Die Seligpreisungen der Bergpredigt sind ein Selbstportrait Jesu; er drückt ihnen seinen Stempel auf; er verifiziert sie durch sein Leben, sein Sterben und seine Auferstehung. So hat der Evangelist Matthäus seinen Jesus gesehen, der mit den Seligpreisungen die Bergpredigt beginnen lässt, seine erste große Rede (Mt 5, 3–12).
Als Wort Jesu sind die Seligpreisungen ein Wegweiser für die Jünger in der Nachfolge; sie sind ein Zeichen der Hoffnung mitten in einer Welt des Todes; sie sind eine Ermutigung, neu zu leben, weil Gott das Leben erneuert. Die letzten Seligpreisungen sprechen von der Verfolgung um der Gerechtigkeit (Mt 5, 10) und um des Glaubens willen (Mt 5, 11f; vgl. Lk 6, 22f ). Sie spiegeln die Herausforderung Jesu und der ersten Christusgläubigen, auf Gewalt nicht mit Vergeltung, sondern mit Versöhnung zu antworten. Sie nehmen darin auf, was von Anfang an die Seligpreisungen kennzeichnet: eine spirituelle Armut, die nicht ohnmächtig macht, sondern Kraft gibt, weil sie in der Nachfolge Jesu auf Gott setzt.
Augustinus hat in seiner Auslegung der Bergpredigt1 erkannt, dass die erste und die achte Seligpreisung genau dieselbe Hoffnung auf die Herrschaft Gottes, das Himmelreich, machen, die durch die Urverkündigung Jesu angezeigt wird (Mt 4, 17). Er hat aus dieser Beobachtung abgeleitet, dass die Seligpreisungen des Matthäusevangeliums einen zugleich inneren und äußeren Weg der Jüngerschaft vorzeichnen, der nie an ein Ende kommt, sondern immer von neuem beginnt, solange die Zeit währt: «Sieben sind es also, die zur Vollkommenheit führen. Denn die achte klärt und erhellt, was vollkommen ist, wie auch die anderen über diese Stufen zur Vollkommenheit geführt werden, gleich als ob sie am Anfang wieder begönne». Deshalb sind die Seligpreisungen nicht ein für alle Mal abgetan, sondern immer neu am Werk, das Wort Gottes zum Wort des Lebens zu machen.
Ein Friedenslied
Bei Matthäus lesen sich die Seligpreisungen2 wie ein Psalm. In der kürzeren Parallele bei Lukas (Lk 6, 20f ) ertönt die Fanfare eines kernigen Dreiklangs, der Armut, Hunger und Tränen kontrafaktisch seligpreist; bevor drei harsche Weheworte gegen die Reichen, die Satten und die grinsenden Lacher geschleudert werden (Lk 6, 23f ), gefolgt von einem Gerichtswort gegen jene, die bei den Menschen hoch angesehen, vor Gott aber tief gefallen sind (Lk 6, 25).
Die Satzmelodie bei Matthäus ist harmonischer. Achtmal und ein weiteres Mal heißt es: «Selig». Selig ist, wer überglücklich ist. «Glückselig» trifft es gut. Die Seligkeit ist ein himmlisches Glück, das schon auf Erden genossen wird. Sie ist ein Segen, wie die englische Übersetzung deutlich macht: nicht «happy», sondern «blessed». Die Seligpreisungen erklären sich im Horizont einer Gotteserfahrung, die nicht den Neid der Götter zu fürchten braucht, sondern auf Gerechtigkeit und Barmherzigkeit ohne Ende zu setzen vermag, für die Jesus mit seinem Leben eintritt (Mt 3, 17).
Das Segenslied der Seligpreisungen ist Gotteslob pur. Deshalb ist es auch Anerkennung und Ermutigung – gerade für diejenigen, die Gott vergessen zu haben scheint und die womöglich ihrerseits Gott vergessen haben. Die Seligpreisungen sprechen nicht immer neue, sondern immer die gleichen Menschen unter immer neuen Aspekten an: Die «arm sind vor Gott», haben ein reines Herz; sie haben die Fähigkeit, zu trauern; sie hungern und dürsten nach Gerechtigkeit, um derentwillen sie verfolgt werden. So sind auch die Verheißungen, die Zeile für Zeile das «Selig» begründen, nicht immer neue, sondern immer die gleichen: Im «Reich der Himmel» werden die Tränen abgewischt; niemand braucht mehr zu hungern und zu dürsten; niemand wird zu Unrecht enteignet; alle werden Gott schauen und sich als Kinder Gottes erkennen.
Die meisten der Seligpreisungen fassen leidende Menschen ins Auge – weil sie des Zuspruchs am dringendsten bedürfen. Aber die Seligpreisung der Friedensstifter nennt Aktivposten der Nachfolge: diejenigen, die Kriege beenden und Versöhnung bewirken. In derselben Richtung sind auch die Barmherzigen aktiv (Mt 5, 7) – zugunsten derer, die, erbarmungswürdig, auf ihre Hilfe angewiesen sind. Die innere Haltung der Friedensstifter wird besonders klar in der Seligpreisung derer angezeigt, die – je nach Übersetzung – als die «Sanftmütigen» (Luther), die Milden (Vulgata: mites) oder die Gütigen angesprochen werden (Mt 5, 5). Jesus selbst legt diese Sanftmut, diese Milde und Güte an den Tag: als derjenige, der seinen Schülern ein leichtes Joch auflegt, um sie zu Gott zu führen (Mt 11, 29), und als messianischer Friedenskönig in Jerusalem einzieht, wo er mit Worten des Propheten Sacharja begrüßt wird (Mt 21, 5 – Sach 9, 9).3
Hörte und läse man nur die anderen Seligpreisungen, könnte man auf die Idee kommen, es werde Schwäche prämiert, wie Friedrich Nietzsche das Evangelium karikiert hat.4 Es bestände dann Grund, in der Bergpredigt das «Eiapopeia vom Himmel» angestimmt zu finden, mit dem man nach Heinrich Heine «einlullt, wenn es greint, das Volk, den großen Lümmel»5. Aber die Seligpreisung derer, die Frieden stiften, entkräftet diesen Verdacht. Sie zeigt paradigmatisch, in welcher Richtung die Welt sich zu verändern beginnt, wenn das Wort Jesu den Takt angibt.
Ein Hoffnungswort
Die Seligpreisungen bei Matthäus6 stellen in der Bergpredigt das, was Gott für die Menschen tut, vor das, was die Menschen für Gott, für ihre Nächsten und für sich selbst tun sollen. Aber sie zeigen zugleich auch, dass Gott an den Menschen und für sie nicht ohne sie, sondern mit ihnen, in ihnen und durch sie handelt. Wie in vielen Psalmen Israels gehen Seligpreisungen deshalb auch bei Matthäus mit ethischen Einladungen und Anleitungen einher (vgl. Ps 1; 2, 12; 32, 1f; Tob 13, 14f ). Die Frömmigkeit der Armen setzt Maßstäbe.7 Wie das Evangelium zeigt, steht Gottes Barmherzigkeit nicht unter der Bedingung menschlichen Wohlverhaltens; aber die Gerechtigkeit verlangt, dass die lebensverändernde Kraft der Umkehr und des Glaubens in der Heilsverkündigung selbst zum Ausdruck kommt. Für Jesus ist dies eindeutig – weil er selbst lebt, was er sagt, und sagt, was er will.
Weil es diese Entsprechung gibt, wissen sich diejenigen, die alles der Barmherzigkeit Gottes verdanken, gehalten, ihrerseits barmherzig zu sein (Mt 5, 7) – anders als der unbarmherzige Knecht, der eine astronomisch hohe Summe erlassen bekommen hat, aber seinerseits nicht willens ist, seinem Schuldner eine vergleichsweise geringe Summe zu stunden (Mt 18, 23–35).8 Die Barmherzigen, die bei Jesus in die Schule gehen, wissen auch, dass sie in all ihrer Großzügigkeit immer nur auf Gottes Barmherzigkeit hoffen müssen, weil sie nicht vollkommen sind, selbst wenn sie anderen helfen können, und weil Gott mit den Menschen immer noch mehr vor hat, als die zu träumen wagen.9
Nach derselben Logik läuft die Seligpreisung der Friedensstifter. Das griechische Wort ist selten. Es setzt sich im griechischen Urtext aus zwei Teilen zusammen: «Frieden» (eirene)und «machen» (poieo). Im Kolosserhymnus wird Jesus Christus als ein solcher peacemaker vorgestellt, der durch die Hingabe seines Lebens Himmel und Erde, Gott und Menschen ein für alle Mal versöhnt (Kol 1, 20). Auch wenn dieser Sinn nicht in die Bergpredigt eingetragen werden darf, zeigt die Parallele die kreative Kraft der Friedensstifter an. Nach der Septuagintaversion der Proverbien stiftet Frieden, wer Klartext redet und dadurch die Wahrheit ans Licht bringt (Spr 10, 10). Näher noch liegt die Verheißung Gottes nach Jesaja, dass die Zukunft denen gehört, die Frieden mit ihm schließen ( Jes 27, 5).10 Doch die Perspektive der Seligpreisung ist eine andere: Der Friede muss nicht mit Gott, sondern mit Menschen geschlossen werden – und die Jünger Jesu sollen mit solchen Aktionen vorangehen; denn Gott ist ein «Gott des Friedens» (Röm 15, 33; 1 Kor 14, 33; Phil 4, 9; 1 Thess 5, 23; Hebr 13, 20). Nicht er führt Krieg gegen die Menschen – die Menschen führen Krieg gegen ihn und gegen einander, auch gegen sich selbst. Die Verwundungen sind so tief, dass sie nicht mit menschlicher Medizin geheilt werden können; spätestens an der Grenze des Todes, mag sie auch noch so weit verschoben werden, endet die ärztliche Kunst. Gott aber beendet alle Kriege – nicht um einen faulen Frieden zu erzwingen, sondern um vollendeten Frieden zu schaffen, der zugleich vollendete Gerechtigkeit ist (Röm 14, 16).
«Frieden» hat in der Seligpreisung denselben großen Sinn wie in allen charakteristischen Verheißungen und Weisungen des Alten wie des Neuen Testaments.11 Das hebräische schalom fängt diesen Sinn ebenso ein wie das griechische eirene. Das Matthäusevangelium nimmt diesen Faden auf: Die Jünger sollen als Missionare der Gottesherrschaft den «Frieden» wünschen (Mt 10, 13). Sie verkünden die Nähe der Herrschaft Gottes (Mt 10, 7) – in Wort und Tat (Mt 10, 8), wie Jesus. Von ihm erhalten sie den Auftrag, aber auch die Vollmacht und das Recht, sowohl Taten sprechen als auch Worte wirken zu lassen. Sie sollen Kranke heilen, Tote auferwecken, Aussätzige reinigen und Dämonen austreiben. Patrick Roth hat in Johnny shines, dem Mittelteil seiner Christus-Trilogie, diese Mission literarisch ernstgenommen – und gezeigt, wie jede einzelne solcher Taten dem Frieden dient, auch wenn sie die Täter als Störenfriede erscheinen lassen.12
Freilich stellt Jesus klar, dass er keine Friedhofsruhe meint, sondern die Fülle des neuen Lebens, die sich einstellt, wenn die Krankheit geheilt, die Schuld gebüßt und der Tod besiegt worden sind. In der ihm eigenen provokatorischen Kraft erklärt er: «Denkt nicht, ich sei gekommen, Frieden auf die Erde zu bringen; ich bin nicht gekommen, den Frieden zu bringen, sondern das Schwert» (Mt 10, 34). Diese Kritik zu üben, wird auch die Aufgabe der Jünger sein; auch sie müssen zwischen Gott und Götze, gerecht und ungerecht, Glaube und Aberglaube scharf unterscheiden. Alles andere würde den Frieden, wie vielfach geschehen, zu einer Ideologie machen, die unter der Maske des Guten das Böse wachsen lässt.13 Der Kontext der Aussendungsrede, zu der das Schwertwort Jesu gehört, beschreibt zahlreiche Situationen, in denen diese Kritik gewaltsame Abwehrreaktionen auslöst, in der Öffentlichkeit wie in den Familien (Mt 10, 18.21f ). Politik und Religion reagieren feindlich, weil Jesus die in der alten Welt gängige Symbiose von Politik und Religion auflöst; die Familien, die in der antiken Gesellschaft traditionell über alles, auch die Religion, bestimmen14, werden aggressiv, weil Jesus in seinem Plädoyer für den Glauben die natürlichen Bindungen radikal relativiert und im Zeichen seiner Freiheit neu konstituiert.
Die Seligpreisungen gaukeln keine heile Welt vor. Sie öffnen die Augen für die Härten des Lebens – aber mehr noch für die Spuren Gottes in aller erlittenen Unbill. Jesus macht Hoffnung, dass diese Spuren nicht im Sande verlaufen. Er selbst bahnt den Weg, sie zu finden. Weil Jesus zeit seines Lebens auf dem Weg zu den Armen und Hungernden ist, den Kriegsopfern, den Verfolgten, gibt er dem «Selig» sein eigenes Gesicht. Er verkündet und verkörpert die Nähe der Himmelsherrschaft. Die Dimensionen des Vaterunsers «…wie im Himmel, so auf Erden» (Mt 6, 10) sind auch die Dimensionen der Seligpreisungen. Sie blicken nach oben, zu Gott, damit sich unten, auf Erden, die Welt ändert; sie blicken nach vorne, in die Zukunft, damit sich jetzt, in der Gegenwart, die Zeit für die Ewigkeit öffnet. Damit unterscheiden sie sich grundlegend von allen Friedensversprechungen politischer Heilsbringer in der Antike wie in der Gegenwart.15
Ein Handlungsimpuls
Die Seligpreisungen sind bei Matthäus kein Tugendspiegel; aber sie vergegenwärtigen Gottes Heilswillen so, dass er auch das Sinnen und Trachten, das Denken, Beten und Handeln der Jünger prägt. Insofern sind die Verheißungen auch Impulse, die eigene Lebenssituation vor Gott anzuschauen und zu verändern. Die Seligpreisung der Friedensstifter gibt den Ton an. Jesus leitet und treibt seine Jünger an, Friedensapostel im wahrsten Sinn des Wortes zu werden.
Das griechische Wort eirenepoios ist ein Adjektiv; es charakterisiert die Seliggepriesenen. Jesus hat also nach der Bergpredigt nicht nur einzelne Taten im Blick, auf denen Segen liegt, weil sie dem Frieden dienen, sondern die Menschen selbst, die Frieden schaffen. Diese Blickrichtung ist die aller Seligpreisungen. Jesus geht es um die Menschen selbst – und deshalb geht es ihm um ihr Ethos. Wer Frieden stiftet und deshalb seliggepriesen wird, tut es also, dem Wort Jesu gemäß, von ganzem Herzen und mit ganzer Kraft, auch mit vollem Verstand. Indem sie Frieden stiften, bringen die Jünger zum Ausdruck, dass sie selbst vom Frieden Gottes erfüllt sind und ihn verbreiten wollen.
Wie dies geschieht, können sie an Jesus sehen. Der Bergpredigt folgt eine ganze Serie von guten Werken Jesu, die als staunenerregende «Wunder» im Gedächtnis bleiben, aber in erster Linie der Barmherzigkeit und Gerechtigkeit Gottes Geltung verschaffen: Er reinigt einen Aussätzigen und integriert ihn damit wieder in die Gemeinschaft des Gottesvolkes (Mt 8, 1–4). Er heilt den Knecht eines römischen Hauptmanns und schlägt dadurch eine Brücke zwischen Juden und Heiden: kraft des Glaubens (Mt 8, 5–13). Er befreit die Schwiegermutter des Petrus von einem Fieber und stellt so den Familienfrieden wieder her (Mt 8, 14f ). Er heilt Besessene und Kranke, die er von ihrem Leiden befreit (Mt 8, 16f ). Er verjagt Dämonen aus dem besessenen Gadarener und gibt ihn so wieder dem Leben zurück (Mt 8, 28–34). Er stellt den Gelähmten wieder auf seine eigenen Beine und vergibt ihm seine Sünden (Mt 9, 1–8). Er weckt die Tochter eines Synagogenvorstehers von den Toten auf und heilt eine Frau von der Unreinheit des Blutflusses (Mt 9, 18–26). Er lässt zwei Blinde wieder sehen (Mt 9, 27–31) und einen Stummen wieder reden (Mt 9, 32ff ). Keine dieser Machttaten ist eine Blaupause für seine Jünger; aber jede kann ihnen zeigen, wie Jesus Frieden stiftet. Ihnen selbst sind, kleingläubig, wie sie sind, nicht dieselben Kräfte wie Jesus gegeben. Aber die Bedeutung der Krankenpflege und der empathischen Therapie, der Entdämonisierung der Welt und der Vergebung der Sünden sind in der Praxis Jesu grundgelegt, so dass sie von der Kirche nur wahrgenommen zu werden brauchen und umgesetzt werden müssen. Wie das geschehen kann, gibt die Bergpredigt vor. Sie greift die Seligpreisungen auf, indem sie die Jünger mit dem «Salz der Erde» und dem «Licht der Welt» vergleicht, mit der «Stadt auf dem Berge», die nicht verborgen bleiben kann, so dass die Jünger die guten Werke, die sie tun, wie viele sie tun, so erleuchten, dass diejenigen, die sie sehen, Gott zu loben beginnen (Mt 5, 13–16).16
Ein Versöhnungswerk
Die Seligpreisungen bilden den Auftakt der Bergpredigt; sie enthalten in nuce die ganze Rede, werden aber in den folgenden Worten ausgeführt und erläutert. Dort kommt der Anspruch, der den Seligpreisungen innewohnt, zum Ausdruck, zuerst in einer grundsätzlichen Klarstellung zur Erfüllung des Gesetzes (Mt 5, 17–20), dann in den sog. Antithesen (Mt 5, 21–48) und in der Katechese über drei Werke der Barmherzigkeit (Mt 6, 1–18), bevor Fragen des Alltags besprochen werden (Mt 6, 18 – 7, 12).
Die Antithesen (Mt 5, 21–48)17 zeigen, locker am Dekalog orientiert, wie es möglich wird, in den elementaren Lebensverhältnissen Frieden zu stiften, indem Barmherzigkeit und Güte walten. Die erste Antithese (Mt 5, 21–26) legt es nahe, die Versöhnung mit einem Bruder zu suchen, bevor ein Opfer dargebracht wird; charakteristisch ist die Wendung: «…und du dich erinnerst, dass dein Bruder etwas gegen dich hat, …» (Mt 5, 23). Ob der Groll oder gar der Hass begründet ist oder nicht, ob der Bruder schuldig oder unschuldig ist, macht keinen entscheidenden Unterschied: Es gilt, den ersten Schritt zur Versöhnung zu gehen (Mt 5, 24).
Die zweite und dritte Antithese befassen sich mit den intimsten und fragilsten, aber auch den wichtigsten und stärksten Nahbeziehungen: mit ehelicher Treue und ehelicher Gemeinschaft zwischen Mann und Frau (Mt 5, 27–32). Dass Ehebruch massiven Unfrieden stiftet, der auch durch eine Ehescheidung im Regelfall nicht befriedet werden kann, leuchtet unmittelbar aus der Erfahrung ein; dass Jesus darauf achtet, dass der Ehebruch schon im Herzen beginnt, längst bevor es zur Tat selbst kommt, zeigt, wie weit im Vorfeld die Kriegsprävention beginnt und wie tief die eheliche Gemeinschaft – wenn auch unter patriarchalischen Verhältnissen – gedacht ist, durchaus ungewöhnlich für die Zeit der Antike, wenngleich nicht ohne Analogien in glücklichen Ehen, die Griechen18 und Römer19 wie Juden20 feiern können. Das Verbot der Ehescheidung «außer bei Unzucht» wahrt genau die Balance: Es gibt eheliche Zerrüttung bei massivem sexuellen Fehlverhalten, die einen Ehekrieg auf Dauer stellen würden und deshalb durch eine Ehescheidung, wenn nicht versöhnt, so doch in ihrer zerstörerischen Kraft eingedämmt werden können. Das Ehescheidungsverbot selbst aber stabilisiert nicht nur die Paarbeziehungen, die in der Antike üblicherweise Teil eines größeren sozialen Organismus gewesen sind, des «Hauses», sondern gibt auch einen starken Impuls für die Zivilisierung des Lebens durch die Liebe.
Die vierte Antithese (Mt 5, 33–37) behandelt das in der biblischen wie der paganen Weisheitsliteratur stark betonte Thema der Sprache: Jedes Wort soll der Wahrheit dienen. Wie schon in der ersten Antithese (Mt 5, 22) ist damit einerseits ausgeschlossen, Zwietracht durch Verleumdung zu säen und Unrecht durch Meineid zu decken. Andererseits wird deutlich, wie sehr die Beziehungen durch eine klare, empathische, wahrheitsgetreue Sprache gefördert wird, die nichts schönredet, aber auch nichts zerstört, was Leben in sich hat.
Die fünfte und sechste Antithese schließlich, die Gewaltverzicht und Feindesliebe verbinden (Mt 5, 38–48)21, sind die denkbar engsten Verbindungen mit der Seligpreisung der Friedensstifter. Einerseits sind auch sie nicht reine Forderungen, sondern wie die Seligpreisung (Mt 5, 9) mit der Verheißung der Gottessohnschaft verknüpft (Mt 5, 45). Andererseits zeigt die Seligpreisung, dass Gewaltverzicht keineswegs reine Passivität, sondern höchste Aktivität bedeutet und dass Feindesliebe Konflikte nicht etwa hingehen lässt, sondern löst. Die drastischen Beispiele persönlicher Schmach, wirtschaftlicher Ausplünderung und militärischer Unterdrückung, die Jesus der fünften Antithese zufolge wählt (Mt 5, 39ff ), stehen für massive Friedensverletzungen; sie werden nicht dadurch gelöst, dass in gleicher Weise Krieg geführt wird, wie er erlitten wird; vielmehr sollen die Jünger durch ihr Verhalten die Aggressivität, die ihnen entgegenschlägt, unterlaufen und dadurch den Kreislauf der Gewalt durchbrechen – um den Feind eines Besseren zu belehren. Mit einem Pazifismus, der sich nicht wehren kann oder will, hat das, was Jesus fordert, nichts zu tun; aber sehr viel mit einem Pazifismus, der, um Frieden zu schaffen, lieber Unrecht leidet, als Unrecht zu tun.
Jesus sagt provokativ, wie weit man in extremen Situationen zu gehen bereit sein muss, um auch in alltäglichen Herausforderungen den Frieden dadurch zu fördern, dass Gewalt ausgebremst wird. Das wird noch klarer, wenn der Zusammenhang mit der Feindesliebe gesehen wird. Die erste Konkretisierung nach Matthäus ist die Fürbitte für die Verfolger (Mt 5, 44): ein Friedensgebet par excellence, weil nicht um die Vernichtung der Feinde, auch nicht nur um den Schutz vor ihnen, sondern für sie: für ihre Besserung, ihre Umkehr, ihre Liebe gebetet wird – zu ihrem Besten, das Gott am besten kennt. Die Begründung für die Kreativität der Feindesliebe, die den Hass auf die Sünder und Frevler überwindet, ist das Handeln Gottes selbst: der als Schöpfer nicht nur den Guten und Gerechten, sondern auch den Bösen und Ungerechten die Sonne scheinen und den Regen fallen lässt, so dass sie leben können – nicht weil er es nicht anders könnte, sondern weil er es nicht anders will, der er in seiner Liebe denen, die sich vom Leben abschneiden, immer noch einmal Zukunft schenkt.
Auch im folgenden Redeabschnitt über die Werke der Liebe wird die Friedensoption greifbar. Jesus spricht Matthäus zufolge die Almosen, das Beten und das Fasten an (Mt 6, 1–18). Durchweg steht die Versuchung der Heuchelei vor Augen. Sie vergiftet nicht nur die Gottesbeziehung; sie sät auch Zwietracht, weil sie moralische Güte und religiöse Inbrunst zur Schau stellt, indem sie andere Menschen benutzt, um vor ihnen und durch sie groß dazustehen. Almosen ersetzen keine Sozialgesetzgebung, mildern aber Ungerechtigkeit und sollen um ihrer selbst willen, also im Interesse der Bedürftigen getan werden. Das Beten darf nicht auf die Erfüllung der eigenen Interessen gerichtet, sondern muss am Willen Gottes orientiert sein. Das Fasten ist ein Verzicht, aus dem die Solidarität mit den Leidenden, Hungernden und Trauernden spricht.
Ein Aufbruchssignal
Die Bergpredigt steht bei Matthäus am Anfang des Wirkens Jesu. Sie ist das Signal eines Aufbruchs, der Jesus zuerst «zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel» (Mt 15, 24) führt, bevor nachösterlich alle Völker sein Evangelium hören sollen (Mt 28, 16–20).
In Galiläa, auf dem Berg, hat Matthäus diese Dynamik angelegt. Jesus redet, weil er die vielen Menschen sieht, die aus ganz Israel, aber auch von weit her zu ihm gekommen sind (Mt 4, 23ff ). Er redet zu seinen Jüngern (Mt 5, 1f ) – aber so, dass die Menschen am Fuß des Berges hören können, was er den Seinen sagt (Mt 7, 28f ). Dadurch geraten sie ins Staunen und können selbst entscheiden, ob sie näher an Jesus heran- und in seine Schule eintreten oder ob sie lieber abwarten oder gar sich abwenden wollen.
Durch diese Art der Kommunikation wird die Friedensbotschaft Jesu verifiziert. Er setzt sie nicht mit Gewalt durch, was absurd wäre, sondern setzt auf die menschlichen Wege der Kommunikation, auf das Zeugnis in Wort und Tat, auf die Ausstrahlung und Anziehungskraft des Evangeliums.
Die Seligpreisung der Friedensstifter passt genau in diese typische Verkündigungssituation, die ein Verstehen ermöglichen soll. «Frieden» ist ein Sehnsuchtswort der Menschheit, die sich oft Illusionen macht; «Frieden» ist ein Versprechen der Religionen, das allzu oft gebrochen wird. Jesus hat eine entschiedene Option für den Frieden Gottes, reklamiert den Frieden aber nicht für sich allein, sondern lenkt den Blick auf alle, die ihn stiften. Diese Blickrichtung wird von ihm selbst ermöglicht, weil er, wie Matthäus ihn sieht, nicht nur im eigenen Namen, sondern im Namen Gottes spricht und deshalb alles, was Menschen anfangen, zu einem guten Ende führen kann.
In erster Linie hat Jesus die Jünger vor Augen, wenn er die Friedensstifter seligpreist. Sie sollen seine Boten auf dem Weg des Friedens sein (vgl. Mt 10, 12). Der Auftrag wird sie an ihre Grenzen – und durch den Tod hindurch zu einem neuen Leben führen, auch schon auf Erden (vgl. Mt 16, 25). Durch sie kann sich die Friedensbotschaft Jesu verbreiten, von Generation zu Generation (vgl. Mt 28, 16–20). Sie können durch ihr Verhalten das Evangelium diskreditieren – und sind dann auf andere angewiesen, die sie zur Umkehr bewegen oder an ihre Stelle treten.
Jesus identifiziert nach der Bergpredigt die Friedensstifter aber nicht exklusiv mit den Jüngern. Einerseits stellt er ihnen selbst jene Menschen vor Augen, die im Dienst am Frieden stehen, ohne dass sie zur Jüngerschaft gehören. Es sind viele von denen, die am Ende ganz erstaunt fragen werden, wo und wie sie denn dem Menschensohn in seiner Not geholfen haben, und dann die Antwort erhalten, dass sie es in jedem Menschen getan haben, der ihr Erbarmen erfahren hat (Mt 25, 31–46). Andererseits hören alle, die beim Berg zusammengeströmt sind, die Seligpreisung – damit sie sich fragen, ob sie sich nicht ihrerseits aufmachen wollen, dort, wo sie leben, Frieden zu stiften. Sie folgen dann der Weisung Jesu, auch wenn sie nicht seine Nachfolger werden.
Gegenwärtig bekommt der Verdacht immer neue Nahrung, Religionen seien gefährlich, weil sie mit unerbittlichem Hass alle verfolgen müssten, die anders glauben, anderes denken, anders beten, als es die eigene Überzeugung, der eigene Ritus, die eigene Praxis vorschreiben. Dieser Verdacht ist zwar selbst alles andere als unschuldig, weil er die Zerstörungswut von antireligiösen Diktaturen relativiert.22 Aber er kann nur durch religiös inspirierte Friedensaktionen ausgeräumt werden. Die Seligpreisungen der Bergpredigt machen es vor.
Wenn sie als Wort Jesu verstanden werden, im Kontext seines Lebens und Sterbens, zeigen sie ihre vollen Dimensionen. Jesus könnte sie nicht ehrlichen Herzens verkünden, glaubte er nicht an die Auferstehung von den Toten und die befreiende Wirkung dieses Glaubens in der Gegenwart. Deshalb ist der Auferstehungsglaube, in dem Matthäus das Evangelium erzählt und die gesamte neutestamentliche Jesustradition entstanden ist, weder eine Verfremdung noch eine Ergänzung, sondern eine Konsequenz der Bergpredigt. Wer diesen Glauben nicht teilt, kann doch an den Seligpreisungen wenigstens erkennen, welch humanisierende Kraft er hat. Wenn Gott der große Friedensstifter ist, kann kein irdischer Kriegsherr das letzte Wort haben; entzaubert wird jede innerweltliche Friedensutopie, aus der regelmäßig die größten Gewaltexzesse hervorgegangen sind, weil entweder Tugenddiktaturen errichtet oder die Interessen einer Nation, einer «Rasse» oder einer «Klasse» durchgesetzt werden sollten, ohne Rücksicht auf Verluste. Wenn Gott der große Friedensstifter ist, erweist sich die jesuanische und urchristliche Option: «Ein Gott für alle», nicht als tyrannisch, sondern als befreiend; nur in dieser Option für den Frieden lässt sich Mission rechtfertigen. Dann darf sie aber auch nicht unterdrückt werden.
Der eschatologische Ansatz der Friedensbotschaft Jesu konkretisiert die Unterscheidung zwischen Politik und Religion, die von schlechterdings entscheidender Bedeutung für die Humanisierung der Politik ist.23 Weil für Jesus klar ist, dass ein Friede, der jeden Krieg beendet, nur von Gott kommen kann, gibt es Erfahrungen dieses Friedens sogar mitten im Krieg. Aus demselben Grund entsteht nicht nur die Verpflichtung, sondern erst die Möglichkeit, selbst in ausweglos scheinenden Situationen nicht der Resignation zu verfallen, sondern den Frieden zu suchen, um ihn zu finden, wie er sich hic et nunc finden lässt, ohne dass damit bereits der ewige Friede – jenseits der Friedhofsruhe – eintreten und deshalb jeder Friedenseinsatz diskreditiert würde. Dadurch öffnet sich der Blick für eine Friedenspolitik, die sich keiner Illusion über die Gewalt – nicht nur bei den Feinden und Gegnern, sondern auch bei den Freunden und im eigenen Herzen – hingibt. Nach der Bergpredigt gehört zum Friedenstiften auch, den Gegner mit seinen eigenen Waffen zu schlagen – nicht indem man selbst so aggressiv wird, wie man Gewalt erleidet, sondern indem man die Kunst der Selbstverteidigung so übt, dass sie ausgehebelt wird. Der Friedenspolitik öffnet sich dadurch ein weites Feld, und die Friedenssehnsucht findet eine Heimat, aus der es keine Vertreibung geben wird.