Gewissen

Zu den zentralen Themen des guten und richtigen Handelns gehört das Gewissen. Dieser «komplexe(n) Erscheinung», wie die Deutschen Bischöfe im Erwachsenenkatechismus Leben aus dem Glauben (KEK 2, 120) das Gewissen charakterisieren, kann in einem, diesem Grundbegriff gewidmeten Heft nur mit einigen Aspekten näher gekommen werden. Dabei ist das Gewissen verständlicherweise immer wieder in dieser Zeitschrift zur Sprache gebracht worden. Besonders hervorzuheben ist aus dem ersten Jahrgang 1972 der Beitrag des Mitbegründers der Communio, Joseph Ratzinger: «Das Gewissen in der Zeit. Ein Vortrag vor der Reinhold-Schneider-Gesellschaft.» Für den späteren Papst Benedikt XVI. gilt es als erstes an die Erfahrung aus der nationalsozialistischen Herrschaft zu erinnern, dass totalitäre Systeme das Gewissen ausschalten, ja zerstören wollen, um eine «totalitäre Gefolgschaft» (432) zu erhalten. Umgekehrt kann das Gewissen – zweitens – auch als Alibi dienen, um seine eigene «Verranntheit» und «Unbelehrbarkeit» (435) zu rechtfertigen. Deshalb bedarf drittens «der Gewissensbegriff der ständigen Reinigung und die Beanspruchung des Gewissens wie die Berufung darauf einer behutsamen Redlichkeit, die weiß, daß man das Große mißbraucht, wenn man es voreilig auf den Plan ruft» (435). Als viertes sieht Ratzinger im Gewissen die Anerkenntnis der Geschöpflichkeit des Anderen wie der eigenen Geschöpflichkeit. Darin wird die Grenze jeder irdischen Macht gesehen, auch wenn das Gewissen manchmal ohnmächtig ist.

Hier ist eine zentrale Spur des christlichen Verständnisses des Gewissens zu sehen, die auf Augustinus (354–430) zurückgeht. Der Kirchenvater greift zur Interpretation des Gewissens auf das aus der stoischen Ethik kommende «Erkenne dich selbst» zurück. Er deutet das menschliche Selbstbewusstsein, indem er es christlich mit dem Gewissen verbindet. Der Mensch wendet sich im Gewissen auf sich selbst zurück und beurteilt sein Leben. Zu diesem Gedanken des Bei-sich-selbst-Seins tritt der alttestamentliche Ruf «Höre Israel» hinzu, der mit dem Wirken des Gotteswortes im Herzen verbunden ist. Indem bei Augustinus das Gewissen Ort der Gottesbegegnung ist, kann er vom Gewissen als Stimme Gottes im Menschen sprechen.

Nach Augustinus spielt in der Tradition der Kirche Thomas von Aquin (1225–1274) eine wichtige Rolle, der die in der Scholastik übliche Unterscheidung von synteresis und conscientia übernahm. Aus der synteresis, dem Urgewissen, das vor allem aus dem ersten Grundsatz des sittlichen Handelns besteht: «Das Gute ist zu tun, und das Böse ist zu meiden», folgt die conscientia, die die Anwendung auf die konkrete Situation beinhaltet. Damit der Mensch zu einem richtigen Gewissensurteil kommen kann, ist er sowohl auf die Bildung des Gewissens angewiesen wie auf die Bereitschaft zu Umkehr und Buße, um sein Gewissen neu auszurichten. Damit verbunden ist auch die Frage nach dem irrenden Gewissen, das seit Abaelard und später Thomas von Aquin zum katholischen Verständnis des Gewissens gehört, über dessen Interpretation aber nach wie vor kontrovers diskutiert wird. In der Perspektive des II. Vatikanischen Konzils wird es so charakterisiert: «Nicht selten jedoch geschieht es, dass das Gewissen aus unüberwindlicher Unkenntnis irrt, ohne dass es dadurch seine Würde verliert.» (GS 16) Vorausgesetzt wird dabei, dass man sich um die richtige Gewissensbildung müht.

Angesichts von 500 Jahren Reformation gilt es in diesem Zusammenhang an Martin Luther (1483–1546) zu erinnern. Er lehnte die Unterscheidung von synteresis und conscientia ab. Für ihn ist das Gewissen in erster Linie nicht moralisch, sondern theologisch bestimmt. Der Mensch steht im Gewissen radikal vor Gott (coram Deo), wo er nicht nur im Blick auf einzelne Taten, sondern in seinem ganzen Sein als Glaubender gerechtfertigt wird. Aufgrund des elementaren Gottesbezugs scheidet Luther als Zeuge eines neuzeitlichen Gewissensbegriffs, der gerade ohne diesen Bezug formuliert wird, aus.

Dass das Gewissen eine «komplexe Erscheinung» ist, zeigt sich bereits im Neuen Testament, wie der Beitrag von Thomas Söding «Die Stimme des Herzens» deutlich macht. Diese Kennzeichnung mit Bezug auf Hebr 10, 22 «die Herzen durch Besprengung gereinigt vom schlechten Gewissen» fasst verschiedene neutestamentliche Sprachbilder zusammen, die keine Einheitlichkeit aufweisen. Vom guten und reinen Gewissen ist an verschiedenen Stellen die Rede. Dies macht sichtbar, dass das Wort in vielfältiger Form in den Schriften des NT präsent (Apg, 2 Tim, Hebr, 1 Petr) und nicht auf die ursprünglich paulinischen Stellen zu begrenzen ist. Das Gewissen ist ein zentraler anthropologischer Begriff, der in der Umwelt des Paulus Verwendung findet. Paulus selbst sieht sich als gewissenhafter Zeuge, der in seinem Urteil allein von Christus her gerechtfertigt ist. Für die Gläubigen ist es wichtig, dass sie in ihrem Gewissen die Botschaft von Jesus Christus in der Verkündigung durch den Apostel Paulus erkennen. Die Heiden können ihrem Gewissen folgen, indem sie das tun, was ihnen «ins Herz geschrieben ist.» (Röm 2, 15) Aus der neutestamentlichen Perspektive ergeben sich wichtige Impulse für die Gewissensbildung wie für die Gewissensfreiheit heute.

Unter den verschiedenen Modellen zur theologischen Gewissensdeutung nimmt in der katholischen Tradition auch John Henry Newman (1801–1890) eine zentrale Rolle ein. Mit ihm befassen sich die Ausführungen von Hermann Geißler. Die Ausgangsüberlegung dabei ist, dass bei Newman kein Dissens zwischen dem Primat des Gewissens und dem Primat der Wahrheit bestehe. Newman ging es bei seinem Weg zur Konversion um die Suche nach der Wahrheit. Dabei ließ er sich von seinem Gewissen leiten. Das Gewissen verstand er dabei als Echo der Stimme Gottes, der er im Gehorsam folgen wollte. Einen Dissens zwischen dem Lehramt der Kirche und dem Gewissen sieht Newman nicht als möglich an, da der Papst nicht über der Wahrheit steht, sondern der Wahrheit dient. Das Gewissen drückt besonders die Wahrheitsfähigkeit des Menschen aus, die auf die Wahrheit bezogen ist.

Auf die jüngere und jüngste Entwicklung des Gewissensverständnisses – bezogen auf lehramtlichen Texte – geht der Aufsatz von Herbert Schlögel ein. Zentral ist hier die Pastoralkonstitution Gaudium et spes 16, ein Text, um den auf dem Konzil in unterschiedlichen Entwürfen intensiv gerungen wurde. Vor allem ging und geht es immer wieder um die Verhältnisbestimmung von vorgegebener Norm (objektivem Gesetz) und der persönlichen Gewissensentscheidung. Hier wurden später die Akzente in der Enzyklika Veritatis splendor (1993) von Papst Johannes Paul II. anders gesetzt als im Konzilstext. Das nachapostolische Schreiben Amoris laetitia (2016) von Papst Franziskus rekurriert ohne Bezug auf Veritatis splendor auf die Pastoralkonstitution. Die Deutschen Bischöfe haben im Band II des Erwachsenenkatechismus Leben aus dem Glauben (1995) in ähnlicher Weise argumentiert. Dabei wurde der in der moraltheologischen Tradition geläufige Begriff der Epikie aufgenommen.

Da der Gewissensbegriff bereits von seiner Genese her ein anthropologischer Begriff ist, der dann immer wieder christlich geprägt und durchdrungen wurde, ist es verständlich, dass er in einen größeren gesellschaftlichen und kulturellen Zusammenhang gestellt wird. Dieser Aufgabe stellt sich Kardinal Karl Lehmann mit seinen Ausführungen. Hinter der Frage nach dem, was das Gewissen ist, verbirgt sich in einem demokratischen Gemeinwesen die Suche nach den gemeinsamen Wertüberzeugungen. Zugleich ist damit die Sorge um den ethischen Konsens in einer Gesellschaft verbunden. Menschenwürde, Freiheit und Gerechtigkeit sind bleibende Bezugsgrößen für das Gewissen und die Gewissensfreiheit. Die Aufgabe von Glaube und Kirche in diesem Kontext wird von Kardinal Lehmann thematisiert. Dazu gehört ebenfalls die Verhältnisbestimmung von Autonomie und Heteronomie des Gewissens, die immer wieder neu gesucht und bestimmt werden muss.

Den Abschluss bilden die Überlegungen von Jochen Sautermeister. Ausgehend von den Konzilstexten charakterisiert der Beitrag das «Gewissen als Instanz authentischer Sittlichkeit» und befasst sich dann mit den verschiedenen Aspekten der Moralpsychologie. Sie will zum einen der Frage nachgehen, wie moralische Urteile gefällt werden und rekurriert hier auf Begriffe wie Moralfähigkeit, Tugend, Freiheit und Verantwortung, zugleich geht es ihr aber auch um die Bedeutung dessen, was ein moralisches Subjekt sei. Die personale Identität steht hier im Blickpunkt. Der Gewissensbildung kommt hierbei die Aufgabe der praktisch-ethischen Identitätsbildung zu. Dabei hat ein moralpsychologischer Zugang zum Gewissen neben anderen Aspekten im Blick zu halten, dass von den spezifischen, biografischen und soziokulturellen Faktoren der jeweiligen Person nicht abgesehen werden kann. Wie wichtig diese moralpsychologischen Überlegungen sind, zeigt sich im Kommentar von Joseph Ratzinger zur Pastoralkonstitution (zuerst: LThK Erg. Bd. III), in der er zum Text von GS 16 anmerkt: «Gegenüber einer bloß soziologischen oder tiefenpsychologischen Deutung des Gewissens stellt [der Text] dessen Transzendenzcharakter heraus: es ist das ‹im Herzen von Gott eingeschriebene Gesetz›, der heilige Ort, an dem der Mensch mit Gott allein ist und seine Stimme in seinem Innersten hört. Damit ist freilich das Problem vereinfacht und die erkenntnistheoretische Fragestellung ebenso übersprungen, wie die psychologischen und soziologischen Faktoren ausgeklammert sind, die aus der faktischen Gestalt des Gewissens nun einmal nicht weggedacht werden können.» (Gesammelte Schriften Bd. 7/2, 821/822).

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