Tradition

Ohne Überlieferung gäbe es weder Christen noch ein Christentum. Der Christ lebt vom Weiterhören und Weitersagen des Wortes, mit dem Gott den ersten Tag in diese Welt gesetzt (Gen 1), mit dem Er sich in die Geschichte dieser Welt hineingesagt und ausgesagt hat, durch das Er sich unter den Menschen hörbar und erzählbar gemacht hat. Das Christentum gründet in der Überlieferung des einen, ein für allemal von Gott in diese Welt gesagten Wortes, das Mensch wurde und sein Zelt unter den Menschen aufgeschlagen hat (Joh 1,1–14). Christentum ist Überlieferung (traditio) dieses fleischgewordenen Wortes, Jesus Christus, der ausgeliefert und verraten wurde (traditur) und sich hingab (tradidit) in den Kreuzestod. Seine traditio geschieht für uns und für alle, wenn Christen Eucharistie feiern und so den Tod und die Auferstehung Jesu Christi verkünden.

Aber wie soll man sprechen von Ihm, diesem menschlich unaussagbaren Wort Gottes? Welche Worte, welche Erzählungen erfassten dieses Wort des Höchsten, durch das alles wurde, was geworden ist? Jedes Menschenwort, das Gottes Wort nachzusprechen und weiterzuerzählen versuchte, bemächtigte sich seiner. In jeder Übermittlung des Wortes lauert der Verrat, der durch Missverstehen und falsche Beschriftung geschieht. Johannes Evangelist und Judas Iskariot tradierten je auf ihre Weise den Menschensohn. Es ist unausweichlich: Jeder traduttore kann zum traditore werden. Und doch: Wie anders geht Gottes eines Wort durch die Menschengeschichte als durch die vielen Menschenworte derer, die es bezeugen (Dei Verbum 12)? Wie anders bleibt Jesus Christus in der Zeit gegenwärtig als durch die Erzählungen und Traditionen derer, denen er Heil und Leben bedeutet? Wie anders ist Glaube lebendig als durch die je neue Aneignung der apostolischen Überlieferung in den vielen Gestalten des Christlichen?

Die Geschichte des Christentums ist eine Geschichte von Überlieferungen. Wer es verstehen will, muss Traditionshermeneutik betreiben und sich mit den vielfältigen Lesarten, Übersetzungen und Inkulturationsvorgängen beschäftigen, in denen das Evangelium Jesu Geschichte, nämlich Lebensgeschichten und Kirchengeschichte, geschrieben hat. Das vorliegende Heft nimmt besonders die Frage der Identität der Überlieferung Jesu Christi in der Vielfalt und Entwicklung ihrer kirchlichen Zeugnisse und Erzählweisen in den Blick. Robert Vorholt macht den Anfang und erläutert Jesu Überlieferung im Abendmahlsaal an die Jünger vor seiner Auslieferung an den römischen Statthalter, die die Evangelien wiederum in vierfacher Lesart tradieren. Er erläutert den semantischen Horizont, die Gestalt und die Kriterien dieser Urüberlieferung: Gebet und Gabe, Segen und Lob, Leib und Blut bedeuten und begründen die Zukunft des Reiches Gottes und ihr Anbrechen in der Gegenwart. Bernhard Körner beschreibt die wechselvolle Geschichte des katholischen Traditionsverständnisses samt der einschlägigen Debatten und Herausforderungen, etwa der Frage nach dem Zueinander von Tradition und Sukzession, Schrift und Tradition, traditio und traditiones, und zeigt: Kirchliche Überlieferung ist ein dynamischer, mehrdimensionaler, nicht auf Texte oder einzelne Instanzen reduzierbarer, vielmehr nach vorn offener kirchlicher Prozess der Aneignung und Interpretation der göttlichen Wahrheit. Peter Henrici erinnert dazu an Maurice Blondels Überlegungen, die dieser in Auseinandersetzung mit traditionalistischen und historizistischen Strömungen seiner Zeit angestellt hatte. Wahre Überlieferung konserviere Gottes Offenbarung nicht, indem sie festschreibe, was sich begrifflich festhalten lässt, sondern indem sie ihrer lebendigen kirchlichen Wirklichkeit Raum gebe. Julia Knop fragt am Beispiel kontroverser Erneuerungen kirchlicher Lehre seit dem II. Vatikanum nach einer Hermeneutik, die solchen eben nicht linear verlaufenden Entwicklungen entspricht und der Geschichtlichkeit der Überlieferung Rechnung trägt. Michael Böhnke erinnert an die pneumatologische Dimension christlicher Tradition: nicht eine anachronistische Redoktrinalisierung der Überlieferung, sondern eine dem Anspruch des apostolischen Ursprungs gemäße Antwort der Gläubigen eröffne Glaubensgewissheit und dies wiederum nicht anders denn als personale, zeitliche, sprachliche und pluriforme Praxis des Glaubens in Hoffnung und Liebe. Alfred Bodenheimer erläutert Spezifika jüdischer Traditionskultur, die durch Generationen übergreifende Überlieferungen göttlicher Verheißungen Identität stiftet, Gegenwart und Geschichte zu deuten verhilft, sogar dann, wenn solche Überlieferung nur mehr spurenhaft und verhalten menschliche Erinnerung überdauert. Hans-Rüdiger Schwab weitet die Thematik ins Literarische, indem der den Leser durch das Œuvre eines der größten Literaten der Gegenwart, Botho Strauß, führt, der «Anamnesis, nichts sonst», zur «Kunst und […] Pflicht […] der Dichter» erklärt. Der Dichter selbst ist es – nicht erst seine Worte –, der zur Überlieferung wird und Gegenwart auf ihren Ursprung und ihr Ziel hin transzendiert. 

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