirkungsgeschichte des biblischen Wortes «compelle intrare» nach. Das Wort, das von Augustinus im Streit mit den Donatisten herangezogen wurde, um den Einsatz des weltlichen Armes zur Überwindung eines kirchlichen Schismas zu rechtfertigen, hat im Politischen Augustinismus eine radikale Fortschreibung gefunden. Auch wenn bereits die Kirchenväter theologisch klargestellt haben, dass der Akt des Glaubens an die Freiheit des Adressaten des Evangeliums gebunden ist, wurden Anders- und Nichtgläubige immer wieder Methoden der Indoktrination und des Glaubenszwangs ausgesetzt. Erst mit der Anerkennung der Religions- und Gewissensfreiheit auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil ist diesen Fehlformen der Glaubensweitergabe endgültig ein Riegel vorgeschoben worden. Martin Rhonheimer vertritt in seinem Beitrag die These, dass der Islam von seinem Ursprung her die Differenz zwischen Religion und Politik nicht kenne, und stellt die religionspolitisch delikate Frage, ob der Islam der Idee eines freiheitlich säkularen Rechtsstaates, wie er sich im Westen ausgebildet hat, nicht von Grund auf widerspreche. Die Integration muslimischer Migranten könne nur gelingen, wenn diese Herausforderung klar gesehen werde. Rhonheimer fordert daher nicht eine christliche und schon gar nicht eine national-identitäre, sondern eine säkulare Leitkultur, die den freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat gegen die (Un-)Gebildeten unter seinen Verächtern verteidigt. Der Paderborner Theologe Klaus von Stosch setzt sich in seinem Beitrag exemplarisch mit zwei Gewalttexten aus der Bibel und dem Koran auseinander. Er zeigt Interpretationsmöglichkeiten auf, wie das semantische Dynamit dieser Texte – Vernichtungsweihe bei der Landnahme im biblischen Buch Josua und Aufruf zum Kampf gegen die Ungläubigen im Koran – durch die moderne Exegese hermeneutisch entschärft werden kann. Uwe Justus Wenzel ruft in seinem Essay die oft übersehene Tatsache in Erinnerung, dass es nicht die Religionen sind, die töten, sondern menschliche Akteure, die dies im Namen der Religion tun oder meinen tun zu können. Die sich beinahe schon automatisch einstellende Assoziation von Religion und Gewalt gelte es zu unterbrechen und mit der Gegenfrage zu kontrapunktieren, ob nicht gerade die Religionen einen humanisierenden Beitrag zur Überwindung von Gewalt leisten können. Britta Mühl schließlich nimmt das erklärungsbedürftige Phänomen des Selbstmordattentäters in den Blick und fragt nach möglichen Gründen für den ungewöhnlichen Erfolg dschihadistischer Rekrutierungsstrategien. Die Faszination Jugendlicher an den Gewaltpraktiken des IS spiegelt ein Sinn- und Orientierungsvakuum der westlichen Gesellschaften. Unter Rückgriff auf ein Buch von Jürgen Manemann, der die Selbstmordattentate als Form des aktiven Nihilismus deutet, weist sie monokausale Deutungen zurück, fragt aber danach, ob neben politischen, soziologischen, ethischen Motiven nicht auch religiöse eine Rolle spielen.
Die Perspektiven werden eröffnet durch ein Gespräch mit dem Schweizer Schriftsteller Thomas Hürlimann über den Skandal des Kreuzes. Im Sinne einer Fremdprophetie, die der gegenwärtigen Theologie blinde Flecken spiegelt, macht er Tendenzen einer Verharmlosung, ja Verdrängung des Kreuzes aus. Ergänzt wird das Gespräch durch einen Vortrag, den Hürlimann anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Theologische Fakultät der Universität Basel gehalten hat – ein Vortrag, der durch die Gliederung in vierzehn Stationen selbst wie ein Kreuzweg angelegt ist. Benjamin Leven kommentiert die amerikanische Filmserie «The Young Pope» von Paolo Sorrentino, die von einem Pontifex handelt, der sich bezeichnenderweise den Namen Pius XIII. gibt und dadurch befremdet, dass er sich der Öffentlichkeit entzieht und theologisch die radikale Unzugänglichkeit Gottes betont. Der Osnabrücker Sozialethiker Manfred Spieker erinnert an «prophetische» Anstöße, die Benedikt XVI. der katholischen Soziallehre mit auf den Weg gegeben hat. Unter dem schönen Titel «Im schwäbischen Vorzimmer des Himmels» weist Helmuth Kiesel auf die überraschende Präsenz katholischer Motive im Spätwerk des Schriftstellers Martin Walser hin.
Aus Anlass der Vollendung des 90. Lebensjahrs würdigt die deutsche Edition der Internationalen Katholischen Zeitschrift Communio ihren Gründungsherausgeber Joseph Ratzinger · Benedikt XVI. Seine Beiträge haben das theologische Profil dieser Zeitschrift seit 1972 maßgeblich mit geprägt. Immer wieder hat er zu strittigen Fragen in Theologie und Kirche Position bezogen, aber auch das reiche Erbe der biblischen, patristischen und liturgischen Tradition in die Glaubensverständigung der Gegenwart eingebracht. Joseph Ratzinger ist – bis in den Stil hinein – immer ein Freund der Klarheit und ein Feind des Unverbindlichen gewesen. Statt das Christentum den spätmodernen Befindlichkeiten anzupassen, hat er das inhaltliche Profil des Glaubens geschärft und das Christliche notfalls auch im Widerspruch zu den intellektuellen Strömungen der Zeit zur Geltung gebracht. Ob er dabei die Fremdprophetie, die in den Suchbewegungen der späten Moderne enthalten ist, immer aufmerksam registriert hat, kann man fragen. Fraglos aber hat er für den christlichen Glauben als tragfähige und intellektuell verantwortbare Option geworben. Den dramatischen Riss zwischen historisch-kritischer Jesusforschung und kirchlichem Christusglauben hat er durch die Trilogie der Jesus-Bücher heilen wollen, um im Sinne einer mystagogischen Christologie neu in die Freundschaft mit Christus einzuführen. Seine Enzykliken, vor allem Deus Caritas est und Spe salvi, haben im Gespräch mit maßgeblichen Stimmen der abendländischen Geistesgeschichte an Grundworte des Glaubens erinnert, um der schleichenden Erosion des Glaubenswissens gegenzusteuern. Sein Wirken als Theologe, Bischof und Papst hat vielfältige Resonanzen hervorgebracht. Dies zeigt ein erfreulich vielstimmiges Ensemble von Gratulanten aus den Bereichen der Philosophie und Geisteswissenschaft (Julia Kristeva, Jean-Luc Marion, Charles Taylor, Holm Tetens), der Theologie (Christoph Kardinal Schönborn, Ludger Schwienhorst-Schönberger, Hansjürgen Verweyen, Ulrich Wilckens), der Politik (Hans Maier, Wolfgang Schüssel), der Medien (Christian Geyer-Hindemith, Federico Lombardi), der Musik (Krzysztof Penderecki, Wolfgang Seifen) und der Literatur (Sibylle Lewitscharoff, Arnold Stadler). Gerne schließen sich Herausgeberschaft, Redaktion und Schriftleitung der Communio den Glück- und Segenswünschen dieser Tabula gratulatoria an.