Was ist digitaler Humanismus?

Manchmal reibt man sich die Augen: Wie kam es eigentlich dazu, dass die ‹Digitalisierung› ein selbstverständliches und scheinbar universal konsensfähiges Mantra der Modernisierung wurde? Zukunftsorientiert und innovativ klingende Phrasen rund um den Ruf ‹Digitalisiert Euch!› tönen durch die Parteiprogramme. Daran ist sicher richtig, dass der Ausbau der Breitbandnetze, besonders in ländlichen Regionen, viel zügiger vorangetrieben werden muss; umstrittener ist dagegen die bildungspolitische Forderung, auf schnellstem Wege alle Schulen ‹ans Netz› zu bringen. Schüler sollen digitale Kompetenz erwerben – nur worin diese besteht und wer sie zu lehren weiß, darüber erfährt man kaum etwas, sagen die Kritiker. Zu wenig wird darüber nachgedacht, ob die «neuen Alphabete» (Alexander Kluge) der digitalen Sprache und ihre Zeichensysteme bereits verstanden werden, wie sie angeeignet und lesbar gemacht werden könnten. Dem rasanten Wandel, der mit der Digitalisierung einhergeht, hinkt die entsprechende Reflexion weit hinterher. Und wer dem Credo ‹Digital ist besser› nicht folgt, zieht sich den Vorwurf der ewiggestrigen Fortschrittsverweigerung zu. So scheut man sich, Einwände, die sich doch unmittelbar aufdrängen, zu äußern: Erwerben Heranwachsende die erforderliche Kompetenz wirklich durch mehr Bildschirmzeit, oder verhält es sich gerade umgekehrt? Und mit welchen Konsequenzen wird das tendenziell «resonanzarme» Bildschirmverhältnis zur Welt zum «Monokanal» zukünftiger Welterfahrung, wie man mit dem Soziologen Hartmut Rosa fragen kann?

Die Versprechungen, die der Begriff der ‹Digitalisierung› transportiert, sind ambivalent. Es ist unentschieden, ob es hier wirklich um mehr Wissen, mehr Transparenz, mehr Freiheit und Demokratie geht. Müssten nicht jene Prognosen aufhorchen lassen, die zeigen, dass die in zukünftigen Hochgeschwindigkeitsnetzen transferierte Datenmenge zum größten Teil aus bewegten Bildern besteht, die digitalen Endgeräte sich also in erster Linie zu mobilen Fernsehgeräten entwickeln? Und wie ist damit umzugehen, dass die Bedeutungsexplosion von Social Media in den letzten Jahren eine neue öffentliche Kommunikationskultur geschaffen hat, zu deren wesentlichen Zügen rasche Empörung, aggressive Gereiztheit und Missgunst gehören? Die kollektive Ungeübtheit im Umgang mit den sozialen Medien, die aus jedem einzelnen User einen potentiellen medialen ‹Sender› in einer «redaktionellen Gesellschaft» (Bernhard Pörksen) machen, ist nicht zu übersehen, eine etablierte Umgangsform damit unabsehbar.

Der verbreitete Glaube an die Verheißungen der Digitalisierung steht in einem Missverhältnis zu den wenigen klugen Überlegungen dazu, wie der global unaufhaltsame Prozess human gestaltet werden könnte. Einen Beitrag dazu leistet das neue Buch des Münchener Philosophen Julian Nida-Rümelin und der Kulturwissenschaftlerin Nathalie Weidenfeld. In 20 kurzen Episoden arbeiten sie an einer «Alternative zur Silicon-Valley-Ideologie» und verknüpfen dabei Beobachtungen aus der Science-Fiction-Filmwelt des 20. und 21. Jahrhunderts (Weidenfeld) mit philosophisch-ethischer Reflexion (Nida-Rümelin). Das Buch Digitaler Humanismus: Eine Ethik für das Zeitalter der Künstlichen Intelligenz ist eine Kritik der digitalen Utopie und des Transhumanismus: «Als eine Art technologischer Milleniarismus pervertiert Silicon Valley die christliche Eschatologie und präsentiert die digitale Revolution als die Antwort auf alle unsere ökonomischen, sozialen und auch spirituellen Probleme», so die Autoren.

Im Kern der Problematik steckt dabei die Frage, wie mit dem ganzen technologischen Innovationskosmos der ‹künstlichen Intelligenz› (KI) umzugehen sei und welche Rolle diese in Zukunft spielen werde. Denn in allen digitalen Apparaten (PCs, Smartphones, Robotern) stecken KIs, selbst ‹denkende› Programme, die Rationalität simulieren. Wo aber nicht kategorial zwischen künstlicher und menschlicher Intelligenz unterschieden werde (diese Position wird «starke KI» genannt), offenbare sich eine antihumanistische Tendenz, die die Rolle des Menschen digital zu ersetzen sucht. So kann sich mit den KIs die Hoffnung verbinden, «dass eines Tages unsere gesamte Lebenswelt von technologisch-wissenschaftlicher Rationalität durchdrungen sein wird: jeder Bereich ausgeleuchtet, rational erfassbar und vorhersehbar.»

Gegen das utopische Streben der Techno-Propheten lässt der digitale Humanismus, für den Nida-Rümelin und Weidenfeld plädieren, Skepsis walten. Das ‹Internet der Dinge›, selbstfahrende Autos, Pflegeroboter, ‹Liquid Democracy› – digitale Technologien werden zwangsläufig die Zukunft bestimmen. Dabei die Frage nach einem digitalen Humanismus zu stellen heißt nicht, den technologischen Wandel zu verweigern, sondern ihn kritisch zu begleiten und auf seine Gestaltungsmöglichkeiten hin zu beleuchten. Die Digitalisierung wird so ihrer religiösen Aura entledigt, um sie pragmatisch und instrumentell auf ihren humanen Nutzen hin zu befragen. 

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Julian Nida-Rümelin – Nathalie Weidenfeld

Digitaler HumanismusEine Ethik für das Zeitalter der Künstlichen Intelligenz

Piper: München 2018, 220 S., € 24,-