Kenosis als Dienst an der EinheitChiara Lubich und die «Liturgie des Profanen» – ein Durchblick in Texten

Abstract / DOI

Kenosis in the Service of Unity. As early as 1944 the forsakenness of Jesus on the cross was the leitmotif of Chiara Lubich’s spiritual path and it became even more so in the three and a half years of her spiritual trial before her death. The right approach to everything that she thought, said and lived can only be found through the key of Jesus Forsaken, the epitome of kenosis. A kenotic life – kenopraxis – becomes a way of holiness in everyday life, builds Church communion and make possible a dialogue with the various religious and non-religious realities.

In these elements lies, so to speak, a ‹liturgy of the profane› in the sense of the epistle to the Philippians: the existential descent into the depths of human existence and the deprivation of God, the understanding of leadership in religion and politics as a service to the people coming from below, a dialogue without reservation with all those sincerely willing to dialogue, advancing to achieve unity in diversity. Following in the steps of the Mediator between God and man, the Christian becomes the ‹vanishing mediator› who can thus make his specific contribution to building society and Church from below and from within.

Christus. Der Teufel zeigt ihm die Reiche der Welt.
WIRF DAS KREUZ AB UND ALLES IST DEIN.
In den Zeiten des Verrats
Sind die Landschaften schön.
Heiner Müller

Ich hatte mich entschlossen, bei euch nichts zu wissen
außer Jesus Christus, und zwar als den Gekreuzigten
Paulus von Tarsus

Vorboten des Konzils

Das II. Vatikanum brauche – wie die Kirchengeschichte zeige – Konzilsheilige, damit seine Aussagen unumkehrbar werden. Für den binnenchristlichen und den interreligiösen Dialog seien das Johannes Paul II. und – in Zukunft vielleicht – Chiara Lubich. Der Dialog mit Menschen nichtreligiöser Weltanschauung könne für Lubich womöglich ein Alleinstellungsmerkmal sein. Mit dieser Aussage unterstrich im Frühsommer 2013 ein emeritierter Bischof der Heiligsprechungskongregation die dogmatische und kirchenpolitische Dimension der Frage, ob für die Fokolar-Gründerin ein Seligsprechungsprozess eingeleitet werden soll.

Eine solche vatikanische Wertschätzung oder gar das Faktum, dass sich typische Gehalte der Fokolar-Spiritualität in päpstlichen Schreiben – wie etwa in Novo Millennio Ineunte von Papst Johannes Paul II. – wiederfinden würden, war in den ersten zwei Jahrzehnten nach dem Entstehen der Bewegung in keiner Weise absehbar.1 Ganz im Gegenteil: Bis zum Konzil drohte ihr mehrfach die Auflösung. Neben den für solche Neuaufbrüche selbstverständlichen Kinderkrankheiten waren vor allem zwei Hauptvorwürfe maßgeblich: die Fokolare seien Protestanten und Kommunisten – für den italienischen Katholizismus der Nachkriegszeit höchst verwerfliche Zuschreibungen. Sich intensiv mit der Heiligen Schrift zu befassen, galt als unkatholisch und einer der Schlüsselbegriffe der «gemeinschaftlichen Spiritualität» war «Einheit». Das entsprach nun genau dem Namen der Tageszeitung der kommunistischen Partei Italiens «l’Unità». Dass Chiaras Bruder Gino Lubich dort Redakteur war, schien die Querverbindung noch zu unterstreichen. Gleichzeitig war das Engagement der Fokolar-Bewegung in der DDR ein nicht unwichtiges Hindernis für die Auflösung, wie sich später herausstellen sollte.

Die schweren Jahre der Verhöre beim «Heiligen Offizium» und der unsicheren Zukunft waren für Chiara Lubich sozusagen eine erste Nagelprobe für einen Text, den sie kurz zuvor in einem Dolomitendorf niedergeschrieben hatte: «Ich habe nur einen Bräutigam auf Erden: Jesus den Verlassenen. Ich habe keinen Gott außer ihm.»«Das Kreuz abzuwerfen» und den «Bräutigam» zu verraten war nie eine Option.

Im Jahr 1962, also knapp vor dem Konzil, wurde die Fokolar-Bewegung unter Papst Johannes XXIII. für drei Jahre ad experimentum anerkannt.2 Was da aber anerkannt wurde, war fast eine Karikatur dessen, was sie eigentlich sein wollte. Das betraf nicht zuletzt die Führungsfrage, die Papst Paul VI. bereits 1964 mit einem mutigen Schritt im Prinzip löste. Es war nicht mehr einem Kleriker vorbehalten, eine so komplexe Wirklichkeit zu leiten, wie es die Fokolar-Bewegung war, der zudem noch Priester angehörten, sondern das stand nun Laien, ja sogar Frauen offen. Während Papst Pius XII. am 22.August 1956 in einem Gespräch mit P. Riccardo Lombardi im bestimmenden Einfluss von Chiara Lubich noch ein Problem sah – «Però, c’è di mezzo una donna» [Doch da steht eine Frau im Wege]3 –, sagte Paul VI. Ende Oktober 1964 zu Chiara Lubich: «Es ist euer Charisma, ihr seid die Architekten». Allein an diesen zwei Aussagen wird der kirchliche Epochenwandel deutlich.

Das Zweite Vatikanische Konzil war für Lubich und die Fokolar-Bewegung ein Gottesgeschenk, gewirkt vom Heiligen Geist, der schon Jahrzehnte zuvor an verschiedenen Stellen der Kirche verborgene Keimlinge gezogen hatte und sie nun für die ganze Kirche ans Licht brachte. Die ersten zwei Jahrzehnte dienten somit ganz zentral der Einwurzelung der Ursprungs-Inspiration ins konkrete Leben einer zeitgemäßen Christusnachfolge, aus der sich in der Folge des Konzils eine ganze Reihe von neuen Wegen erschloss, nicht zuletzt ein Rundum-Dialog, von dem weiter unten die Rede sein wird.

Kenosis – Pfeiler einer «Spiritualität der Einheit»

Man kann diese geschichtliche Episode mit Herbert Lauenroth als einen «Abstieg in den Jordan» lesen, der den Himmel öffnete. Gleichzeitig deutet sie einen Eckpfeiler für Chiara Lubichs Leben und Programm an, wie ihn das 2. Kapitel des Philipperbriefes darstellt. Paulus unterstreicht, dass die Entäußerung des Sohnes bis in die gottfernste Schicht des Menschseins reicht. Die Pointe des dem Paulus schon vorliegenden liturgischen Textes, eben des Philipperhymnus’, liegt im Satz, den der Apostel voranstellt. «Seid so gesinnt wie Christus», oder anders gesagt: lebt im Alltag, was ihr im Gottesdienst singt – und feiert sozusagen eine «Liturgie des Profanen»!

Nun kommt das Wort Kenosis bei Chiara Lubich selten vor, schon gar nicht in der Anfangszeit der Fokolar-Bewegung. Sie spricht von «Jesus dem Verlassenen» und sieht ihn als Christus, den präexistenten Logos, im Zusammenhang mit der innertrinitarischen Beziehungsdynamik zwischen Vater, Sohn und Geist, mit Schöpfung, Menschwerdung, Passion, Kreuz, Tod und Abstieg ins Totenreich. Jesus der Verlassene ist die Talsohle des Abstiegs, der unvermittelt in die Auferweckung und den Aufstieg zur Rechten des Vaters mündet und uns Christi erfahrbare Gegenwart bis an die Grenzen der Erde sichert.

Mit Jesu Gebet «Vater, gib dass sie eins seien …» ( Joh 17, 21) zusammen bildet der Verlassenheitsschrei des Erlösers «Mein Gott, warum hast du mich verlassen» (Mk 15, 34), eine der beiden Seiten der Medaille, zwischen denen Lubichs gesamte Spiritualität der Einheit liegt.

In ihrem Buch «Der Schrei der Gottverlassenheit» schildert die Fokolar-Gründerin die «Entdeckung» von Jesus de4 eigentlich auch sie betroffen hätte und sah hinsichtlich Jesus des Verlassenen keinen Anlass zu Selbstzensur.

Jesus der Verlassene war also bereits zu Beginn von Chiara Lubichs geistlichem Weg zentrales Leitmotiv und noch mehr in der dreieinhalb Jahre lang währenden geistlichen Prüfung vor ihrem Tod. Und er war der der Leuchtturm in ihrem gesamten Leben, Denken, Beten und Wirken in den mehr als 60 Jahren dazwischen. Den rechten Zugang zu allem, was sie gedacht, gesagt und gelebt hat, findet man nicht ohne den Schlüssel von Jesus dem Verlassenen als den Inbegriff der Kenosis. Dabei gilt es zu beachten, dass Lubich jede leidverklärende Innerlichkeit fernliegt, schreibt sie doch in ihrem Realismus: «Man liebt nicht das Leid, das immer negativ ist, sondern Jesus im jeweiligen Schmerz.» 5

Eine der Gründergestalten der Republik Italiens, der Schriftsteller Igino Giordani, hatte bei einem Besuch in den Dolomiten, wo Chiara Lubich mit drei anderen jungen Frauen die Sommerferien verbrachte, in einem gewissen Sinn eine mystische Periode mit ausgelöst, die in der Fokolar-Bewegung «Paradies ‘49» genannt wird. Giordani ist es vor allem zu verdanken, dass der Großteil von Chiara Lubichs Intuitionen erhalten geblieben ist, nicht zuletzt, weil sie ihm regelmäßig ihre Kurznotizen nach Rom sandte, wo er im Vatikan die Zeitschrift «Fides» leitete. Hier einer der dichten und aufschlussreichen Texte aus jener Periode:

Was ist die Liebe schlechthin6, die reine Liebe? Und ich verstand, dass sie der Schmerz ist […]. Gott konnte nicht genug kriegen an Liebe, im Ungeschaffenen, in der Dreifaltigkeit und im Geschaffenen mit dem Gesetz der Liebe, welches das Universum durchströmt: Er wollte [noch] jede Uneinheit zu Liebe machen. Er wurde Mensch, um auf neue Weise zu lieben, durch den Schmerz; um den Schmerz zu ‹vergöttlichen› und somit jede Uneinheit; und er zog alle Schmerzen der Welt an sich, alle Uneinheiten des Universums und verwandelte sie in Liebe, in Gott. Also kann ich jetzt mehr lieben als zuvor: ich liebe mit der Liebe und ich liebe mit dem Schmerz […]. Wie wertvoll der Schmerz ist! Er ist ein gesteigerter Gott, die Über-Liebe. […] Mehr als so könnte ich nicht lieben; gesegnet jeder Schmerz, der mich die LIEBE mehr lieben lässt.

Der folgende Text vom 20. September 1949 beschließt die zentrale Phase der rund zwei Monate dauernden intellektuellen Visionen. Giordani hatte Lubich aufgefordert, nicht «auf dem Berg» zu bleiben, sondern wiederum in den Alltag der Menschheit «herabzusteigen», um dort das empfangene Licht fruchtbar zu machen. Chiara erkannte darin einen Anruf Gottes. So entstand einer der tragenden Texte der Spiritualität der Einheit, sowie des gesamten Lebens der Fokolar-Bewegung, den sie später unter das Pauluswort «Ich hatte mich entschlossen, bei euch nichts zu wissen außer Jesus Christus, und zwar als den Gekreuzigten» (1 Kor 2,2) gestellt hat:

Ich habe nur einen Bräutigam auf Erden: Jesus den Verlassenen. Ich habe keinen Gott außer Ihm. In ihm ist das ganze Paradies mit der Trinität und die ganze Erde mit der Menschheit. Was sein ist, ist also mein, sonst nichts. Und sein ist das Leid der ganzen Welt – und deshalb auch mein.
Ich werde durch die Welt gehen und ihn suchen, in jedem Augenblick meines Lebens.
Was mir weh tut, ist mein. Mein ist das Leid, das mich im Augenblick berührt. Mein ist das Leid der Menschen neben mir (das ist mein Jesus). Mein ist alles, was nicht Friede oder Glück, was nicht schön, liebenswert, [unbeschwert]7 ist […] – kurz: all das, was nicht Paradies ist. Denn auch ich habe mein Paradies, doch es ist das Paradies im Herzen meines Bräutigams. Ein anderes kenne ich nicht.
So wird es sein in den Jahren, die mir bleiben: dürstend nach Schmerz, Angst, Verzweiflung, Schwermut, Trennung, Verbannung, Verlassenheit und innerer Qual, nach […] allem, was er ist, und er ist die Sünde, die Hölle.
So trockne ich die Flut der Bedrängnis in den Herzen vieler, die mir nahe sind, und durch die Gemeinschaft mit meinem allmächtigen Bräutigam auch in manchen, die fern von mir sind. Ich werde vorübergehen wie Feuer, das verzehrt, was vergehen muss, und nur die Wahrheit bestehen lässt. Aber dazu ist es nötig, wie er zu sein: Er zu sein, je im Jetzt des Lebens.8

Dieser programmatische Text wurde lange nicht im vollen Umfang veröffentlicht, war doch die Bewegung in den 1950er Jahren – wie gesagt – von der kirchlichen Auflösung bedroht.9 Was aus diesem Text in der Folge entstanden ist, wird noch skizzenhaft zur Sprache kommen. Zuvor leite ich mit einem kurzen Text aus dem «Paradies ‘49» auf Lubichs letzte Lebensphase über. 1950 schreibt Lubich: «Um unser Ideal der Einheit zu verwirklichen […], ist von uns noch etwas darüber hinaus gefordert: die dunkle Nacht Gottes.»10 Sie meint damit eine Nacht über die von Johannes vom Kreuz beschriebene «Dunkle Nacht der Sinne und des Geistes» hinaus, eine Teilhabe an Jesu Verlassenheitsschrei.11

Im September 2004 tauchte Chiara in besonderer Weise in diese «Nacht Gottes» ein und blieb mit kurzen Pausen bis etwa eine Woche vor ihrem Tod am 14. März 2008 darin gefangen. Bisweilen verfasste sie kurze Aufzeichnungen über das, was sie lebte. Sie vermisste nicht einfach nur Gottes Gegenwart, sondern er war ihr in dieser Gottesfinsternis abhandengekommen, «als ob die Sonne hinter dem Horizont untergegangen und endgültig verschwunden sei.» Ihre Frage «wozu habe ich gelebt, wenn mein Ideal [Gott] nicht mehr existiert?» war nicht bloß rhetorisch gemeint. Doch hören wir Lubich selber:

In der Nacht des Geistes spürt man, dass Gott gegenwärtig ist und einen leiden lässt. […] Dies hier ist eine andere Nacht: die letzte Nacht, die man hier auf Erden durchlebt. […] Gott ist ganz weit weg. Die Seele fühlt sich allein, gepeinigt von unglaublichem Schmerz. «Zu wem gehe ich? Auf wen stütze ich mich?» Gott ist weit fortgegangen, […] er entfernt sich bis zum ‹Horizont des Meeres›, hinter dem Horizont verschwindet er und ist nicht mehr zu sehen. […]

Man muss wirklich von einem ‹Jenseits der Grenze› sprechen, wo man Gott nicht mehr sieht. Die Seele wird in dieser Nacht so sehr angefochten, dass sie für viele Monate alles, alles verliert. Gott lässt sich nicht mehr wahrnehmen. Die Seele ist allein gelassen. […] Man denkt: «Gott hat mich vergessen. Gott erinnert sich meiner nicht. … Warum? Warum?» Das ist Teilhabe an der Gottverlassenheit Jesu, ähnlich der Hölle, die in der Abwesenheit Gottes besteht. […] In jenen Tagen wurde ich an das Weizenkorn erinnert, das sterben muss. Ich empfand mich als Tote, verlassen, in der Hölle. Nie hätte ich gedacht, dass daraus Früchte erwachsen könnten.12

Es scheint, als sollte sie in dieser letzten Nacht mit ihrem «Bräutigam» und seiner Mission gleichförmig zu werden.

Wie im Himmel… – ein kenotisches Gottesbild

Zwischen dem deutschen Theologen Klaus Hemmerle und Chiara Lubich bestand eine starke Wechselwirkung. Der nachmalige Bischof von Aachen war einerseits ein geistlicher Sohn Lubichs und hat andererseits manche Entwicklungen bei Chiara Lubich und in der Fokolar-Bewegung maßgeblich mit bewirkt, etwa die Entstehung eines Zweiges von mit der Fokolar-Bewegung verbundenen Bischöfen oder der interdisziplinären Studiengruppe «Scuola Abbà», deren wichtigste Aufgabe es ist, die Texte von 1949 theologisch und kulturell zu erschließen. Umgekehrt ist Hemmerles theologisches Schaffen sehr tief von Lubichs Gedankengut inspiriert, auch wenn er es so eigenständig weitergedacht hat, dass man die vielfältigen Anknüpfungspunkte erst bemerkt, wenn man Lubich genau kennt. Beispielhaft bringe ich weiter unten einen Hemmerle-Text.

Dieser «Scuola Abbà» gehört u.a. der in Sibiu/Hermannsstadt lehrende Schweizer evangelische Theologe Stefan Tobler an. In seinem aufschlussreichen Werk «Jesu Gottverlassenheit als Heilsereignis in der Spiritualität Chiara Lubichs» versucht er dieses zentrale Element einer in der katholischen Kirche entstandenen Spiritualität aus evangelischer Perspektive zu durchdringen und öffnet gerade dort die gelungensten Durchblicke, wo er als Evangelischer mit Lubichs Denken zunächst einmal fremdelt. Davon abgesehen finden sich in Toblers Buch viele sonst auf Deutsch noch nicht zugängliche Aussagen Chiara Lubichs.

Wenn Lubich z.B. schreibt:«Jesus ist Jesus der Verlassene. Denn Jesus ist der Heiland, der Erlöser, und er erlöst dadurch, dass er über die Menschheit das Göttliche ausgießt durch die Wunde seiner Verlassenheit. Sie ist die Pupille im Auge Gottes, die unendliche Leere, durch die Gott auf die Welt, auf uns blickt: das Fenster Gottes, geöffnet auf die Welt; das Fenster der Menschheit, durch das man Gott sieht»13, dann zieht Tobler daraus den folgerichtigen Schluss, dass Gott «letztlich nur als Gott mit und durch diesen Gottverlassenen zu verstehen» ist.14 Der Skandal des Kreuzestodes Jesu wurde schon bei Paulus als Offenbarung verstanden: als Offenbarung der göttlichen Kenosis.15

Die Kenosis ist für Lubich Merkmal auch der immanenten Trinität. Dort gilt: «Sein und Nicht-Sein fallen in eins zusammen. Der Vater schenkt sich (= er ist nicht) aus Liebe dem Sohn und der Sohn schenkt sich (=er ist nicht) aus Liebe dem Vater.»16 und setzt sich über die Schöpfung hinaus in der Inkarnation fort, um alles Geschaffene in den dreieinen Gott aufzunehmen:

Der Vater sandte den Sohn auf die Erde, um sich mit den geschaffenen Dingen zu verbinden, sie zusammenzufassen und zu vergöttlichen. Jesus, der Mittler, war der Grund der Vermählung des Ungeschaffenen mit dem Geschaffenen, der Einheit zwischen Geschaffenem und Ungeschaffenem […] Somit war am Ende alles Gott: Gott in sich und Gott im Geschaffenen.17

Zur Sünde geworden, wurde er zum Nichts. In ihm ist das Nichts so sehr mit dem Alles (Gott) vereint, dass das, was dem einen zukommt auch des anderen ist, und so wurde das Nichts zum Alles: Jesus der Verlassene ist Gott. Jesus – die Sünde ist Gott; Jesus – das Nichts ist Gott; Jesus – die Hölle ist Gott.18

Wo sich Jesus nun aus Liebe genichtet hat, soweit dass er Sünde, absolutes Nichts, Hölle geworden ist, fand er sich als Heiliger, Alles, Gott, Paradies wieder.19

Tobler bemerkt dazu, dass Jesus nicht bloß «etwas» weggegeben oder «etwas» auf sich genommen hätte. Er habe in Lubichs Sicht vielmehr sich selbst sozusagen zum Gegenteil gemacht, indem er sich mit aller Negativität identifizierte, in diese einging und sie so mit seiner Präsenz erfüllte. Gott gehe so wahrhaftig in die Welt ein. Nicht nur das Menschsein habe Gott sich zu eigen gemacht, sondern auch die Negation allen Menschseins in Sünde, Leid und Tod, das Fallen des Seienden ins Nichts.20

… so auf Erden – Kenopraxis in Kirche und Gesellschaft

Um zu zeigen, wie Klaus Hemmerle diese mystischen Texte Chiara Lubichs theologisch weiterdenkt, führe ich eine Aufzeichnung von ihm aus dem Jahr 1971 an:

Leib ist eine äußerste Möglichkeit, sich ganz zu geben, somit eine Möglichkeit der Liebe – eine Möglichkeit Gottes: Gott war eigentlich nur im Leibe, als ‹incarnatus› (‹als Fleischgewordener›), so allmächtig, dass er sich ganz, bis zum Tod geben konnte. Und er tut es fort und fort in der Eucharistie und in seinem Mystischen Leib, sofern wir als dessen Glieder es tun. Maria hat sich leibhaftig diesem Sich-Geben Gottes zur Verfügung gestellt, als Jungfrau, als Mutter, als Mitleidende in ihrem Stabat, als die Desolata. Und nun wird in ihr deutlich, dass Sich-Geben heißt: sich gegeben werden, sich empfangen. Nur wer sich gibt, hat sich […].21

Im Johannesevangelium legt Jesus sein eigenes Verhalten als Messlatte für das Verhalten der Christen in Kirche und Gesellschaft auf: «wie ich euch geliebt habe». Er ist Mensch wie wir geworden und in seiner Gottverlassenheit schwach mit den Schwachen. Ihm nachfolgen heißt Lubich zufolge: «Wir müssen uns auf die Ebene der anderen begeben, um uns mit ihnen eins zu machen. Wie das Wort, das bei der Inkarnation zu einem von uns geworden ist, damit wir Kinder Gottes werden, so müssen auch wir lernen, mit allen abzusteigen und dann mit allen aufzusteigen. Das könnte als Erniedrigung erscheinen, als ein Verringern eigener Fülle. In Wirklichkeit ist es ein Vermehren der Liebe.»22

Kenotische Liebe ohne Maß drückt sich in Barmherzigkeit aus:

Wenn man den Schmerz in seinen grausamsten Schattierungen und den mannigfaltigsten Ängsten kennengelernt hat und man in wortlos flehender Qual und unterdrücktem Hilfeschrei die Hände nach Gott ausgestreckt hat; wenn man den Kelch bis auf den Grund getrunken und Gott Tage und Jahre lang das eigene Kreuz dargeboten hat – verschmolzen mit seinem [Kreuz], das ihm göttlichen Wert verleiht –, dann wird Gott mit uns Erbarmen haben und nimmt uns in die Vereinigung mit sich auf. […] Er zeigt uns in höherer und neuer Weise etwas, das noch mehr Wert hat als der Schmerz. Es ist die Liebe in Gestalt der Barmherzigkeit, die einen Herz und Arme öffnen lässt für die Elenden, die Nichtsesshaften, die vom Leben Gepeinigten, für die reuigen Sünder. Eine Liebe, die den auf Abwege geratenen Mitmenschen – ob er nun Freund, Bruder oder unbekannt ist – aufzunehmen weiß und ihm unzählige Male vergibt.23

Das Maß der christlichen Liebe ist im gekreuzigten und verlassenen Jesus zu finden. Um die Nächsten zu lieben, ist es nötig, alles zur Seite zu stellen, sogar die höchsten geistlichen Dinge; so hat auch er aus Liebe zu uns sogar die Verlassenheit vom Vater durchlitten […]. Nur eine Liebe, die sich an diesem Maß orientiert, kann die Einheit in Fülle verwirklichen.24

Daraus leitet Lubich einen neuen Stil ab, das Leitungsamt in Kirche und Politik zu gestalten. Sie sieht ein Amtspriestertum, das ohne Prunk und Macht auskommt und reiner Dienst ist; das in sich selber und in den Laien das königliche Priestertum hervorstreicht. «Es gründet gleichfalls in seiner Kreuzeshingabe, in der er Priester und Opfergabe zugleich ist».25 Sie nennt das ein «marianisches Priestertum».

Fallweise klingt bei Lubich durch, als ob sie die Politiker als «profane» Version der Priester sähe. Das kam z.B. bei ihrer Rede am Kongress von Gemeindepolitikern «1000 Städte für Europa» in Innsbruck im November 2001 zum Ausdruck, als sie Politik als amore degli amori definierte, als Liebe, die allen anderen Formen der Liebe den ihnen gebührenden Raum schafft. Das Auffallende daran ist die eindeutige Hinordnung der Politik auf Jesus den Verlassenen. Sie gebrauchte den identischen Ausdruck, wie er im ersten in diesem Aufsatz zitierten mystischen Text aus 1949 steht: Liebe schlechthin, amore degli amori als Höchstform der Liebe, weil sie sich von unten her in den Dienst jeder anderen Liebe stellt.

Der kenotische Zug findet sich auch in der Ausbreitung der Fokolar-Bewegung wieder. Ab 1960 übersiedelten Ärzte der Bewegung in die DDR, um in kirchlichen Krankenhäusern den Betrieb aufrecht erhalten zu können, in einer Zeit als viele Ärzte sich in den Westen abgesetzt hatten. Einige Jahre später folgten andere dem Hilferuf eines Stammesfürsten im Kamerun, dessen Volk von der Schlafkrankheit dahingerafft wurde. Chiara Lubich lud damals die Jugend der Fokolare ein, sich für die «Operation Afrika» einzusetzen:

Ihr findet ihn [Jesus den Verlassenen] in den Kranken: er war schwerkrank, ja todgeweiht. Ihr findet ihn in den Gefangenen: er war angenagelt. In allen, zu denen ihr bei dem Vorhaben, eure Stadt zu vermessen, gehen wollt, in allen diesen könnt ihr ihn sehen. Und noch etwas: er ist auch die stärkste Motivation, die ‹Operation Afrika› voranzubringen […] Jesus der Verlassene ist ja das Bild jenes afrikanischen Volkes, eines verlassenen, kranken, verlorenen, bitterarmen Volkes, das Gefahr lief auszusterben.26

Seither ist aus einem unzugänglichen Bergdorf mit einer Handvoll Lehmhütten eine Bezirkshauptstadt namens Fontem mit über 20.000 Einwohnern, einem Krankenhaus, einer Internatsschule mit 50% Mädchenanteil, einer Kirche und verschiedenen Handwerksbetrieben gewachsen.

Kenotischer Dialog

Aus analogen Beweggründen hat sich die Fokolar-Bewegung in Algerien, Pakistan und Thailand niedergelassen. In diesen Ländern stand vor allem der interreligiöse Dialog mit Muslimen und Buddhisten im Blickfeld. In dieser Vielfalt von Kulturen, Lebensweisen und Religionen stellte sich immer wieder die Frage, wo denn die Grenzen der Inkulturation seien, d.h. was muss unverzichtbar erhalten bleiben. Lubichs Antwort war denkbar radikal: «Bezüglich des Gleichgewichts zwischen Treue zum unveränderlichen Charisma und der veränderlichen Inkulturation, die sich von Ort zu Ort und im Lauf der Jahre ändert, gilt: man muss sich immer «inkulturieren» (= verändern) im Sich eins machen (= unveränderliches Charisma).»

Die Inkulturation hat zunächst ungeplant den interreligiösen Dialog entstehen lassen. Mittlerweile gibt es Muslime und Buddhisten, die dem innersten Kreis der Bewegung angehören. Darüber darf das ökumenische Engagement nicht vergessen werden. In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre entstand eine tiefe Freundschaft zwischen Chiara Lubich und dem Ökumenischen Patriarchen Athenagoras, die zur Ursache einer Pendelmission Lubichs zwischen dem Patriarchen von Konstantinopel und Papst Paul VI. wurde. Aus dieser Zeit rührt eine weitere Freundschaft, nämlich mit einem damals jungen Diakon, dem heutigen Patriarchen Bartholomaios I. Dass der Patriarch Chiara Lubich wenige Tage vor ihrem Sterben in der römischen Gemelli Klinik aufsuchte, bezeugt die Qualität der Beziehung. Eine der wichtigsten Einrichtungen für den binnenchristlichen Dialog, v.a. mit den Kirchen der Reformation, ist das ökumenische Lebenszentrum in Ottmaring bei Augsburg.

Statutengemäß ist es das spezifische Ziel der Fokolar-Bewegung, über den Dialog zur Einheit unter den Menschen beizutragen. Dieser Dialog baut zu allererst auf der zwischenmenschlichen Begegnung auf, aus der dann ein gemeinsamer Weg entsteht. Ihm liegt eine kenotische Haltung zugrunde, die Lubich so beschreibt:

Sich eins machen, in diesen drei Wörtchen liegt das Geheimnis jenes Dialogs, der zur Einheit führen kann. Sich eins machen ist nicht eine Taktik oder eine äußerliche Verhaltensweise, nicht bloß eine Haltung des Wohlwollens, der Offenheit, des Respekts, des Nicht urteilens; es beschränkt sich nicht darauf, dem Armen ein Päckchen zu bringen usw. Es ist auch das, aber es geht darüber hinaus. Dieses ‹Sich eins machen› verlangt, von uns selber völlig leer zu sein: alle unsere Gedanken beiseite zu schieben, unsere Zuneigungen, Absichten, Vorhaben, um den anderen zu verstehen. Und wer sich im Dialog auskennt, sagt, man müsse in die Haut des anderen schlüpfen und die Welt sehen, wie sie ein Jude, ein Buddhist, ein Muslim sähe. Sich eins machen verlangt arm zu sein im Geist, um reich zu sein an Liebe.

Einen gewissermaßen privilegierten Platz nimmt der Dialog mit Menschen ein, die in keiner Religion beheimatet sind. Er stand schon an der Wiege der Fokolar-Bewegung. Die Familie Lubich bestand aus vier tridentinisch-katholischen Frauen und zwei kirchlich distanzierten Männern: Vater Lubich war Sozialist und Chiaras Bruder Gino kommunistischer Partisan, in den ersten Wochen nach dem Krieg Stadthauptmann von Trient und später Redakteur der Parteizeitung «l’Unità». Im Zuge des Ungarnaufstandes trat Gino Lubich aus der kommunistischen Partei aus, verlor so seine Arbeit als Journalist und half der Bewegung bei der Gründung von Verlag und Zeitschrift «Città Nuova». 1983 fokussierte Chiara Lubich die Aufmerksamkeit der Fokolare auf den religionsfernen Teil der Menschheit: «Es macht keinen Sinn, wenn die Bewegung nicht gerade darauf ausgerichtet ist, die größte Gottes-Entbehrung aufzusuchen […], wo doch Jesus am Kreuz schreit: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?» Und in «Der Schrei der Gottverlassenheit» liest man: «In seiner Gottverlassenheit wird Jesus zum Gekreuzigten derer, die sich zu keinem religiösen Glauben bekennen; denn für sie wurde er […] gleichsam «einer ohne Gott›».

Im gekreuzigten Jesus kann eine Situation, in der Gott als abwesend erfahren wird, sich wandeln in Gemeinschaft mit ihm. Gerade so ist der gekreuzigte Jesus die «Macht Gottes», die Macht der Liebe, die selbst dort zu sein vermag, wo Gott – scheinbar – nicht ist. Demgemäß sind die Menschen nichtreligiöser Überzeugung so sehr Bestandteil der Fokolar-Bewegung, dass ohne sie die Bewegung nicht sie selber wäre.

Papst Johannes Paul II. hat in seinem Glückwunschschreiben der Bewegung im Dezember 2003 zum 60-jährigen Bestehen gewissermaßen einen «Titel» verliehen und ihr damit ein Programm ins Stammbuch geschrieben: Apostel des Dialogs.

Im Einklang mit dem kirchlichen Lehramt – ich denke besonders an das Zweite Vatikanische Konzil und an die Enzyklika ‹Ecclesiam Suam› […] – sind die Fokolare zu Aposteln des Dialogs geworden, als einem bevorzugten Weg, um die Einheit zu fördern: den Dialog im Inneren der Kirche, den ökumenischen und den interreligiösen Dialog sowie den Dialog mit den Nichtreligiösen. […] Ich ermutige alle, Christus in Treue nachzufolgen und mit ihm das Geheimnis des Kreuzes zu umarmen, um so in der Hingabe der eigenen Existenz am Heil der Welt mitzuwirken.

In der Tat ist die Liebe zu Jesus dem Verlassenen die Basis für den Dialog überhaupt und besonders bei zunächst unversöhnlichen Ansichten: Ausgespannt im Riss hängen, «in der Wunde ausharren»27; den eigenen Standpunkt nicht verleugnen und gleichzeitig den anderen nicht umpolen wollen; die gegenseitige Liebe mit der Bereitschaft, füreinander das Leben zu geben, so anfachen, dass irgendwann von Christus her das Licht für alle Beteiligten kommt. Kenotisches Heraustreten beider Seiten aus der je eigenen Lebenswelt – gläubig wie nicht- oder andersglaubend – ermöglicht schlussendlich Gemeinschaft auf einer neuen Ebene.

In diesen Elementen des Lebens und Denkens von Chiara Lubich kommt eine «Liturgie des Profanen» im Sinne des Philipperhymnus beispielhaft zum Ausdruck: der existenzielle Abstieg in die Abgründe menschlichen Daseins und der Gottesentbehrung, das Verständnis von Leitungsfunktionen in Religion und Politik als Dienst am Menschen von unten, ein Dialog ohne Vorbehalte mit aufrichtig Dialogwilligen aller Art, mit einem Zug zu Einheit in Vielfalt. Der Spur des Mittlers zwischen Gott und den Menschen folgend wird der Christ zum «verschwindenden Vermittler»28, der solcherart seinen spezifischen Beitrag leisten kann, um Gesellschaft und Kirche von unten und von innen her aufzubauen.

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