Gottesmord?Die Paschahomilie des Melito von Sardes

Aufmerksame Leser der Heiligen Schrift werden sie kennen, die Stadt Sardes. In der Apokalypse des Johannes ist eines der sieben Sendschreiben an die Handelsstadt in Kleinasien gerichtet (vgl. Offb 3, 1–6). Es ist ein eindringlicher Aufruf zu Umkehr und Wachsamkeit. Die ehemalige Hauptstadt der Provinz Lydien, die im 14. Jahrhundert verödet ist und heute in der Türkei liegt, ist mit dem Namen eines Bischofs und Theologen verbunden, der im 2. Jahrhundert zu den führenden Köpfen des sich ausbreitenden Christentums zählte und Verfasser der ältesten Osterhomilie ist: Melito von Sardes. Aus fragmentarischen Notizen, die Eusebius von Cäsarea in seiner Kirchengeschichte mitteilt, geht hervor, dass Melito eigens nach Palästina gereist ist, um die heiligen Stätten in Augenschein zu nehmen und dort eine Liste der kanonischen Schriften des Alten Testaments zu erstellen.1 Sein Verzeichnis weist große Ähnlichkeiten zum Tenach, dem Kanon der Rabbinen, auf. Der Begriff «Altes Testament» geht auf Melito zurück, dessen Theologie der einen Heilsgeschichte ganz offensichtlich gegen den Dualismus Markions gerichtet ist. Dieser schloss die Schriften des Alten Testaments bekanntlich aus seinem Kanon aus, da sie angeblich vom bösen Demiurgen, dem Schöpfergott, Zeugnis ablegten, der mit dem guten Erlösergott in der Verkündigung Jesu nichts gemeinsam habe. Melito, der nach Auskunft des Hieronymus von vielen als Prophet verehrt wurde2, muss ein wortgewaltiger Prediger gewesen sein, seine Schriften sind allerdings bis auf wenige Fragmente verschollen. Eine Ausnahme bildet seine literarisch kunstvoll gestaltete Homilie über das Pascha, die 1940 entdeckt wurde.

I

Diese Predigt ist von einer eigentümlichen Dialektik geprägt. Einerseits tritt sie für die Beibehaltung des jüdischen Erbes ein, andererseits richtet sie sich scharf gegen die Juden, die dieses Erbe falsch verwaltet haben. Im lateinischen Westen begegnet diese Ambivalenz wenig später bei Tertullian, der ein umfangreiches Werk Adversus Marcionem verfasst und zugleich einen Traktat Adversus Iudaeos vorgelegt hat, der eine wenig rühmliche Tradition begründet hat.3 Um die Einheit der Heiligen Schrift in der Zweiheit ihrer Testamente aufzuweisen, gebraucht Melito von Sardes das Instrument der typologischen Methode. Diese sucht Sinnbilder (tu,poi) im Alten Testament auf, die auf die Wahrheit (avlh,qeia) des Neuen vorverweisen.4 Konkret: Der wunderbare Auszug des Volkes Israels aus dem Sklavenhaus Ägypten (Ex 12, 1–29) ist eine Präfiguration auf das Paschamysterium von Tod und Auferstehung Jesu Christi. Um dieses vielschichtige Mysterium zu erhellen, listet Melito ein ganzes Ensemble an alttestamentlichen Figuren auf:

Wenn du das Mysterium des Herrn erblicken willst,
dann sieh auf Abel, der ebenso getötet wurde,
auf Isaak, der ebenso gebunden wurde,
auf Josef, der ebenso verkauft wurde,
auf Moses, der eben ausgesetzt wurde,
auf David, der ebenso verfolgt wurde,
auf die Propheten, die ebenso
um Christi willen
litten. (117, 59)

Das Blut des Lammes aber, mit dem die Israeliten die Türpfosten ihrer Häuser bestrichen haben, damit der Würgeengel vorübergehe, der die Erstgeburt der Ägypter tötete, bezeichnet das kostbare Blut, das der Erlöser zur Rettung der Welt vergossen hat. Das Pascha der Juden ist ein Sinnbild für Christus (vgl. 1 Kor 5, 7), den Gekreuzigten, der das wahre Lamm Gottes ist (vgl. Joh 1, 29.36). Melito meint sogar sprachlich einen Zusammenhang aufweisen zu können, der in der Geschichte der Theologie stark beachtet wurde, obwohl bereits Origenes klargestellt hat, dass er etymologisch nicht haltbar ist: «Was ist das Pascha (pa,sca) / Der Name ist nach dem Geschehen benannt: / Vom ‹Leiden› (pa,qein) kommt das ‹Erleiden› oder ‹Pascha halten› (pa,scein).» (112, 46)

Melito, der die Schädelstätte – Golgatha – bei seiner Palästina-Reise selbst besucht hat, fragt: «Wo ist er ermordet worden?» – und antwortet: «Inmitten von Jerusalem». Diese Auskunft weicht von der neutestamentlichen Überlieferung ab, nach der Jesus außerhalb der Stadt gekreuzigt wurde (vgl. Hebr 13, 12), sie entspricht aber offensichtlich der topographischen Veränderung Jerusalems im ٢. Jahrhundert. Melito ergänzt, dass ausgerechnet in der Stadt, in der Jesus Kranke und Aussätzige geheilt, Blinde sehend und Lahme gehend gemacht hat, ihm das Gute mit Bösem vergolten wird. Die Frage aber: «Durch wen ist er ermordet worden?», ist für Melito klar: «Durch Israel.» Nicht unwahrscheinlich, dass sich in diesen antijüdischen Aussagen auch die Spannungen zwischen der einflussreichen Synagoge und der vergleichsweise kleinen Christengemeinde in der kleinasiatischen Stadt Sardes spiegeln.5 Melito legt jedenfalls dem ganzen Volk Israel den Ruf in den Mund: «O Herr, wenn auch dein Sohn leiden muss und dies dein Wille ist, dann möge er leiden, aber nicht durch mich …» (121, 76). Dass Israel diesen Ruf nicht zu Gott geschrien, sondern im Gegenteil die Hinrichtung willig ausgeführt hat, ja gleichzeitig zum qualvollen Leiden und Sterben Jesu singend und tanzend das Paschafest gefeiert hat, wird in einer ganzen Kaskade von rhetorisch kunstvoll gestalteten Antithesen eingeschärft. Das Volk Israel wird durch das Stilmittel der Personifikation direkt auf sein «Unrecht» hin angesprochen:

Und du warst fröhlich,
Jener aber hungerte;
du trankest Wein und aßest Brot,
Jener Essig und Galle;
du warst strahlenden Angesichts,
Jener dagegen verfinsterte sich;
du warst voll Jubel,
Jener dagegen in Drangsal;
du sangest Psalmen,
Jener schrie … (123, 80)

In diesem Zusammenhang begegnet in der Pascha-Homilie das Wort, das mit dem Namen Melitos seitdem verbunden ist: «Gottesmord» (griech. qeoktoni,a) – ein Wort, das in der Geschichte von Theologie und Kirche eine verhängnisvolle Karriere machen und zur antijudaistischen Kampfvokabel avancieren wird:

Höret es, alle Geschlechter der Völker
und sehet:
Unerhörter Mord geschah inmitten Jerusalems,
in der Stadt des Gesetzes,
in der Stadt der Hebräer,
in der Stadt der Propheten,
in der Stadt, die für gerecht galt!
Und wer wurde gemordet?
Wer ist der Mörder?
Ich schäme mich, es zu sagen. ..
Nun aber geschah
der ungerechte Mord des Gerechten …
Der die Erde aufhing, ist aufgehängt worden;
Der die Himmel festmachte, ist festgemacht worden;
Der das All festigte, ist am Holz befestigt worden!
Der Herr – ist geschmäht worden;
Der Gott – ist getötet worden;
Der König Israels – ist beseitigt worden von Israels Hand. (127f, 96)

II

Um die Anklage des Gottesmords theologiegeschichtlich besser zu verstehen, hat Michael Figura – abmildernd – den Blick auf die damalige Diskussionslage in der Christologie gelenkt.6 Bekanntlich zirkulierten in der Mitte des 2. Jahrhunderts unterschiedliche Deutungsmodelle, wie das Bekenntnis zu Jesus als dem Christus und Herrn (ku,rioj) zu verstehen sei. Im Rahmen dieser christologischen Suchbewegungen wurde die Frage erörtert, wer am Kreuz gestorben sei, ein bloßer Mensch – oder der Sohn Gottes selbst? Melito spricht das Problem direkt an: «Wer wurde ermordet?» Ein erstes Deutungsangebot legte der Adoptianismus vor. Er ging davon aus, dass Jesus als sittlich vorbildlicher Mensch von Gott zum Sohn adoptiert wurde, und führte dafür als biblische Referenzstelle die Taufperikope an. Dort heißt es, dass nach der Taufe im Jordan der Geist in Gestalt einer Taube auf Jesus herabkam und eine Stimme aus dem Himmel sprach: «Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen gefunden» (Mk 1, 10f). Allerdings fiel der Adoptianismus durch die Auffassung, dass die Annahme zum Gottessohn der Lohn für eine moralisch vorbildliche und torakonforme Lebensführung sei, hinter den Glauben an die Menschwerdung des Logos Gottes zurück, der im Prolog des Johannes-Evangeliums seinen paradigmatischen Ausdruck gefunden hatte (vgl. Joh 1, 14). Jesus ist im Rahmen der adoptianischen Christologie nicht schon immer Gottes Sohn, sondern er wird es erst! Dies widersprach dem Inkarnationsglauben und der hier vorausgesetzten Vorstellung der Präexistenz (vgl. Phil 2, 6).

Ein anderes Deutungsangebot legte der sogenannte Modalismus oder Sabbellianismus vor. Er ging davon aus, dass sich der eine Gott auf unterschiedliche Weisen in der Geschichte gezeigt habe: einmal als Vater, ein anderes Mal als Sohn und wieder ein anderes Mal als Geist. Der Modalismus, der die unterschiedlichen Offenbarungsweisen als Masken ein und desselben Gottes deutete, hatte Schwierigkeiten, das Kreuzesereignis zu deuten, ohne gegen das Apathie-Axiom zu verstoßen, das die Leidensunfähigkeit und Unveränderlichkeit Gottes betonte. Noetos von Smyrna und Praxeas vertraten in der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts die Auffassung, dass Gott, der Vater, selbst gelitten habe. Diese These wurde von Tertullian als Patripassianismus zurückgewiesen und später durch Leo den Großen lehramtlich verurteilt (vgl. DH 284).

In dieser christologisch durchaus noch offenen Diskussionslage wagte Melito von Sardes das kühne Wort vom «Gottesmord». Nicht ein Mensch, Gottes Sohn selbst hat auf Golgatha gelitten und ist gestorben! Es scheint, als habe er geltend machen wollen, dass dem Glauben an Christus, den Gekreuzigten, nur dann rettende und erlösende Kraft zugeschrieben werden kann, wenn Gott selbst in das Passionsgeschehen involviert ist. Der Lösungsweg der späteren Zwei-Naturen-Lehre, die zwischen einer leidensunfähigen göttlichen und einer leidensfähigen menschlichen Natur unterscheidet, um die Gottheit des ewigen Logos von einer Verstrickung in die Passion freizuhalten, stand Melito noch nicht vor Augen.7

Allerdings stellte Melito auch die zweite Frage: «Wer ist der Mörder?» – und er ließ keinen Zweifel, wie diese Frage zu beantworten sei. Die scharfe Anklage, die er gegen das Volk Israel führt, das den Messias Israels umgebracht habe, kann durch den Hinweis auf die noch offene und im Fluss befindliche Diskussionslage in der Christologie nicht abgemildert und schon gar nicht beiseitegeschoben werden. Melito hat die Schuld an der Kreuzigung Jesu einseitig und pauschal dem Volk Israel angelastet, ohne die Kapitalgerichtsbarkeit der römischen Instanzen zu erwähnen oder weitere Differenzierungen zwischen der jüdischen Führungselite und dem Volk oder den damals und den heute lebenden Juden anzubringen. Mit dem steilen Wort vom Gottesmord aber war ein folgenreicher Anfang gesetzt, der in den christlichen Adversus-Iudaeos-Traktaten eine verhängnisvolle Fortsetzung gefunden hat.

III

Ein später literarischer Reflex dieses Traditionsstrangs findet sich in Thomas Hürlimanns Novelle Fräulein Stark (2001). Hier versteckt der Stiftsbibliothekar von St. Gallen, Konvertit und katholischer Priester, seine jüdische Herkunft unter der Soutane. Gerüchten der Hilfsbibliothekare zufolge soll er jeden Nachmittag um drei auf seiner Betbank unter einem großen Kruzifix niederknien, das Karfreitagsgeschehen durchleiden und die Juden, die den Herrn kreuzigen ließen, verfluchen: «O ihr Juden, ihr Juden, warum habt ihr das getan!»8 In dieser Szene wird die unselige Verquickung von Kreuz und kirchlicher Judenfeindschaft eindrücklich zusammengezogen. Der getaufte Jude und Prälat Jacobus Katz, der seine eigene Herkunft verleugnet und auch nicht will, dass sein Neffe mehr über seine jüdische Herkunft erfährt, verflucht im täglichen Gebet seine Glaubensbrüder, die den Messias nicht anerkannt haben.

Der locus classicus, der immer wieder als Beleg für die vermeintliche Kollektivschuld «der» Juden angeführt wurde, ist der im Matthäus-Evangelium überlieferte Ruf: «Sein Blut komme über uns und unsere Kinder» (Mt 27, 25). Gegen eine antijüdische Deutung dieser Stelle hat Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. im zweiten Band seines Jesus-Buches ein für alle Mal klar gestellt, Jesu Blut spreche eine andere Sprache als das Blut Abels, es rufe nicht nach Rache oder Vergeltung. Es sei das «Blut der Versöhnung, das nicht gegen jemanden, sondern für viele, ja für alle vergossen»9 werde. Dieser Hinweis ist wichtig und für das weitere Gespräch im Blick zu behalten. Er kann ergänzt werden durch eine Überlegung von Jean-Marie Lustiger, der in seinen Betrachtungen zum Matthäus-Evangelium vermerkt hat: «Die Aussage: ‹Sein Blut komme über uns und unsere Kinder› (Mt 27, 25) – häufig als Selbstbezichtigung verstanden, was absurd ist – ist ein prophetisches Wort. Es nimmt das Wort auf, mit dem Mose am Fuß des Sinai den Bund zwischen Gott und seinem Volk besiegelt, wobei er es mit dem Blut der Opfertiere besprengt (Ex 24, 8). Prophetisch ist dies ein Zeichen der Vergebung und des Segens. Nur glaubenslose Phantasie wird darin Missbilligung sehen. Das bedeutet, nichts vom Blut des Bundes zu verstehen. Könnte das Blut des Bundes verdammen, wo es doch rettet?»10

Für Jörg Baden.

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