Trost unseren leeren HerzenThomas Hettche sondiert das Wesen der Literatur

Es ist Sommer 1791. Die Klagenfurterin Maria von Herbert, an ­einer unglücklichen Liebe verzweifelnd, schreibt einen Brief, den sie nach ­Königsberg schicken wird: Zu dir rufe ich wie ein gläubiger zu seinen Gott um Hilf, um Trost, oder um Bescheid zum Tod […] wen ich nicht schon so viel von ihnen gelesen hätte, so häte ich mein leben gewis schon mit gewalt geändet, so aber haltet mich der schlus zurük den ich aus ihrer Tehorie ziehen muste […] nun sezen sie sich in meine lag und geben sie mir trost oder verdamung, metaphisik der Sitten hab ich gelesen samt den Kategorischen imperatif, hilft mir nichts, meine vernunft verlast mich wo ich sie am besten brauch. Die daraufhin eintreffenden Antworten genügen ihr in keiner Weise. Maria von Herbert bricht also zu einem Besuch bei dem Königsberger Philosophen auf.

Sonntag, 29. Mai 1994. Im Grand Chalet in der französischen Schweiz sitzen sich David Bowie, der Sänger längst im Nachschatten seines Ruhms, und der Maler Balthus gegenüber, dazwischen ein Diktiergerät. Bowie will ein Interview für ein Magazin führen, aber das Gespräch kommt nicht so recht in Gang. Sie sprachen gerade über Lucian Freud. Balthus: I’m not considering myself as a great painter, I’m considering myself as a craftsman. I don’t want to be an artist. I have a horror of the word. So had Picasso by the way. ‹Je ne suis pas un artiste-peintre›, as he said. The idea of craft is taken away. And what has been given is that strange taste for horror. And who can explain to me from where that comes? That shrinking back from beauty, for instance. If you speak of beauty, you are at once suspected of … kitsch … or I don’t know. Doch die einmalige Gelegenheit, mit dem Meister über in Verruf geratene Schönheit und den sich wandelnden Kunstbegriff zu sprechen, verschläft Bowie irgendwie ratlos, das Gespräch taucht zurück an die Oberfläche.

Wir befinden uns in einem Band mit 21 Texten des Schriftstellers Thomas Hettche. Es sind Versuche der Erzählbarkeit des Denkens: literarische Essays, die Erzählung und Entfaltung eines Gedankens miteinander verknüpfen. Unsere leeren Herzen heißt das Buch, und es handelt von Literatur. Hettches dritter Essay­band nach Fahrtenbuch 1993–2007 und Totenberg schildert ungewöhnliche historische Konstellationen – wie die des Briefwechsels der Kärntnerin mit Immanuel Kant –, eigene Erlebnisse und Beobachtungen, um daran Reflexionen anzuknüpfen. Wilhelm Raabe und Karl Ove Knausgård treten auf, Rilke und Siegfried Unseld, Roland Barthes und Houellebecq, Derrida und viele andere. In immer neuen Anläufen nimmt Hettche dabei Sondierungen vor, um die Eigenart der Literatur zu begreifen. War es nicht einmal die Literatur, die von den Dingen erzählte, die zählen? Was kann Literatur? Welchen Wert hat das Erzählen? Kann es das Leiden am Leiden lindern? Melancholisch grundiert durchzieht eine Frage das ganze Buch: Welche Tröstung kann Literatur unseren leeren Herzen heute noch sein?

Die existenzielle Bedeutsamkeit von Literatur für unsere Gegenwart setzt Hettche hoch an: Geschichten setzen unsere Gedanken in Bewegung, bewegen uns, im Wortsinn, in ihrem Fortgang. Alles, was der Leser beim Lesen denkt, gestaltet die Welt der Geschichte mit, jedes Mitleiden mit den Figuren bestimmt unsere Gedanken beim Lesen und die Schlüsse, die wir ziehen. Reflexion und Erzählung sind eins. Was dabei in uns entsteht, könnte man Erkenntnis nennen, eine nicht begrifflich fixierbare, [Wilhelm] Raabe selbst hat es Trost genannt und wurde viel dafür geschmäht. Literatur wird hier als lebensnotwendiger, aber gefährdeter Freiheitsraum begriffen. Wurde der Roman einst als erstes virtuelles Medium kritisch beäugt, stellen heutige Formen des Virtuellen sein Wesen in Frage. Dabei muss man sich Hettche nicht als Pessimist vorstellen. Schon 1999, als wir uns noch mühsam mit AOL-Zugangssoftware einwählten, gehörte Hettche zu jenen Pionieren des World Wide Web, die in ihm die Freiheit der Literatur entfalten wollten – eine Utopie, die längst zwischen den Algorhythmen verraucht ist. Die Digitalisierung der Literatur ist das Ende der Literatur, könnte man befürchten. Hettche 2017: Heute wird schlagartig deutlich, was ein Buch, das wir aufschlagen, um einzutauchen in eine erfundene Welt, und das wir wieder schließen, wenn wir es wünschen, immer war: ein Medium der Freiheit. Bald schon werden wir die Manipulation jedes Textes erleben, den wir elektronisch lesen. Wie alle digitalen Inhalte werden auch die digitalisierten Erzählungen nach der Maßgabe von Stimulanz und Dämpfung korrigiert, unmerklich und stetig. Doch solange es Bücher als physische Objekte noch gibt, bieten sie jenen autonomen und unveränderlichen Raum des Utopischen, in dem unsere Träume uns gehören. Und solange es diese kostbaren physischen Objekte noch gibt, weiß Hettche ihren Anachronismus und ihre Ästhetik zu feiern. Wie immer bei ihm ist der Band detailverliebt gestaltet, in Leinen gebunden und geprägt, mit farbigem Vorsatz, der Text präzise gesetzt, das alte Handwerk des Schriftsatzes penibel gepflegt.

Zwischen das ungewöhnliche literarische Material, das Hettche aufbietet, fügen sich bestechende literaturtheoretische Überlegungen, zum Beispiel über das Verhältnis von Fakt und Fiktion in der Literatur: Doch auch Erfindungen sind Teil der Realität. Es sind Erfindungen in Erfindungen sogar ebenso real wie die Realität selbst. Realistische Literatur handelt daher notwendig von beidem. Es steht mir frei, in den Naturalismus dieser Unterhaltung [zwischen Balthus und Bowie] einzubringen, was immer ich will. Das Faktische muß seinen Wert ebenso wie das Erfundene im Gespinst der Erzählung beweisen.

Der Autor Thomas Hettche erweist sich als Unzeitgenosse (mécontemporain – Charles Péguy), denn seine literarische Erkundung der Gegenwart sucht Konturen einer anderen Moderne – wie es im Klappentext heißt. Man kann ihn daher auch in postreligiöser Nachdenklichkeit in leeren Kathedralen antreffen (sind die Versprechungen, die die Kirchen leerten, tatsächlich eingelöst?) oder im Stundengebet eines Benediktinerinnenklosters.

Wichtiger allerdings erscheint die Emphase seines Literaturbegriffs: ­Hoffnungsvoll umkreist er die bleibende humane Relevanz der Literatur. ­Deren eigentliche Wahrheit zeigt sich, wo sie die Anschauung der Welt ­verwandelt.

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Thomas Hettche

Unsere leeren HerzenÜber Literatur

Kiepenheuer & Witsch: Köln 2017, 208 S., € 20,00