Diakonische Kirche in säkularer Gesellschaft

Diakonie ist ein Dienst: die Zuwendung des einen zum anderen, die der eine nicht geben muss und der andere nicht einfordern kann. Seit alters her begreift die Kirche ihr diakonisches Tun nicht als ein gönnerhaftes Surplus in gesättigten Zeiten, sondern als eine ihrer Wesensdimensionen. Kirche ist Kirche, wo sie für Jesus Christus Zeugnis ablegt, sich dem Nächsten liebevoll und gütig zuwendet und Gottesdienst feiert. In Martyria, Diakonia und Liturgia kommt die Identität der Kirche, mehr noch: ihr sakramentales Wesen, zum Ausdruck. Hier wird Kirche erkennbar und unterscheidbar. Hier findet ihr Verhältnis zur «Welt», d.h. zu der umgebenden Gesellschaft und Kultur derer, die nicht Kirche sind, Gestalt.

Während das Christuszeugnis in aller Regel ausdrücklich geschieht und den Zeugen als jemanden vorstellt, der für seine Überzeugung einsteht, der nicht sich selbst, sondern den einen anderen, Jesus Christus, ins Wort bringt, braucht die tätige Liebe, also die caritative und diakonische Dimension der Kirche, oft keine oder nur wenige Worte. Sie geschieht absichtslos und unbedingt, ohne vom Gegenüber einen Taufschein oder Taufwunsch einfordern zu dürfen. Das unterscheidet den Dienst am Nächsten von einer Dienstleistung, in der das Ungleichgewicht zwischen dem, der gibt, und dem, der empfängt, in ein Anspruchs- oder Vertragsverhältnis gegossen und ökonomisch ausgeglichen wird. Im Gottesdienst vergewissern sich Christen ihres Gottesverhältnisses, sie loben und danken Gott, der sie in Christus neu geschaffen, herausgerufen und gesandt hat. Als solche Gesandte nehmen sie die ganze Welt ins Gebet; sie beten für all die und anstelle all derer, die ihr Glück und ihre Not keinem Gott (mehr) anvertrauen können. Die Martyria bekundet Jesus Christus vor aller Welt und in allen Sprachen aller Welt; die Diakonie geschieht in aller Welt und für alle Welt; die Liturgie schließlich anstelle und zugunsten aller Welt.

Alle drei Dimensionen verbindet das Bewusstsein, dass, wem das Geschenk des Glaubens zuteilwurde, auch die Verantwortung zuteilwurde, Gottes Zuwendung in seinem Leben, Denken und Tun Gestalt zu geben. Sie verbindet, dass sie missionarische Kraft entfalten können, aber als solche nicht der Verstetigung von Kirche, d.h. der Gewinnung neuer Kirchenglieder und der Konsolidierung institutioneller Strukturen, dienen. Kirche ist vielmehr, wie es in der dogmatischen Konstitution Lumen gentiumdes II. Vatikanischen Konzils heißt, Zeichen und Werkzeug der Verbundenheit der Menschen untereinander und mit Gott (LG 1). Sie soll Erfahrungsraum und Ermöglichung für etwas sein, das größer ist als sie selbst. Kirche handelt nicht in ihrem eigenen Namen und zu ihren eigenen Gunsten, sondern um des Reiches Gottes willen, das weit über die sichtbaren Grenzen der Kirche hinausreicht. In diesem umfassenden Sinn ist kirchliches Engagement im Ganzen diakonisch. Solche Diakonie wurzelt im Bekenntnis Jesu, der im bedürftigen Nächsten begegnet (Mt 25), darf diesen aber nicht erst nach erfolgreicher Mission aus kirchlichen Diensten entlassen. Sie gründet im Bewusstsein der christlichen Sendung und Verantwortung für alle Welt, steht aber nicht im Dienst einer Verkirchlichung der Gesellschaft.

Gegenstand dieses Heftes sind Beispiele und Reflexionen von Tätigkeiten und Aufgaben, in denen Kirche in einem solchen umfassenden Sinne diakonisch tätig wird. Dabei kommen durchaus ungewohnte Felder in den Blick. Sie überschreiten ein traditionelles, auf soziale, medizinische oder wirtschaftliche Fürsorge und institutionalisierte Caritas enggeführtes Verständnis von Diakonie. Stattdessen entwerfen sie eine Kirche, die ihre Rolle und ihren Ort in einer nachvolkskirchlichen, inzwischen stark säkularisierten Zeit und Gesellschaft sucht und darin Konturen einer, wenn man so will, «weltlichen» Relevanz christlichen Engagements entwickelt. Die Beispiele dieser diakonischen Präsenz von Kirche, die in diesem Heft zur Sprache kommen, sind mehrheitlich in Mittel- und Ostdeutschland bzw. Osteuropa angesiedelt. Hier leben Katholiken nicht nur in konfessioneller, sondern weiten teils in religiöser Diaspora. Die umgebende Mehrheitsgesellschaft ist bereits seit Generationen gar nicht religiös. Sie ist religiös unmusikalisch und profiliert sich in der Regel nicht durch eine bewusste antikirchliche oder antiklerikale Haltung, wie sie mancher an den Tag legt, der in einer kirchlich gesättigten Umgebung aus seiner Kirche ausgetreten ist. Im Osten ist man «normal» und meint damit nichtreligiös. Religion ist keine Kategorie der Selbstdefinition.

Diese Situation in einer der am stärksten säkularisierten Landstriche der Welt evoziert ein besonderes «Welt»-Verhältnis der christlichen Kirchen. Im Vergleich zu (post-)volkskirchlich geprägten Gebieten im Westen und Süden des Landes eröffnen sich neue und durchaus andere Chancen, kirchliche und christliche Identität zu verstehen, zu gestalten und zu reflektieren. Weder die Apologie derer, die die Kirche um des Gelingens menschlichen Lebens willen für unverzichtbar halten, noch die Misanthropie derer, die sich im (vermeintlich religiösen) Lamento über ihre (vermeintlich geistlose) nichtgläubige Umwelt verlieren und ins katholische Ghetto zurückziehen, kann hier fruchten. Kirchliche Diakonie in der in diesem Heft profilierten weiten Perspektive ist in Ostdeutschland zudem aufgrund der personell, finanziell und strukturell vergleichsweise schwachen Position der Bistümer schon im Ansatz vor der Gefahr eines gönnerhaften Paternalismus gefeit. Eher versteht man sich, wo man die Grenzen des explizit Kirchlichen überschreitet, als Gast im Leben der Mitmenschen – der nichtchristlichen Eltern, Geschwister oder Kinder, der religiös unmusikalischen Nachbarn, Bekannten, Mitschüler, Kommilitonen und Kollegen. Diese entziehen sich entschieden religiöser Übergriffigkeit und bestimmen souverän den Grad möglicher Berührung mit religiösen Themen, die behutsam in eine verständliche und authentische Sprache gefasst werden müssen, damit sie überhaupt zur Sprache gebracht werden können.

Julia Knop eröffnet das Feld durch eine theologische Grundierung der drei kirchlichen Grundvollzüge Martyria, Diakonia und Liturgia und ihre mögliche Ausprägung in der Situation religiöser Diaspora. Tomáš Halík weitet den Blick für ein Verständnis von Katholizität, das, statt die institutionellen oder konfessionellen Grenzen der sichtbaren Kirche zu massieren, offen bleibt für diejenigen, die ihren Ort an den Rändern oder jenseits des Katholizismus bestimmen. Thomas Brose blickt zurück auf die politische und gesellschaftliche Bedeutung der Kirchen zur Zeit der friedlichen Revolution, die den eisernen Vorhang zu Fall brachte. Mit Reinhard Feuersträter, Gregor Giele und Reinhard Hauke kommen ein Diakon, ein Priester und ein (Weih-)Bischof aus drei ostdeutschen Diözesen zu Wort, die von ihren Erfahrungen in einer säkularen Welt berichten und innovative pastorale Konzepte vorstellen. Benedikt Kranemann schließlich beschreibt die Herausforderung einer besonderen Form von Ritendiakonie, die entsteht, wenn die Kirchen angesichts gesellschaftlicher Katastrophen (Naturkatastrophen, Unglücke, Terrorangriffe) um gottesdienstliche Begleitung einer pluralen, manchmal überwiegend nichtreligiösen Trauergemeinde gefragt sind.

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