Bibel

2017 ist nicht nur ein Gedenkjahr der Reformation. Obwohl nicht offiziell dazu ausgerufen, ist es auch ein Jahr der Bibel. Die neue Einheitsübersetzung (EÜ) ist erschienen, nach Jahren der Vorarbeit. Christoph Dohmen, einer der Revisoren, beschreibt ihre Charakteristika. Die Evangelische Kirche in Deutschland hat ihre Feierlichkeiten am 31. Oktober 2016 mit der Vorstellung der gleichfalls sorgfältig überarbeiteten «Lutherbibel» eröffnet. Corinna Dahlgrün, die an der Neuausgabe mitgewirkt hat, zeichnet «Luther» in die evangelische Kulturlandschaft ein, in der die Bibel als theologischer Leuchtturm strahlt.

Die Revisionsprozesse waren kein Ruhmesblatt der Ökumene, weil es – anders als früher – keine wechselseitige Beteiligung gegeben hat. Aber das Ergebnis ist nicht so, dass die Gräben zwischen den Konfessionen vertieft worden wären. Im Gegenteil. Auf evangelischer wie auf katholischer Seite hat sich vielmehr ein Interesse an der Bibel gezeigt, das von vielen nicht für möglich gehalten worden wäre. Die Auflagenzahlen beider Bibeln sind sehr hoch. Es gibt kein anderes Buch, das im «Land der Dichter und Denker» eine annähernd so hohe Aufmerksamkeit beim Lesepublikum gefunden hat.

Worin ist diese große Nachfrage begründet? Vieles ist Ritus, manches Kommerz. Sicher gehört es in vielen Familien nach wie vor zum guten Ton, zur Kommunion, zur Firmung oder zur Konfirmation eine Bibel zu schenken – vielleicht sogar eine, die Platz für die Familiengeschichte, für Geburt und Taufe, Hochzeit und Kinder, auch für Tod und Begräbnis lässt. Dass die Bibeln dann nicht nur im Regal stehen und dass die Seiten dann auch ausgefüllt werden, so dass sich die Familiengeschichte mit der biblischen Gottesgeschichte vermittelt, kann man nur hoffen. Das katholische und das evangelische Bibelwerk sind hoch aktiv, um die Bibel unters Volk zu bringen.

Sind sie auch erfolgreich? Ist die Bibel nicht nur das Buch, das weltweit am meisten verkauft wird, sondern auch das Buch, das am häufigsten ungelesen verstaubt? Moralische Appelle helfen nicht viel. Die Bibel ist anspruchsvoll – wäre sie es nicht, würden man sie nicht zu lesen brauchen. Die Bibel ist auch dick – wäre sie es nicht, hätte sie nicht die übergroße Fülle an Glaubensgeschichten und Zweifelgeschichten, an Tragödien und Komödien, an Gebeten und Gedanken, die sie zum Buch der Bücher machen.

Die Chancen, die Bibel unters Volk zu bringen, sind gut. Sie müssen aber auch genutzt werden. Nach wie vor ist die Bibel im Religionsunterricht die wichtigste Pflichtlektüre; dass sie auch der beliebteste Stoff ist, lässt sich nicht unbedingt feststellen, aber die neuen Übersetzungen laden zu neuen Lesereisen ein, bei denen wunderbare Entdeckungen gemacht werden können, gerade wenn die Geschichten von zu Hause nicht mehr so bekannt sind, wie das früher häufig der Fall gewesen ist. Die Bibel spielt in der Sakramentenkatechese eine große Rolle, wenn auch meist nur in kleinen mundgerechten Häppchen: Welche Möglichkeiten einer tiefen Einführung in das Geheimnis des Glaubens würden sich ergeben, wenn die Taufe, die Kommunion, die Firmung, die Buße, die Trauung einmal entlang der biblischen Sinnlinien erschlossen würden: im Alten wie im Neuen Testament? Ein solches Profil würde ins Bild passen. Gegenwärtig entstehen neue Formen der Spiritualität nicht nur für Kleriker, sondern auch für Laien, die sich wandernd oder pilgernd, in Gruppen oder allein, ein ganzes Buch der Bibel zu lesen oder auch zu schreiben vornehmen, einige sogar die ganze Bibel.

Die Kunst des Lesens und Schreibens wird in der Bibel selbst gepflegt. Das zeigt der Artikel von Thomas Söding. Er korrespondiert mit dem Beitrag des Schriftstellers Patrick Roth, der das Übersetzen als Entdeckungsreise in den Sinn der Schrift und des eigenen Lebens versteht: Es kann zu einer Quelle des Lebens werden, die vor dem Verdursten bewahrt. «Vom Übersetzen heiliger Bilder» ist der Essay betitelt; in Roths eigenem Werk – zuletzt kam 2017 die Christustrilologie neu heraus – wird diese Kunst meisterhaft beherrscht.

Die Bildsprache gehört zur Faszination der Bibel. P. Philipp Reichling beleuchtet, dass Bibelillustrationen, die vielfach die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, weit mehr sind als Illustrationen, wenn sie mit den Texten ein Gespräch führen. Sie achten das Bilderverbot gerade durch die Veranschaulichung und Verhüllung der Heilsgeschichte. Stefan Böntert zeichnet nach, welchen Aufschwung die Bibel durch die Aufwertung des Wortgottesdienstes und der Predigt in der katholischen Kirche seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil genommen hat – und lenkt den Blick auf die Ästhetik der Kommunikation, vom Lektionar und Ambo bis zur Körpersprache der Verkündigung selbst.

Wenn aber die Bibel gelesen und betrachtet wird – wie soll sie gedeutet werden? Welchen Stellenwert hat die Bibel – innerhalb der Tradition und jeder Tradition gegenüber? Thomas Möllenbeck zeichnet nach, wie John Henry Newman das sola scriptura der Reformation aufgenommen und relativiert hat – in einer Weise, die nicht nur in der katholischen Kirche wegweisend sein kann: für die kirchliche Lehre und die Theologie, aber auch für Liturgie und Predigt, Meditation und Katechese.

In den Perspektiven stellt Jan-Heiner Tück Peter Handkes Liebesversprechen «in Gegenwart des Dritten» vor; Karl-Heinz Menke, frisch gekürter Ratzinger-Preisträger, schreibt über die Ehe und das Verhältnis von Glaube und Sakrament; Hans Maier kommentiert im Gespräch mit Christian Stoll und Tobias Mayer die Bundestagswahl 2017.

Der Zweite Petrusbrief erinnert an die Verklärung Jesu, bei der Petrus Zeuge gewesen ist (Mk 9,2–8 parr.) und knüpft an diese Erinnerung die Überlegung: «Dadurch ist das Wort der Propheten für uns noch sicherer geworden und ihr tut gut daran, es zu beachten wie ein Licht, das an einem finsteren Ort scheint, bis der Tag anbricht und der Morgenstern aufgeht in euren Herzen» (2Petr 1,19 – neue EÜ). Wenn der Moment der wahren Gotteserkenntnis gekommen ist, der im Herzen aufstrahlt, braucht sich niemand mehr über die Bibel zu beugen. Aber damit diese Momente genossen werden können, braucht es ein Gebet wie das, mit dem Corinna Dahlgrün ihren Artikel überschrieben hat: «Dein Wort ist meinem Fuß eine Leuchte, ein Licht für meine Pfade» (Ps 119,105 – neue EÜ). 

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