1. Generation Gourmet?
Über das Essen wird heute mehr gesprochen und geschrieben als je zuvor. Es gibt Blogs, Bücher, Zeitschriften und Magazine oder Radio- und Fernsehsendungen, die das Essen (wie auch das Trinken) in den Blick nehmen. Alltäglich werden neue kulinarische Welten erschlossen oder vergessene Traditionen wiederentdeckt. Neben allgegenwärtigem «Fast Food» und der «Technisierung» in der Produktion und Herstellung von Nahrungsmitteln steht das Engagement für «slow food», für alternative Formen der Erzeugung von Nahrungsmitteln, der Zubereitung von Speisen und des Essens. Die Dominanz industriell hergestellter Nahrungsmittel hat nämlich auch zu einer Rückbesinnung auf überliefertes bäuerliches und handwerkliches Wissen und Können geführt. Nach nicht allzu fernen Zeiten des Mangels und der Not, in denen das Bemühen, den Hunger zu bekämpfen und satt zu werden, im Vordergrund stand, haben sich zumindest in den westlichen Ländern die Prioritäten verschoben. Nun geht es weniger darum, dass man überhaupt etwas zu essen hat. Von Belang ist vielmehr, welche Nahrungsmittel man in welcher Weise zu sich nimmt.
Das Essen ist dadurch noch mehr als bereits in der Vergangenheit zu einem Distinktionsmerkmal geworden. So sind zum Beispiel in Zeiten, in denen das Auto immer weniger als Statussymbol dient, Küchen an seine Stelle getreten – und alles, was mit guten Speisen zu tun hat. Unser Essen – was und wie wir essen – zeigt, wer wir sind – oder zu sein beanspruchen. Unterschiedliche Trends und Szenen – mit je eigenen Essgeboten und -verboten – lassen sich voneinander unterscheiden. Das weit verbreitete Interesse daran, möglichst gut zu essen, fügt sich ein in das zeitgenössische Verlangen nach einem guten Leben. Diätetik und Moral stehen dabei in einem engen Wechselverhältnis. Geht es den einen in hedonistischer Perspektive um Sinneslust, verfolgen andere ökologische, gesellschaftliche oder politische Ziele. Wer gut isst, so scheint es, lebt gut. Oder anders: Man muss nur gut essen, um ein gutes Leben zu führen oder um sogar ein besserer Mensch zu werden.
Doch ist es notwendig, auf dieses Phänomen – die allgegenwärtige Bedeutung des Essens – einen zweiten Blick zu werfen. Soziologen weisen auf die kompensatorische Funktion des Diskurses über das Essen hin. Wie auch anderswo ist manches im wirklichen Leben umso bedeutungsloser, je mehr darüber gesprochen wird – oder es hat zumindest eine andere Bedeutung als jene, die ihm explizit zugeschrieben wird. Das Gerede über etwas ersetzt den Vollzug, die Reflexion das Leben, der Skrupel die Spontaneität. Mit der Fertigpizza in der Hand schaut man berühmten Fernsehköchen zu; beim Verzehr einer Tütensuppe oder kalorienreduzierter «convenience food» erfährt man, wie man einen deftigen Eintopf zubereitet; während man einen Pudding aus Plastikbechern löffelt, wird einem gezeigt, welche Süßspeisen Großmütter und Urgroßmütter noch zubereiten konnten. Und während heute oft alleine oder unterwegs, fern von zuhause gegessen wird, war lange Zeit das auch heute noch öffentlich idealisierte gemeinsame, mit anderen Menschen geteilte Mahl um einen heimischen Tisch herum selbstverständlich. Zwar vertreibt der schnelle Snack auf dem Weg ins Büro oder der im Stehen eingenommene Imbiss den Hunger. Doch fehlt ihm jene Inszenierung, jene tief in verschiedene Bereiche des Menschlichen ragende Dimension, die das Essen lange – nicht allein im bürgerlichen Zeitalter – charakterisiert hat. Er gehorcht einer anderen, nicht weniger inszenierten Logik – jener, so kann man vermuten, des kapitalistischen Individualismus, die dem, was bloß physisch notwendig zu sein scheint, im Alltag nicht allzu viel Raum und Zeit zugesteht und es auf das rein Funktionale reduziert und die, da sie den Menschen auf Trab zu halten versucht, bei fast allem das «to go», die flexible Mobilität, präferiert. Diese Logik ist zugleich immer auch von Exzessen in die andere Richtung gekennzeichnet, von luxuriöser Abundanz und zelebrierter Maßlosigkeit, so, als lasse sich die verlorene Mitte wiederfinden, indem man ein Extrem an die Seite eines anderen stellt und beide miteinander verrechnet.
Noch etwas anderes lässt sich beobachten, wenn es um gegenwärtige Esskulturen geht. Im Christentum und vielen anderen Religionen ist das gute Essen, das gemeinsame Mahl ein Bild für die Erlösung, aber nicht die Erlösung selbst. Jedoch hat sich an die Seite der viel beschworenen transzendentalen Obdachlosigkeit eine lebensweltliche Kellerlosigkeit gestellt. Lebensvollzüge, die einmal eine ihnen zugrunde liegende Tiefendimension eröffneten, die immer auch Verweis oder Symbol waren, hinter denen oder mittels derer sich eine andere, nur bildhaft zugängliche Welt eröffnen konnte, haben diesen Tiefencharakter verloren und müssen nun selbst erfüllen, wovon sie lange nur Verheißungen waren. Aus dem Bild wurde Wirklichkeit, aus dem Symbol die Sache selbst. Köche werden so zu Priestern und Stars, zu Sternchen im Medienhimmel, im Kochen vollzieht sich Transsubstantiation, die Verwandlung des Einfachen ins Komplexe, des Profanen ins Heilige, und das Essen selbst wird zu einer Art Sakrament, einer sakralen Handlung, die Sinn verspricht, wo allüberall die Erfahrung von Sinnverlust herrscht. Bilder der Erlösung sind so, wenn nicht banal, zu Mitteln der Selbsterlösung des Menschen geworden. Aus diesem Grund verspricht gutes und gesundes Essen – zusammen mit anderen sinnlichen Genüssen – oft nicht allein gesundheitliche Heilung oder zeigt moralisches Wohlverhalten, sondern verheißt sogar Erlösung und Heil, das höchste dem Menschen mögliche Glück.
Doch haftet vielen der allseits vernehmlichen Diskurse über das Essen auch aus einer anderen Perspektive ein schaler Beigeschmack bei – nicht allein, weil sie sich von der Wirklichkeit entfernt haben oder weil sie das Essen mit einer Bedeutung versehen, das es selbst gar nicht hat, sondern weil sie sich eine Naivität und Unschuld erlauben, die manchmal nicht anders denn gleichgültig oder sogar zynisch wirkt. Nur selten spielen in diesen Diskursen die Schattenseiten des Essens eine Rolle. Die publikumswirksam in Szene gesetzte Welt des Essens ist allzu oft eine glücksversessen-heile Welt, die davor zurückschreckt, die Hinter- und Abgründe des Essens in den Blick zu nehmen.
Die alles andere als überwundene Entfremdung des Menschen bedeutet nämlich heute auch, von der Nahrung und ihren Quellen entfremdet zu sein – und somit von der natürlichen Umwelt, die, ohne dass an die ökologischen Kosten gedacht würde, auf eine bloße Ressource reduziert und ausgenutzt wird. Gelegentlich stellt sich beim Essen die Frage danach, woher das, was wir zu uns nehmen, eigentlich kommt und wie es hergestellt und zubereitet wurde; manchmal auch regt sich ein schlechtes Gewissen beim Blick auf das, was auf unseren Tellern vor uns steht. Doch schnell werden – trotz manch wirkmächtiger Gegenbewegung – Fragen und Gewissensbisse verdrängt. Es schmeckt doch zu gut. Noch seltener wird über den Hunger gesprochen, darüber, dass heute immer noch Menschen nicht in ausreichendem Maße über Nahrungsmittel verfügen. Zwar ist in manchen Ländern heute Übergewicht zu einem grundlegenden Problem geworden. In anderen ist es aber nach wie vor das Untergewicht, der Mangel an Nahrungsmitteln, der ein menschenwürdiges Leben unmöglich macht. Dass bis heute Menschen hungern müssen und verhungern, ist ein Skandal – genauso wie die Gleichgültigkeit, mit der jene, die nicht hungern und in Fülle leben, oft übersehen, wie viele Menschen nicht über das tägliche Brot, jenes Minimum, welches das bloße Leben ermöglicht, verfügen. Zunächst scheint also doch, wie Brecht vermutete, das Fressen und erst dann die Moral zu kommen.
2. Der leibliche Hunger und die Bedürftigkeit des Menschen
Trotzdem ist, wenn vom Essen die Rede ist, immer auch vom Hunger zu sprechen: ein vielschichtiges, aber nur selten thematisiertes Phänomen. Ohne Frage ist die sozialethische Perspektive von größter Bedeutung:1 Wie kann es sein, dass heute immer noch Menschen hungern müssen? Was lässt sich gegen den Hunger unternehmen? Wie kann man eine weiter zahlenmäßig wachsende Bevölkerung ernähren? Dies sind wichtige Fragen, die allerdings im Folgenden nicht im Vordergrund stehen sollen.
Denn auch aus biologischer oder anthropologischer Sicht ist der Hunger ein zutiefst bedeutsames Phänomen. Ohne Hunger äßen Menschen vermutlich nichts. Zumindest hätte das Essen einen ganz anderen Reiz und eine ganz andere Bedeutung. Vielleicht würde man dann so essen, wie manch andere Pflicht erfüllt wird, nämlich aus Einsicht in ihre Notwendigkeit, aber ohne innere Zustimmung und auch ohne innere Freude und Lust. Allerdings hat auch in diesem Bereich die Natur das Notwendige mit dem Lustvollen kombiniert. Als Lebewesen bedürfen wir Menschen der Nahrung, sonst würden wir schnell sterben, und gerade daher ist die Aufnahme von Nahrung mit Lust oder ihr Mangel mit einem deutlich wahrnehmbaren Bedürfnis, mit Unlust und Schmerz verbunden. Es gibt übertriebene, luxuriöse Weisen des Essens, doch dass man essen muss, hat nichts mit Luxus, sondern vielmehr mit Lebenserhaltung zu tun.
Das ist einerseits eine triviale Aussage. Jedes Kind weiß, dass man regelmäßig essen muss. Es ist noch nicht einmal nötig, dies theoretisch zu lernen. Es reicht, auf seinen Körper zu hören. Irgendwann meldet sich der Hunger. Zunächst ganz leicht. Man verspürt ein leichtes Verlangen. Der Magen knurrt. Dann, wenn man immer noch nichts gegessen hat, immer heftiger. Was man zunächst noch überhören oder vernachlässigen konnte, lässt sich nicht mehr unterdrücken. Es fällt schwer, sich auf etwas anderes zu konzentrieren. Dies ist wohlbekannt. Was auf den ersten Blick so trivial klingt, ist jedoch, wenn man weiter darüber nachdenkt, ein Phänomen, das in die Tiefe blicken lässt. Denn auch der Hunger zeigt – wie das Essen –, was und wer der Mensch ist. Der Mensch ist nicht allein, so die berühmte materialistische Ansicht von Ludwig Feuerbach, was er isst, sondern wer oder was der Mensch ist, erschließt sich auch aus dem, wonach der Mensch hungert, und zunächst einmal daraus, dass er überhaupt hungert. Der Mensch ist das hungrige Wesen, das sich nach Nahrung sehnt, danach also, gesättigt zu werden. Außerdem ist der Mensch das immer wiederhungrige Wesen. Denn Hunger lässt sich nie dauerhaft, ein für alle Mal stillen, sondern wird sich, solange ein Mensch lebt, immer wieder neu einstellen.
Hunger gibt es nicht nur, weil es Mangel an Nahrung geben kann, sondern auch deshalb, weil der Hunger gesättigt werden kann und muss. Hunger ist daher ein teleologisches Phänomen, das nur dann verstanden wird, wenn man sein inneres telos, seinen natürlichen Zweck – nämlich die Lebenserhaltung – mit betrachtet. Aus diesem Grund ist Hunger zunächst ein biologisches Phänomen. Wenn Menschen hungern, dann zeigt sich, dass sie wie Pflanzen und Tiere Naturwesen sind. Als solche können sie sich nicht selbst genügen. Sie stehen in einem lebensnotwendigen Austausch mit ihrer Umwelt und sind darauf angewiesen, anderes zu sich zu nehmen und sich dieses durch die Prozesse des Stoffwechsels anzueignen. Wenig zeigt so deutlich die fundamentale Bedürftigkeit des Menschen wie der Hunger und die Tatsache, dass Menschen, um leben zu können, essen und trinken müssen, dass sie also eines anderen als sie selbst, der Nahrung nämlich, bedürftig sind. Daher zeigt gerade der Hunger, wie ergänzungsbedürftig – und fragwürdig-einseitig – die Bestimmung des Menschen als eines freien, souveränen Subjekts ist. Denn diese Bestimmung ist nur möglich, wenn die leiblichen Voraussetzungen menschlicher Freiheit – ihre natürlichen Voraussetzungen – nicht berücksichtigt werden. Der Mensch kann überhaupt nur, weil er einen Leib hat, der seinerseits der Nahrung bedarf, frei sein. Und das bedeutet: auch die Freiheit des Menschen ist letztlich eine bedürftige Freiheit, angewiesen auf die «Früchte der Erde», auf jene Menschen, die sie besorgen und bereiten, und auf den Schöpfer, der sie wachsen und gedeihen lässt.
Im Hunger, in der Bedürftigkeit des Menschen, zeigt sich die Einheit des Lebendigen. Doch zugleich hungern – und essen – Menschen auch ganz anders als Tiere und Pflanzen. In den menschlichen Grundvollzügen und -bedürfnissen erschließt sich nämlich immer auch die besondere, in der Anthropologie thematisierte Welt des Menschen, jene Weise, in der Menschen sind, d. h. nicht einfach leben, sondern ihr Leben führen, indem sie sich zu ihrer Natur, dazu, was sie sind, noch einmal eigens verhalten. So kann allein der Mensch fasten. Tiere können nur hungern. Denn nur dem Menschen ist es – aus religiösen, medizinischen oder anderen Gründen – möglich, bewusst und willentlich nicht zu essen, auch wenn er Hunger verspürt und Nahrungsmittel zugänglich wären. Und obwohl Menschen omnivore Lebewesen sind, also «Allesfresser», können sie – ebenfalls aus sehr verschiedenen Gründen – auf bestimmte Nahrungsmittel verzichten und vegan oder vegetarisch leben. Während Tiere fressen, essen Menschen. Wer als Mensch «wie ein Tier frisst» (als ob dies im strengen Sinne des Wortes überhaupt möglich wäre), lässt etwas vermissen: die Kultur des Essens, die sich dort eröffnet, wo Menschen sich in Freiheit zu ihrem Hunger, ihrem Bedürfnis nach Nahrung verhalten.
Dieses Verhalten kann die Formen einer ausdifferenzierten Hochkultur annehmen; es zeigt sich aber bereits in elementaren Formen der Besorgung, Verarbeitung und Verspeisung von Lebensmitteln. Zahlreiche Rituale, Gewohnheiten und Überlieferungen bestimmen diesen Lebensbereich. In den Nahrungsmitteln, die Menschen zu sich nehmen oder die für eine bestimmte Küche typisch sind, verdichtet sich menschliche Geschichte. In ihnen werden nicht nur regionale und klimatische, sondern auch religiöse, gesellschaftliche, psychologische, wirtschaftliche, politische oder kulturelle Einflüsse deutlich. So gibt es zu bestimmten religiösen Feiertagen bestimmte Speisen, die teils einen ausdrücklichen Bezug auf das jeweilige Fest haben und je nach Region variieren können. Bestimmte Speisen können in Vergessenheit geraten und neu entdeckt werden. Was heute typisch für eine bestimmte Gegend erscheint – etwa die Kartoffel für Mittel- und Nordeuropa oder die Tomate für Südeuropa – ist noch gar nicht so lange in diesen Breiten heimisch, wie es erscheint. Verschiedene Traditionen können sich überlagern und wechselseitig bereichern. Manche Traditionen schließen einander aus oder stehen in einem Spannungsverhältnis zueinander. Jedes Mahl erzählt daher auch eine Geschichte über die Menschen, die dieses Mahl einnehmen: über ihre gemeinsame Vergangenheit, über die Landschaft, in der sie leben, über das Klima, dem sie ausgesetzt sind, über die Bedingungen und Kontexte ihres gegenwärtigen Lebens oder auch über die Götter oder den Gott, an den sie glauben. In diesem Sinne ist der Mensch nicht allein, was er isst. Nicht allein das Essens bestimmt das Sein des Menschen, sondern auch sein Sein das Essen. Der Mensch isst auch, was er ist.
Noch etwas anderes zeigt sich, wenn man das menschliche Essen betrachtet. Menschen wollen nicht bloß irgendetwas oder irgendwie essen. Sie wollen gut essen. Dabei hat «gut» in diesem Zusammenhang eine recht umfassende Bedeutung. Es geht nicht allein darum, dass die Speisen gut schmecken. Zu einem guten Essen gehört u. a. auch, wie eine Mahlzeit eingenommen wird. Daher steht das «gute Essen» auch in einem engen Zusammenhang mit Messer, Gabel, Löffel oder Teller als ihrerseits schön gestaltbaren «Hilfsmitteln», mit der ansprechenden Dekoration eine Tafel, mit gefälliger Begleitmusik und anregenden Tischreden und insbesondere mit der angenehmen Gemeinschaft jener Mensch, mit denen man isst. In einem elementaren Grundvollzug wie dem Essen eröffnet sich daher die Spannung zwischen dem bloßen und dem guten oder glücklichen Lebens, auf die Aristoteles und anderes Denker nachdrücklich aufmerksam gemacht haben. Gewiss, manchmal steht beim Essen das bloße Überleben oder die schnelle Sättigung im Vordergrund; und ebenso gewiss gibt es gerade auch beim Essen übertriebene Formen des Luxus und der Verschwendung. Doch kann nicht geleugnet werden, dass sich dort, wo gegessen wird, ein natürliches und angemessenes Bedürfnis nach dem guten Leben ausdrückt. Man kocht, worauf man Appetit hat; man verbessert Rezepte oder achtet auf die Qualität der Zutaten. Blumen und eine Tischdecke zieren den Tisch. Man isst mit anderen Menschen, die man vielleicht eigens eingeladen hat, um etwas zu feiern, wünscht einander einen guten Appetit oder beginnt und beendet das Mahl mit einem Gebet, einem Dank an Gott als der Quelle des Lebens. Auf übertriebene Fülle oder Extravaganz kommt es dabei oft nicht an. Nicht selten ist ja gerade die «einfache» Küche besonders schmackhaft. So eröffnet sich in einem guten Mahl der Horizont des Guten, der seinerseits über das Essen – auch das gute – hinausweist. Aus diesem Grund kann das gelungene Mahl zu einem Bild erlösten Menschseins werden, eines Lebens, das keinen Hunger mehr kennt und nicht allein von Fülle, sondern auch von einem heiteren und friedlichen Miteinander der Menschen bestimmt ist – so wie umgekehrt der leibliche Hunger auch an eine tieferen Bedürftigkeit des Menschen erinnern kann, nämlich an jene der Seele.2
3. Der seelische Hunger und das Begehren des Menschen
Im Hungern und im Essen als leiblichen Phänomenen eröffnet sich immer schon die Welt des Seelischen. Denn das Leibliche ist vom Seelischen nicht zu trennen. Personen sind nicht Körper, die dann irgendwie noch über eine äußerlich ihnen angefügte seelische Dimension verfügten. Sie sind leib-seelische Wesen, so dass, was und wie ein Mensch isst, auch einen Einfluss auf seine seelischen Dimensionen hat. Daher weiß das Sprichwort, dass das Essen Leib und Seele zusammenhält. Dies gilt nicht nur für die materiellen Speisen, die wir zu uns nehmen, sondern auch auf einer anderen Ebene. Denn wie das Erotische das Leibliche durchzieht – das Verlangen, das nach dem schönen Wort Platons ein Kind der Armut und des Reichtums ist, das also von Mangel bestimmt ist und zugleich von einer Fülle weiß –, so auch das Seelische. Auch seelisch verspürt der Mensch Hunger, kann sich fehl ernähren oder sogar verhungern.
Das klassische philosophische Denken und die biblisch-theologische Tradition haben diesen Hunger oft zur Sprache gebracht und als Wesensmerkmal des Menschen gedeutet. So hungern Menschen nach Gerechtigkeit, weil die Welt, in der sie sich vorfinden, ungerecht ist. Oder sie sehnen sich nach dem Guten, gerade weil sie immer wieder etwas anders – Böses, Übles oder Negatives – erfahren. Sie sehnen sich, weil sie immer wieder auf Lug und Trug stoßen, nach Ehrlichkeit, Wahrheit und Wahrhaftigkeit. Bereits kleine Kinder fragen, wenn man ihnen eine lustige oder spannende Geschichte erzählt oder ihnen einen Bären aufzubinden versucht, ob das wahr sei, was man gerade sagt. Unwahrheit macht nicht nur nicht satt; sie kann einen Menschen oder auch das Verhältnis unter Menschen vergiften. Am Post-Faktischen kann man sich seelisch den Magen verderben. Menschen sehen sich aber auch nach Schönen, nach jenem, was nicht allein bloßer Schein ist oder ein kurzes Wohlgefallen erzeugt, sondern sie als wirklich Schönes in seinen Bann zieht und verändert. Das Gute und das Gerechte, das Wahre und das Schöne können den seelischen Hunger des Menschen, sein Begehren nach Sinn und Orientierung – von anderer Art als die leiblichen Bedürfnisse und doch auch auf sie bezogen – stillen. Und weil auch dieser Hunger sich je neu meldet, weil er sich unter den Bedingungen endlicher Existenz nie sättigen lässt, verspüren Menschen in sich immer auch ein Begehren nach einer Fülle, die bleibt und in deren Licht jede andere Sättigung sich als vorläufig erweisen wird. Dies ist ein Begehren nach jenem, was man Heil nennt, nach Gott, in dem allein das unruhige, begehrende Herz Ruhe finden und wirklich satt werden kann.
Von diesem Begehren wird heute nur selten noch gesprochen. Daher kann man die Frage stellen, ob die Tatsache, dass so viel über das Essen gesprochen wird, nicht in einem noch viel tieferen Sinne eine kompensatorische Funktion erfüllt als jene, dass damit auf die Krise des leiblich-materiellen Essens reagiert wird. Könnte diese Tatsache nicht darauf verweisen, dass es auch eine Krise des Essens auf einer anderen Ebene, eine Verdrängung des seelischen Hungers gibt? Erscheint die Rede von diesem Hunger vielen Menschen heute nicht allzu metaphysisch, abhängig von Voraussetzungen, die längst nicht mehr geteilt werden, ja, vielleicht sogar gänzlich in Frage gestellt werden müssen? Doch verkennt man mit einer derart radikalen Kritik an der metaphysischen Sehnsucht des Menschen nicht etwas zutiefst Menschliches? Denn was geschieht, wenn das so menschliche Begehren nach Wahrem, Schönem und Guten, das Bedürfnis nach Wirklichkeit, nicht mehr gesättigt wird, indem das Wahre auf das Richtige, das Schöne auf das Angenehme, das Gute auf das Funktionale reduziert wird? Verkümmert dann nicht auch der Mensch – so wie er leidet, wenn er der leiblichen Nahrung entbehrt?
Es gibt allerorten immer mehr Optionen, seinen leiblichen Hunger zu stillen, immer mehr Möglichkeiten, Exotisches auszuprobieren, immer mehr Gelegenheiten zum Gaumenkitzel wie auch zum belanglosen Verzehr. Doch wo gibt es Orte, an denen dem Wahren die Ehre erwiesen wird? Wo kann das Schöne in Erscheinung treten? Wie kann das Gute noch zu uns sprechen? Und kann man dieses Begehren überhaupt noch artikulieren? Haben wir es nicht mittlerweile so vergessen, dass uns selbst die Erinnerung fremd erscheinen muss?
Vielleicht brauchen wir heute mehr als je zuvor eine Diätetik der Seele. Oder anders, da «Diätetik» nach Verzicht klingt, der Mensch aber, so sehr er ein Mängelwesen ist, auch ein «Fülle-» oder «Glückswesen» ist, ein Wesen also, das in sich ein Verlangen nach Fülle und Glück trägt und das in allem, was es tut und erreicht, unruhig bleibt: eine «Gastronomie» des Seelischen. Diese nähme Rituale, die dem Wahren die Ehre geben, in den Blick, sie spräche von Handlungen, die, selbst wenn sie keinen Nutzen versprechen, wirklich gut sind und von der Gerechtigkeit Zeugnis ablegen, sie führte zu Zeremonien, in denen das Schöne gefeiert wird, und nähme Perspektiven ein, die den Horizont für jene Wirklichkeit eröffnen, die auf Dauer satt macht.