Poetische PneumatologieNeue Gedichte von Christian Lehnert

Cherubinischer Staub – schon dieser Titel lässt aufhorchen. Cherubim und Seraphim – das sind die himmlischen Heerscharen, die dem Gott Zebaoth ihren Lobgesang darbringen. Das Flügelrauschen der Cherubim begleitet den göttlichen Thronwagen (vgl. Ez 10), die Seraphim singen das Sanctus, Sanctus, Sanctus (vgl. Jes 6), in das die Liturgie der Kirche sich von alters her einzuschwingen versucht. Christian Lehnerts Anzeige des Cherubinischen – soll sie einen Kontrapunkt gegen eine um sich greifende Doxologie-Müdigkeit setzen, will sie das Loben und Preisen als Ausdrucksform neben Bitte, Klage und Anklage neu in Erinnerung rufen und behaupten?

Neben das Cherubinische tritt der Staub, die biblische Chiffre für Vergänglichkeit. Dadurch wird eine Spannung erzeugt. Engel und Staub – wie passt das zusammen? Die Angelologie in der Summa theologiae des Thomas von Aquin rechnet unter die Eigenschaften der Engel, dass sie geistige Kreaturen sind, unstofflich, unkörperlich und unvergänglich (S.th. I, q. 50f.). Staub hingegen steht für Materie, für Körperlichkeit und Vergänglichkeit. Aber der unter dem Neigungswinkel der Kreatürlichkeit stehende Mensch hat Atem und Stimme, er ist ein Sprachwesen, das die anderen Geschöpfe beim Namen nennen kann. Er kann die Lippen auftun und andere ansprechen, anrufen, er kann dichten und psalmodieren, ja singen und jubilieren – und durch diese Sprachbewegungen in Sphären vordringen, die über das Irdische hinaus ins Göttliche weisen. Cherubinische Sprachbewegungen eben! Als Pate dafür mag Angelus Silesius stehen, der Schlesische Bote, der mit bürgerlichem Namen Johannes Scheffler hieß: Barock-Dichter, Theologe und Arzt, Konvertit und Priester, der in seinem Cherubinischen Wandersmann Sinnsprüche zusammengestellt hat, die in unzähligen Variationen das Thema der mystischen Einigung der Seele mit Gott durchspielen und feiern. Karl Barth hatte keine Antenne für diese Dichtung – sie würde die «Entgottung Gottes» riskieren, wenn sie kühn die Angst des Schöpfers um sein geliebtes Geschöpf ins Wort brächte. Unwirsch sprach der Basler Theologe von «frommen Unverschämtheiten» (Kirchliche Dogamtik, II, 1, 316) und monierte, dass das Büchlein auch noch mit dem Imprimatur eines römisch-katholischen Bischofs versehen in die Welt hinausgegangen sei. Nun denn!

Der neue Gedichtband des Dichters und Theologen Christian Lehnert – es ist der siebte – setzt ein mit einem «Wörterbuch der natürlichen Erscheinungen». Wörterbücher braucht, wer eine Sprache lernt oder im richtigen Gebrauch der Wörter noch unsicher ist. Wenn ein Dichter ein Wörterbuch anlegt – noch dazu einer, der so souverän und spielerisch leicht mit Sprache umgehen kann wie Christian Lehnert –, dann könnte das die Antwort auf eine Krise sein, eine Sprachkrise, die der Lord-Chandos-Erfahrung bei Hugo von Hofmannsthal vergleichbar gewesen sein mag, dem bekanntlich die Worte «wie modrige Pilze im Munde zerfallen» sind. Stille ohne Maß ist der erste Teil des Gedichtbandes Cherubinischer Staub überschrieben. Im Innehalten, im Schweigen werden die Wörter neu gefunden. In Zweizeilern, die jeweils mit Datum und Ort signiert sind, ruft Lehnert Wörter ins Gedächtnis, als wolle er sich nach einem Vertrauensverlust in die Sprache neu vergewissern und, wie er in seiner Wiener Poetikvorlesung ausführte, durch «die pure Benennung, Wortlisten von Dingen, die ich sah und erlebte», den sichereren Umgang mit den Wörtern zurückgewinnen. Das klingt dann so: «Ein Rauhreif, abends haucht das Kind auf schwarzes Glas. / So wird der Schwan genannt: die Stille ohne Maß.» Oder so: «Im Spätherbst, Flammenhang, die Sonne wärmt nicht mehr. / So heißt das Eichenlaub: Die Lider werden schwer.» Rhythmus und Reim geben Halt, die flüchtigen Natur-Beobachtungen, die auch Eidechsen, Feuerkäfern und Falken gelten können, werden in alexandrinische Epigramme gegossen. Nach winterlichen Zweizweilern, die Impressionen bei Eis, Frost und Schnee festhalten, kann dann auch Frühlingshaft-Österliches aufkommen: «Die Stare sammeln sich im dürren Laub der Schlehen. / So heißt der Pfad am Berg: Aus Staub wirst du erstehen.» Die Naturerscheinungen, die so poetisch protokolliert und ein Wörterbuch bilden, schreiten den Zyklus der Jahreszeiten ab und erhalten entsprechende Färbungen.

Schon in seinen letzten Gedichtbänden – Windzüge und Aufkommender Atem – spielte bei Christian Lehnert das Wortfeld von Wind, Hauch und Atem eine bedeutende Rolle. Diese poetische Pneumatologie wird in der Sammlung Cherubinischer Staub weitergeführt und angereichert. So etwa in dem Epigramm Sturm: «Ein dichter Schnee, in mir die Atemnot, so klingt / der GOtt, ein feiner Zweig, der zittert, summt und schwingt.» Aber nicht nur die seismographische Wahrnehmung von Naturvorkommnissen, auch die gesteigerte Selbstbeobachtung kann eine Brücke ins Offene schlagen, wie der Sinnspruch Puls zeigen mag: «Der GOtt wird nicht gedacht, im Atem wird ER wahr. / So hebt im Dunkel an, des Nachts, das neue Jahr.» Oder in der Epiphanie des brennenden Dornbuschs, die das Epigramm Ich bin, der ich bin (2. Mose 3, 14) aufnimmt: «‹Wer weiß denn, wer ich bin?› SEin Atem sucht den Ort, / wo er begann und geht. So wird der GOtt ein Wort.» Daran aber, dass Atem und Leben zusammengehören, erinnert auch der Doppelvers Atemgeräusch: «Denn alle wissen GOtt, die ihren Atem wissen, / die Kühle und den Sog, die Fülle, das Vermissen.»

Der zweite Teil des Bandes ist Von der Unruhe überschrieben und greift zu größeren Formen aus. Sonette finden sich hier, Gebete auch, sogar eine Elegie auf den Baal von Palmyra, «den Gott, den niemand mehr glaubt», der nach der Sprengung des Tempels durch den IS in Staub aufgegangen ist. Bemerkenswert auch die Gedichte auf Kaspar, Melchior und Balthasar, die drei Weisen, die aufgebrochen sind, dem Stern zu folgen, ohne zu wissen, wohin sie geführt würden. «Warum er aufbrach?», heißt es da. «Er nannte das ‹Mitleid›. Mit jener Linie / zwischen Himmel und Erde, die wandert …» Oder: «[…] er sprach nur von ‹dem, was ihm fehlte›, / sich entzog, die Sehnsucht hinüber. Fort, wo kein Laut war, / Wehendes, ununterbrochenes Lauschen, doch ohne Geräusche, / spurlos. Er hatte es satt, daß geschähe nur, was er verstünde.» Ein Fingerzeig auf die Passionssalven an die leidenden Glieder Christi darf hier nicht fehlen. Sie sind an die Hände, die Seite, das Herz gerichtet. Nachdem Lehnert in seinem Essay Korinthische Brocken die theologia crucis des Apostels Paulus eindringlich ausgelotet hat, sind hier Betrachtungen entstanden, die das Zeug hätten, eine aus der Mode geratene Frömmigkeitsform neu zu beleben: Die Passionsandacht. Vielleicht darf man sich in einem der nächsten Bände von Christian Lehnert eine poetische Fortschreibung der vierzehn Stationen der via crucis erhoffen.

Die Baumgespräche, der dritte und letzte Teil der Sammlung Cherubinischer Staub, spielen, ohne dass das direkt gesagt würde, auf Brechts Gedicht An die Nachgeborenen an. Darin heißt es: «Was sind das für Zeiten, wo / Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist / Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!» Paul Celan hat darauf geantwortet, Erich Fried auch. Nun Christian Lehnert, der allerdings nur im Modus des Verschweigens auf die Brecht’sche Vorlage eingeht, die ihm vielleicht zu direkt, zu plakativ, zu polternd ist. Seine Gespräche mit Fichten, Buchen und Eschen, in welche Zitate aus den Werken von Jakob Böhme eingeflochten sind, beschließt Lehnert mit einem Kürzel, das für einen Suhrkamp-Band ganz ungewöhnlich ist, das aber sehr genau die Sinnrichtung seiner Gedichte anzeigt: S.D.G. – Soli Deo Gloria.

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Christian Lehnert

Cherubinischer StaubGedichte

uhrkamp: Berlin 2018, 112 S., € 20,00.

Christian Lehnert

TeilchenZur Verwandtschaft von poetischer und religiöser Rede

in: Jan-Heiner Tück – Tobias Mayer (Hg.), Nah – und schwer zu fassen. Im Zwischenraum von Literatur und Religion, Freiburg i. Br. 2017, 97–120, hier: 103