Führe uns nicht in Versuchung

Theologische Versuche zum Problem der Versuchung gibt es viele. Zuletzt hat eine Äußerung von Papst Franziskus für einiges Aufsehen gesorgt, Gott sei kein Versucher, die Bitte des Vaterunsers «et ne nos inducas in tentationem – und führe uns nicht in Versuchung» sei keine gute Übersetzung und werde besser geändert: «und lass uns nicht in Versuchung geraten». Ohne die philologische Fragwürdigkeit dieses Änderungsvorschlags zu erörtern – der griechische Urtext, die Vulgata, aber auch die Luther-Bibel stehen dagegen –, ist theologisch doch klar, dass Papst Franziskus die Güte Gottes, des Vaters, unter keinen Umständen verdunkelt wissen will (vgl. 1 Joh 1, 5). Daher lehnt er es kategorisch ab, von Gott als Urheber menschlicher Versuchungen zu sprechen. Sein Standpunkt ist klar, er kann sich auf die Aussage des Jakobusbriefs stützen, Gott selbst führe niemanden in Versuchung (vgl. Jak 1, 13–15); auch hat er die antignostische Weichenstellung der patristischen Theologie im Rücken, welche die Güte Gottes, des Schöpfers Himmels und der Erde, gegen jede Dämonisierung ins Feld führt; schließlich steht das Votum von Franziskus quer zu heutigen Theodizee-Theologien, die eine Verdunklung des Gottesbegriffs in Kauf nehmen, wenn sie von einer Schuld (oder sogar Erlösungsbedürftigkeit!) Gottes sprechen. Das theologische Interesse, den Gottesbegriff vom Problem der Versuchung abzukoppeln, hat allerdings seinen Preis. Das Böse, das in der Geschichte manifest ist, muss auf das Konto einer anderen Macht gebucht werden. Für diese Macht hat der Papst auch einen Namen: «Wer dich in Versuchung führt, ist Satan.»

Gott ist gut, Satan ist böse – und das Leben der Menschen ist der Schauplatz, auf dem das Gute trotz der Verlockungen zum Bösen zu bewähren ist. Dieses Deutungsangebot dürfte für Menschen in extremen Leidsituationen eine Zumutung sein. Dennoch wird man Papst Franziskus wegen seiner Rede vom Teufel nicht gleich Manichäismus vorwerfen, als würde er einen Dualismus von zwei widerstreitenden Prinzipien annehmen und einem metaphysischen Kampf zwischen Gut und Böse in der Geschichte das Wort reden. Auf der Synode von Braga (561–574) ist der Manichäismus bekanntlich verurteilt worden. Die katholische Lehrtradition aber hat wiederholt hervorgehoben, dass der Teufel ein ursprünglich von Gott gut geschaffener und dann zum Bösen abgefallener Engel sei (vgl. DH 286, 797 u. 1333), eine intelligible Macht sozusagen, die Böses nur wirken kann, weil der gute Schöpfergott ihr entsprechenden Freiheitsspielraum gelassen hat. Das Böse – oder besser: der Böse – ist ontologisch demnach nicht gleichrangig mit Gott. Dennoch ist Satan als Versucher wirksam und kann Menschen, die schwach genug sind, sich versuchen zu lassen, in seinen Bann schlagen. Die alte Frage, woher das Böse kommt, wenn Gott doch gut ist, wird hier mit der Figur des Satans beantwortet – eine Antwort, die man als theologische Verschiebungsstrategie bezeichnen kann. Nicht Gott wirkt das Böse, noch tritt er als Versucher des Menschen in Erscheinung, aber er lässt es doch zu, dass der Satan Böses wirken und den Menschen mit teuflischer Raffinesse versuchen kann. Trägt Gott dann nicht aber doch die Letztverantwortung für das Böse? Denn ohne Gott, den Schöpfer, kein Satan, der den freien Menschen versuchen könnte.

Das vorliegende Heft der communio geht dem hier nur angeschnittenen Thema Versuchung in unterschiedlichen Variationen nach. Die Bibel macht den Anfang. In ihr finden sich Erzählungen von Versuchung, Anfechtung und Erprobung. Im 22. Kapitel des Buches Genesis wird die verstörende Geschichte von der Bindung Isaaks erzählt, die nicht nur die theologische Auslegungskunst, sondern auch Philosophen wie Kant, Kierkegaard und Derrida umgetrieben hat. Gott selbst gebietet dem Stammvater, den eigenen Sohn zu schlachten! Kant hat an diesem Auftrag moralischen Anstoß genommen; ein Gott, der verlange, einen Menschen zu töten, sei kein Gott. Die in der Bibel bezeugten Gotteserfahrungen sind allerdings Ausdruck der komplexen Lebenswelt ihrer Verfasser und können, so der Zürcher Alttestamentler Konrad Schmid, nicht einfach in das Korsett der Kantschen Moralphilosophie gespannt werden. Die Intervention des Engels, die Abraham im letzten Augenblick daran hindert, das Äußerste zu tun, wurde häufig als Absage an die Praxis der Kinderopfer gedeutet. Aus der vermeintlichen Inhumanität der Erzählung – ein Vater soll seinen Sohn schlachten – würde so ein pädagogisches Narrativ der Aufklärung und Humanitätsförderung. Schmid führt gute Gründe an, warum diese religionsgeschichtliche «Rettung» der dunklen Erzählung, so attraktiv sie auf den ersten Blick sein mag, nicht haltbar ist. Er selbst bettet Genesis 22 in den größeren Zusammenhang der Abrahamserzählungen ein und stellt heraus, dass Isaak nicht nur Sohn, sondern auch und vor allem Träger der Verheißung ist. Die Erfahrung aber, dass eine gerade gewährte Verheißung wieder zurückgenommen wird, entspreche den zeitgeschichtlichen Umständen der Entstehung des Textes. Die Erzählung von der Prüfung Abrahams zeige, dass, selbst wenn Gott als fremd erfahren werde, der in Treue durchgehaltene Glaube sich letztlich als zielführend erweise. Der Siegener Neutestamentler Hans-Ulrich Weidemann schließt daran an und ruft in Erinnerung, dass der griechische Begriff peirasmos nicht auf den Aspekt der Versuchung enggeführt werden könne, da er auch die Bedeutung von Erprobung und Prüfung umfasse. Vor diesem Hintergrund beleuchtet er die Versuchungserzählungen der synoptischen Evangelien. An der Schwelle zu seinem öffentlichen Wirken wurde Jesus vom Geist in die Wüste geführt, um am Ort der Unwirtlichkeit und Lebensferne in Versuchung geführt zu werden. Alle drei teuflischen Proben besteht er in Treue zu Gott und seinem Wort. Weidemann lenkt den Blick aber auch auf die Szene im Garten Gethsemani, in der Jesus nach einem dramatischen Ringen seinen Willen in den Willen des Vaters legt, während er seine Begleiter auffordert, zu wachen und zu beten, um nicht in Versuchung zu geraten. Auch im Hebräerbrief begegnet das Motiv der Todesfurcht als Erprobung. Christologisch bedeutsam ist die Aussage, dass wir keinen Hohenpriester haben, der nicht mitfühlen könnte mit unseren Schwächen. Mit Blick auf Christus, den Überwinder der Versuchungen, dürfen gläubige Christen im Sinne der praktischen Nachfolge hoffen, ebenfalls die Versuchungen zu bestehen.

Der Freiburger Dogmatiker Helmut Hoping nimmt die Versuchungsbitte des Vaterunsers als Anfrage an das Gottesbild und die Rede vom Teufel in den Blick. Von den biblischen Zeugnissen her, die Gott mit dem Thema sehr wohl in Verbindung bringen, warnt er vor einer Banalisierung des Gottesbildes, welche die abgründigen Seiten der Wirklichkeit theologisch ausblendet. Auch erteilt er der Forderung nach einem «Abschied vom Teufel» (Herbert Haag) eine Absage. Nicht nur die theologische Tradition, auch die Päpste Johannes Paul II. und Benedikt XVI. hätten vom Bösen als einer personalen Macht gesprochen. Bei Papst Franziskus begegne allerdings die problematische Tendenz, den Teufel zu einer Art «Gegenspieler auf gleicher Augenhöhe» mit Gott zu stilisieren. Demgegenüber erinnert Hoping daran, dass der Teufel nur in den von Gott gesteckten Grenzen wirken könne, und votiert selbst für eine Theologie, die Gott die Letztverantwortung für die Geschichte zuspricht.

Der Grazer Philosoph Peter Strasser geht in seinem Essay «The Devil’s Party» der Ästhetik des Bösen nach. Die gleißnerische Verlockung, die reizt und lockt, die schöne Larve als Maskerade des Bösen finden sein Interesse. Kontrapunktisch dazu beleuchtet er die Ästhetik des Kreuzes, die er an Holbeins totem Christus und Grünewalds Kreuzesdarstellung illustriert. Nach Überlegungen zu einer Ästhetik des Monsters, die in den aufgeklärten Gesellschaften der Gegenwart vor allem im Medium des Films und der Computerspiele erneut Konjunktur hat, widmet sich Strasser der Frage nach der Autonomie einer Ästhetik des Bösen. Philosophisch neigt er einer Rehabilitierung der Privationstheorie zu, die dem Bösen, all seiner geschichtlichen Negativität zum Trotz, keinen eigenständigen ontologischen Status zuschreibt.

Moraltheologische Skizzen zum Thema Versuchung legt der Regensburger Moraltheologe Herbert Schlögel vor. Er stellt heraus, dass die Versuchung als solche wertneutral ist, erst die Art und Weise, wie auf sie reagiert werde, sei ethisch relevant. Sünde aber könne als Verweigerung, Verantwortung zu übernehmen für das Verhältnis zu Gott, zum anderen und zu sich selbst, gefasst werden. Dies wird an Beispielen der Umwelt-, der Beziehungs- und der politischen Ethik näher verdeutlicht, in denen vielfältige Formen der Verantwortungsflucht zu beobachten sind. Impulse zu einer Kultur der gesteigerten Wachsamkeit und der Anteilnahme am Geschick der anderen könnten dem gegensteuern.

Den Abschluss macht der Heidelberger Germanist Helmuth Kiesel mit einem Essay über «Fausts Versuchungen». Er stellt heraus, dass der Prolog von Goethes Faust in den Kommentaren oft auf das Streitgespräch zwischen Gott und Satan im Buch Hiob bezogen worden sei, nie aber auf die sechste Bitte des Vaterunsers. Das dürfte damit zusammenhängen, dass das Versuchungsmotiv durch Goethe umcodiert wird: Nicht mehr steht die Frage nach der jenseitigen Rettung im Fokus der Aufmerksamkeit, sondern das Streben Fausts. Dieses darf nicht erschlaffen und soll durch Mephistopheles neu angestachelt werden. Der Teufel fungiert so als erfinderischer Stimulator der modernen Welterschließung, die immer auch Weltbemächtigung ist. Dabei aber kommen die alten Versuchungen der Schönheit, Liebe und Macht neu ins Spiel.

In den Perspektiven dokumentieren wir den Festvortrag, den der frühere Bundestagspräsident Wolfgang Thierse beim letzten Dies Facultatis der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien im Oktober 2018 gehalten hat. Weiters setzt sich der Neutestamentlicher und Altbischof von Holstein-Lübeck Ulrich Wilckens konstruktiv-kritisch mit den «Anmerkungen zum Traktat De Iudaeis» von Joseph Ratzinger / Benedikt XVI. auseinander. Der Passauer Theologe Manuel Schlögl bietet schließlich eine Deutung der Christologie des Maximos Confessor, der die menschliche Willensfreiheit Jesu im Streit mit den Monotheleten verteidigt hat. Das Wort: «Nicht mein, sondern dein Wille geschehe» könnte ein Wort der Orientierung in Situationen der Anfechtung und Versuchung sein.

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