Seit es katholische Dogmengeschichtsschreibung und Theoriebildung zur Dogmenentwicklung gibt, zählen sie zu den riskanten und kontroversen, im Verhältnis zwischen Theologie und Lehramt oftmals prekären (275), in der Sache aber höchst spannenden und lehrreichen Gegenständen der systematischen Theologie. Dabei fehlt es auch heute nicht an Stimmen, die ein Werden und Wachsen und womöglich sogar die Reformulierung oder Korrektur kirchlicher Lehre per definitionem für unmöglich bzw. für illegitim halten. Was wahr ist, ist in dieser Optik für alle Menschen aller Zeiten wahr; die Dogmatisierung hebt lediglich ins Wort, was immer schon im dann definierten Sinne gilt. In dieser Perspektive kann Dogmengeschichtsschreibung freilich nur apologetische Doxographie sein: «theologischer» Nachweis lehrmäßiger Kontinuität – sogar dann, wenn kirchliche Lehrbildung offenkundige Neuerungen einführt, wie es bereits den zeitgenössischen Debatten zufolge bei den einzigen dogmatischen Definitionen der jüngeren Vergangenheit, den Papst- und Mariendogmen von 1854, 1870 und 1950, der Fall war. Manch dringliche Lehrentwicklung der Moderne scheiterte demgegenüber an ebendieser Konstruktion doktrinaler Kontinuität, wie man anlässlich aktueller Debatten zur katholischen Lehre in unterschiedlichen Themenfeldern (z.B. Humanae vitae, Ordinatio sacerdotalis) lernen kann.
Michael Seewald setzt bereits mit dem Titel seines Buches einen nüchternen Kontrapunkt gegen solche ahistorischen Konstruktionen einer immerwährenden Selbigkeit und systemischen Logik kirchlicher Lehre. Dass Glaubenslehren sich entwickeln, lässt sich schlechterdings nicht leugnen; spannend wird es dort, wo man eben diese historische Dynamik und ihr Potenzial für Gegenwart und Zukunft theologisch reflektiert (274). Er schreibt eine Geschichte der Lehrentwicklung in Bezug auf das Problem der Lehrentwicklung.Die Theoriebildung zur Dogmenentwicklung wird also selbst zum Gegenstand einer dogmengeschichtlichen Abhandlung.
Seewald liefert begriffsgeschichtliche Studien zum Terminus «Dogma», der erst in der Neuzeit meint, was heutzutage ganz selbstverständlich mit ihm verbunden wird: eine von Gott geoffenbarte Lehre, die verbindlich von der Kirche vorgelegt wird und deren Leugnung Häresie bedeute. Markante Punkte dogmatischer Auseinandersetzung wie das Dogma von Nicaea, der Filioque-Streit oder die erwähnten Definitionen des 19. und 20. Jahrhunderts dienen als Exempel, um Lehrentwicklungen zu erläutern. Mit Hilfe einer chronologischen, durchweg systematisch interessierten Durchsicht theologischer Ansätze führt Seewald seine Leser souverän durch ein komplexes und höchst dynamisches Feld. Nebenbei erschließt er neue Perspektiven auf Begrifflichkeit und Bedeutung von Glaube, Offenbarung und Dogma. Vermeintlich hinlänglich bekannte (z.B. Vinzenz von Lérin, John Henry Newman), aber auch vergessene Ansätze zum Verständnis der Entwicklung kirchlicher Lehre werden sorgfältig hinsichtlich ihrer Voraussetzungen, Anliegen, Möglichkeiten und Grenzen erläutert, ihre landläufige Einordnung dabei bisweilen gegen den Strich gebürstet.
Die Neuscholastik beispielsweise erweist sich bei aller historischen Sterilität als bunter denn gedacht, und manch theoretische Errungenschaft des 20. Jahrhunderts, namentlich die Beschreibung der Geschichtlichkeit des Dogmas (Rahner, Ratzinger, Kasper), entlässt neue Ambivalenzen. Wo man, was Konsens sein dürfte, Offenbarung von ihren misslich so genannten «Quellen», Schrift und Tradition, unterscheidet und kirchliche Lehre auf Offenbarung hin relativiert (Ratzinger), wo man das Dogma konsequenter Weise nicht ein «Wort Gottes, sondern ein Wort der Kirche [nennt], durch das diese verbindlich versucht, das Wort Gottes in die Zeit hineinzusprechen» (264), entsteht einerseits ein enormes kritisches Potenzial gegenüber fixierten Lehren, Strukturen und Bräuchen. Das heutige personale und geschichtliche Offenbarungsverständnis ist aber andererseits «anfällig für Instrumentalisierungen, in der die Macht der Autorität die Kraft der Argumente zu ersetzen droht, weil den Argumenten gleichsam das positive Material [die «Vorlage» in Schrift und Tradition] […] entzogen wird» (261). Nun wird es möglich, «Dinge als geoffenbart [zu] verkünden [lehramtlich zu fixieren], deren Geoffenbartsein sich anderen Mitgliedern der Kirche nicht unbedingt erschließt» (261).
In Seewalds materialreichem Durchgang durch die Theoriebildung zur Lehrentwicklung treten diverse geschichtlich realisierte Möglichkeiten zutage, Glaube und Offenbarung, Bibel und Dogma, Wahrheit, Sprache und Geschichte sowie Theologie und Lehramt in ein Verhältnis zu setzen. Das irritiert gewohnte Denkweisen und Strukturen und weitet den Horizont des Denkbaren. Deutlich wird: «Die auf den ersten Blick starre Dogmenkonzeption des katholischen Lehramtes verdankt sich selbst einer Dynamik der Entwicklung und Veränderung, die bis in die jüngste Vergangenheit reicht.» (50) Solche Beobachtungen, die er quellennah entwickelt, kundig kontextualisiert und pointiert benennt, machen den Reiz dieses Buches aus. Ausgesprochen hilfreich ist darüber hinaus Seewalds idealtypische Paradigmatik entwicklungstheoretischer Ansätze (276–280), die er als systematischen Ertrag der Studie präsentiert.
Was er nicht liefert und ausdrücklich nicht liefern will, ist eine Metatheorie zur Dogmenentwicklung, eine theologische Beurteilung konkreter dogmatischer Festlegungen oder eine Wunschliste dogmatischer Veränderungen. Das würde das Anliegen seiner Untersuchung konterkarieren und ihren Gegenstand überfordern. «Theologische Entwicklungstheorien bieten keine dogmatische Weltformel, haben aber die Aufgabe, den Raum des Möglichen gegenüber seinen beiden Bestreitungen – dem angeblich Unmöglichen und dem angeblich Notwendigen – offenzuhalten.» (270) Das Grundproblem aller Dogmengeschichte und Lehrentwicklung, «die instabile Gleichzeitigkeit von Kontinuität und Diskontinuität zu bedenken» (19) und auszubalancieren, damit Kirche apostolische Kirche bleibt, muss ohnehin jede Zeit neu bearbeiten. «Dabei kommt dem doktrinalen Element eine gewichtige, aber nicht die wichtigste Rolle zu» (286). Eine Reduktion der Frage, was die Identität und Kontinuität der Kirche garantiere, auf den Nachweis der Identität und Kontinuität kirchlicher Lehren, führt jedenfalls, wie die anhaltenden Debatten um Amoris laetitia zeigen, nicht weiter. Konstruktiver und theologisch angemessener dürfte die «ekklesiale Verortung der Kontinuitätsproblematik» (290) sein, die Seewald als Quintessenz der von Benedikt XVI. vorgeschlagenen «Hermeneutik der Reform» expliziert: Was Kirche mit sich identisch sein lässt, ist keine Liste von Lehrsätzen, sondern die Selbigkeit des Subjekts Kirche durch all ihre geschichtlichen Wandlungen hindurch. So könnten auch «jenseits von Reförmchen, die bei rein doktrinaler Betrachtung von manchen bereits als Bruch wahrgenommen werden, […] ganz andere Horizonte in den Blick geraten» (290).