Manche Bücher wirken im Verborgenen. Irgendwann tauchen sie, wie von unsichtbarer Hand gesteuert, wieder in der Öffentlichkeit auf. Und man kann nur loben, dass sie geschrieben wurden und dass mutige Verleger sie neu auflegen. Ein solches Buch, weit eher ein Büchlein, ein langer, meditativer Aufsatz, ist das Lob der Hand aus Feder und Hand des französischen Kunsthistorikers Henri Focillon (1881–1943). 1934 erschien es erstmals als Teil von Focillons Vie des Formes. Deutsch erblickte das Lob der Hand erstmals 1954 in der Übersetzung von Gritta Baerlocher in der Schweiz das Licht der Welt. Die Kölner Galerie «Der Spiegel» veröffentlichte das Buch 1962 in einer bibliophilen und reich illustrierten Ausgabe. Seitdem war dieses wunderbare Werk, wenn überhaupt, nur antiquarisch, aus zweiter Hand, zu erwerben. Und nun – schön in der Hand liegend – eine Neuausgabe im Göttinger Steidl Verlag. Endlich! Denn Focillions Werk bleibt so zeitlos wie aktuell.
Das Buch hält das Versprechen, das der Titel in sich birgt. Es lobt die Hand. Mehr nicht, aber auch nicht weniger. Und dies nicht aus Verlegenheit oder unter dem Druck eines Zwanges, sondern in jener Haltung, die dem Lob angemessen ist: «wie man eine Freundespflicht erfüllt» (7). Und es fordert dazu auf, mitzuloben: «Seht, wie die Hände in Freiheit leben, ohne an ihre Funktion zu denken, ohne sie mit einem Geheimnis zu belasten – seht, wie sie ruhen mit leicht gebogenen Fingern, als ob sie sich irgendeinem Traum überließen, oder betrachtet sie in der eleganten Lebhaftigkeit der reinen Gebärde, der unnötigen Gebärde: dann scheint es, als ob sie absichtslos die Vielfalt der Möglichkeiten in die Luft zeichneten, und dass sie sich, mit sich selbst spielend, auf irgendeine naheliegende wirksame Vermittlung vorbereiteten.» (10)
Wie selten denken wir über das nach, was uns so nahe wie nur weniges ist: unsere Hände. Nicht nur aufgrund ihrer Nähe und Vertrautheit ist dies erstaunlich. Es ist auch deshalb bemerkenswert, weil sich dort, wo die Hände wirklich betrachtet werden, die ganze Welt des Menschen eröffnet: sein tägliches Tun, sein Verhältnis zu sich selbst, die Beziehung zum anderen Menschen, zu den Tieren, den Pflanzen und zur unbelebten Natur und, ja, auch dies, zu jenem, aus dessen schöpferischer Hand alles entspringt und in dessen mächtiger Hand alles geborgen ist und seine Vollendung findet. Der Mensch, so betont Focillon, mache die Hand, und umgekehrt mache die Hand – eine rechte und eine linke – den Menschen (vgl. 12).
Wenn er in das Antlitz seiner Hände blickt, schaut Focillon in «Gesichter ohne Augen und ohne Stimme, die aber sehen und sprechen» (7). Mittels der Hände eignen Menschen sich Welt an, betasten, fühlen und berühren sie. Und mittels der Hände erzeugen Menschen Welt, schaffen, formen und gestalten sie. Kein Tier hat Hände; es bleibt, wie Focillon schreibt, «handlos». Dies ist ein Mangel und verweist auf den Riss, der zwischen Mensch und Tier verläuft: Die «Schöpfung einer konkreten, von der Natur sich unterscheidenden Welt», so Focillon, «ist die fürstliche Gabe des Menschengeschlechts.» (15f )
Das Handwerk ist daher zutiefst menschlich. Das Werkzeug ergänzt die Hände und erweitert ihre Möglichkeiten. Focillon spricht von einer «Freundschaft» zwischen Hand und Werkzeug, «die nicht mehr enden wird» (17). Die Technik der Hände findet für ihn ihre höchste Form in der Poetik der Hände, in der Kunst. Während der Künstler, wie Focillon in geistreichen Miniaturen zur Kunstgeschichte und im besonderen anhand der Werke von Rembrandt, Rodin, Gauguin und anderen zeigt, seine Hände in höchst komplexer Weise einsetzt, knüpft er dabei zugleich an die Erfahrungen des vorgeschichtlichen Menschen an: «Die Welt ist neu und frisch für ihn, er prüft sie; er genießt sie mit geschärfteren Sinnen als es die des Kulturmenschen sind, er hat sich das magische Gefühl des Unbekannten bewahrt und vor allem die Poetik und die Technik der Hand. Die empfängliche und erfinderische Kraft des Geistes mag noch so stark sein, ohne die Hilfe der Hand endet sie stets nur in einem inneren Tumult» (19). Mit den Händen stiften Menschen Sinn und Bedeutung. Die Kunst ist daher nicht einfach «die Sprache des Menschen, mit der er zu Gott redet, sondern die ewige Erneuerung der Schöpfung» (23).
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Gibt es heute nicht eine Krise der Hände, des menschlichen Bezuges zu seinen Händen? Die industrielle Produktion ist an die Stelle des Handwerks getreten. Die menschliche Hand führt nicht mehr Werkzeuge, die ihr angepasst sind und die ihre Möglichkeiten erweitern, sondern wird maschinell ersetzt. Immer seltener schreibt man noch mit der Hand. Endlose Serien von Fotografien ersetzen mit der Hand geschaffene Kunstwerke, die so selten wie besonders lebendig und menschlich sind. Ohnehin hat sich die Kunst radikal vom Handwerk emanzipiert, während Focillon im Künstler noch einen «hartnäckigen Überlebenden des Handwerks» (23) sehen konnte. Die komplexe Vielfalt handlicher Tätigkeit reduziert sich immer mehr darauf, dass Knöpfe und Tasten gedrückt oder Wischbewegungen auf einem Bildschirm ausgeführt werden.
Interessanterweise ist es heute gerade die Hirnforschung, die an die Bedeutung der Hände für die Entwicklung kognitiver Fähigkeiten erinnert. Focillon erfasst dies in aphoristischer Kürze: «Aber zwischen Geist und Hand sind die Beziehungen nicht so einfach wie die zwischen einem an Gehorsam gewöhnten Herrn und einem folgsamen Diener. Der Geist bildet die Hand, die Hand bildet den Geist.» (42) Ohne die Pflege der Hand – also ohne mit den Händen etwas zu tun und zu handeln – könnten wichtige Dimensionen des Menschseins verloren gehen. Kein Werk der Hände mehr, nur noch maschinelle Produkte. Keine Freiheit, kein Wissen, keine Menschlichkeit ohne das Wunder der Hand, ohne «ihre eigene Fähigkeit zur Tat und zur Wahrheit», die Focillon bei den Graveuren, Goldschmieden, Miniaturmalern und Lackmalern entdeckt, die sich aber, wo immer gehandelt wird, zeigt (40).
Es könnte daher an der Zeit sein, sich der Hände wieder zu erinnern: staunend, bewundernd und voller Achtung vor dem Wunder, dass wir Hände haben, um überhaupt etwas in den Händen halten zu können, um zu nehmen und zu geben, um zu streicheln und zu berühren, um zu grüßen und Abschied zu sagen oder um zu schaffen und zu behandeln. Ja, mit den Händen kann man auch verletzen und zerstören. Auch das Abgründige ist den Händen als Werkzeugen der Freiheit nicht fern. Aber zuallererst zeigt sich in ihnen die Freundlichkeit des Menschen, seine wohlwollende Tatkräftigkeit und Wahrheitsliebe, seine schöpferische Würde, für die unsere Hände mehr als nur ein Bild sind. Focillon nennt die Hand einen «fünfgestaltigen Gott» (29). Ein starkes Bild. Aber lässt sich an der Göttlichkeit der Hände zweifeln, solange man von den Händen Gottes – seiner Macht und Güte – noch ein fernes Echo vernimmt?