Schuld und Vergebung

Wenn man Kinder, die etwas angestellt haben, zufällig ertappt, kann es vorkommen, dass sie gleich ausrufen: «Ich bin’s nicht gewesen, der da war’s.» Offensichtlich bedarf es keiner langen Einübung, um jene Kunst zu erlernen, die wir alle mehr oder weniger meisterhaft beherrschen: die Kunst, es nicht gewesen zu sein. Oft sind wir es gewesen, wollen es aber nicht wahrhaben. Es müssen schon die anderen gewesen sein, die uns dazu gebracht haben, etwas zu tun, was wir gar nicht tun wollten – oder doch? Was bietet sich mehr an, als in einem fast automatischen Reflex erst einmal die anderen zu bezichtigen, um selbst besser dazustehen? Strategien der Fremdbezichtigung anderer dienen fast immer der Selbstentlastung oder der Selbsterhöhung. Der Mensch, der es nicht aushält, Täter zu sein, sucht nach Ersatztätern und Alibis, auf die er die Schuld abwälzen kann. Das ist schon bei Adam so, der sofort mit dem Finger auf Eva zeigt: «Die da war’s!» Heute erleben wir mehr und mehr eine «Übertribunalisierung» (Odo Marquard) der Lebenswelt, in der jeder gnadenlos unter Rechtfertigungsdruck gerät oder geraten kann. Erleichterung findet das unter Legitimationsdruck geratene Ich, indem es die «Flucht in die Unbelangbarkeit» antritt. Es weigert sich immer dann, in der ersten Person Singular zu sprechen, wenn es um die Übernahme von Schuld geht, wechselt flink zum «man» über und kann sich plötzlich an nichts mehr erinnern. Schon Nietzsche notierte: «‹Das habe ich getan›, sagt mein Gedächtnis. ‹Das kann ich nicht getan haben› – sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich – gibt das Gedächtnis nach.» Der Mensch, der die Absicht hatte, es gewesen zu sein, will es nun doch nicht gewesen sein; das mündige Subjekt droht sich selbst zu entmündigen, wenn es sich weigert, Verantwortung zu übernehmen.

Das Vaterunser unterbricht diese Mechanismen der Schuldabwälzung und Verantwortungsflucht. Wer betet oder zu beten versucht: «Vergib uns unsere Schuld!», hat die eigenen Verfehlungen längst zugestanden und hält sie ins Licht der Vergebung. Wir sind nicht so gut und perfekt, wie wir in den Augen anderer oder vor uns selbst gerne dastehen würden. Wir haben Schwächen, die wir lieber nicht hätten. Das Vaterunser lädt dazu ein, diese Schwächen, die aus Taten und Unterlassungen bestehen, nicht zu vertuschen, sondern zuzugeben und auf die Barmherzigkeit Gottes zu bauen. Das kann eine Stärke sein. Wer um Vergebung bittet, hat aufgehört, die Schatten der eigenen Geschichte zu verdrängen oder zu vergessen, er hält sie ins Licht der Gnade – in der Hoffnung neu anfangen zu können. Die Bitte im Vaterunser wird allerdings gleich ergänzt durch den Zusatz: «wie auch wir vergeben unseren Schuldigern!» Wer erfährt oder erfahren hat, dass er nicht auf seine Fehler festgelegt wird, sondern neu anfangen kann, der soll auch bereit sein, andere nicht auf ihre Fehler festzulegen und sie neu anfangen zu lassen. «Ertragt einander und vergebt einander, wenn einer dem anderen etwas vorzuwerfen hat! Wie der Herr euch vergeben hat, so vergebt auch ihr» (Kol 3, 13). Der Dankbarkeit über das Geschenk der Vergebung entspricht die Bereitschaft, ja die Pflicht, anderen zu vergeben, die schuldig geworden sind – und das nicht nur einmal, sondern immer wieder (vgl. Mt 18, 21–35). Vergebung aber, die den anderen nicht auf die moralischen Hypotheken der Vergangenheit fixiert, behandelt ihn so, als ob er nicht gefehlt hätte. So setzt sie die besseren Möglichkeiten des anderen frei und ist ein «Heilmittel gegen die Unwiderruflichkeit» (Hannah Arendt).

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Die vorliegende Ausgabe der COMMUNIO setzt die Vaterunser-Reihe fort. Den Auftakt machen zwei bibeltheologische Beiträge. Georg Braulik warnt vor einer individuellen Engführung der fünften Vaterunserbitte und erinnert an ein eindrückliches Volks-Klagegebet bei Jesaja ( Jes 63, 7–64, 11), in dem die Israeliten in einer Situation der äußersten Gottesverdunklung die Vaterschaft Gottes einklagen und ihre kollektive Schuld eingestehen. Robert Vorholt geht den beiden Varianten des Vaterunsers im Lukas- und Matthäus-Evangelium nach und stellt die Angewiesenheit des Menschen auf Vergebung heraus, dessen Freiheit nie ganz dem Willen Gottes entspricht, weil sie immer wieder geneigt ist, sich durch die Macht des Bösen gefangen nehmen zu lassen. Bertram Stubenrauch ruft die Unterscheidung zwischen Schuld als moralischer Pflichtverletzung und Sünde als Bruch im Gottesverhältnis in Erinnerung und entwickelt Konturen einer Erlösungslehre, die auf eine Heilung der dramatischen Störung im Gottesverhältnis abzielt. Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive greift Matthias Buschmeier das dem österlichen Exsultet entstammende Motiv der felix culpa auf und weist auf Phänomene einer kulturellen Produktivkraft der Schuld hin.

An die programmatischen Beiträge schließen sich drei Miniaturen an. Der einstige Erzbischof von Paris, Jean-Marie Lustiger (1926–2007), berichtet in einer Rundfunkansprache anlässlich des Düsseldorfer Katholikentags 1982 von seiner persönlichen Unfähigkeit, den Tätern, Mitwissern und Mitläufern von Auschwitz zu verzeihen. Erst die Betrachtung des Evangeliums und die Erinnerung an den Gebetsruf des sterbenden Christus: «Vater, verzeih ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!» habe seine Haltung ändern können und den kühnen, letztlich nur im Geheimnis Gottes verstehbaren Gedanken freigesetzt, dass «im Empfang des Verzeihens, das der Gekreuzigte schenkt, die ungezählten Opfer, denen er sich in seinem Leiden zugesellt hat, auch ihm zugesellt werden im Verzeihen, das er gewährt». Eine fast vergessene, aber höchst eindrückliche Kurzgeschichte von Hans Bender (1919–2015) spielt eine Szene aus einem Feuergefecht kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs ein. Ein englischer Soldat erschießt einen deutschen Jungen – kann es nicht fassen und ruft nur noch: Forgive me! Auch im Werk des Berliner Schriftstellers Hartmut Lange gibt es Novellen, die um das Problem der Versöhnung kreisen. Im Imaginationsraum der Literatur wird möglich, was im realen Leben unmöglich ist: Täter und Opfer gehen Arm in Arm spazieren – und provozieren moralische Entrüstung…

In den Perspektiven legt Hartmut Lange im Gespräch mit Jan-Heiner Tück Hintergründe seines literarischen Schaffens offen. Thomas Söding setzt sich kritisch mit dem Vorschlag von Papst Franziskus auseinander, die sechste Vaterunserbitte im Sinne der französischen Übersetzung zu verändern: «Und lass uns nicht in Versuchung geraten.» Er erinnert an die Versuchung Christi, die seiner Jünger und die der Kirche, um den Sinn der anstößigen Bitte neu zu erschließen. Darüber hinaus erinnert Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz anlässlich des 20. Todestages von Josef Pieper an ein Leitmotiv seines Denkens, dass das Wirkliche gut und infolgedessen das Böse in seinen unterschiedlichen Manifestationen wirklichkeitsarm sei. Michael Gassmann, selbst künstlerischer Leiter des Internationalen Musikfestivals Heidelberger Frühling, zeigt in seinem Essay «Gott – Erde – Geist» auf, wie Klassik-Festivals in den letzten Jahren zu Orten einer weitgefassten und teils ins Esoterische reichenden Spiritualität mutiert sind. Diese Entwicklung macht offensichtlich auch vor Kirchen und Kathedralen nicht halt.

Mit dem veränderten Layout der COMMUNIO, das für neue farbliche Akzente auf dem Umschlag und eine Auflockerung des Schriftbilds sorgt, werden ab diesem Heft auch zwei neue Rubriken eingeführt: Buchempfehlungen der Redaktion und Verdichtungen, in denen Lieder, Hymnen und Gedichte vorgestellt und gedeutet werden. Holger Zaborowski macht den Anfang und würdigt «Das Lob der Hand» von Henri Focillon. Die Bamberger Poetin Nora Gomringer hat die erste Verdichtung übernommen, sie präsentiert das Gedicht Herbsthauch von Friedrich Rückert, das in wenigen Zeilen die Trauer über das Vergehen

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