Das katholische Gebet- und Gesangbuch «Gotteslob» zählt zu den Erfolgsgeschichten der gottesdienstlichen Erneuerung infolge des Zweiten Vatikanischen Konzils. Als «Rollenbuch» der Gemeinde (vgl. Sacrosanctum Concilium Art. 33) ist die Akzeptanz der 2013 erschienen Neuauflage ähnlich hoch wie die des Vorgängermodells von 1975. Die Erstauflage von 3,6 Millionen Exemplaren legt – abgesehen von der Bibel – nahe, vom letzten «kirchlichen Massenmedium» zu sprechen, dessen Bedeutung über den kirchlichen Gebrauch hinausgeht. Die darin dokumentierte Überlieferung reicht von den Psalmen bis in unsere Zeit über drei Jahrtausende und spiegelt die historische Entwicklung von Sprache, Literatur und Musik eines gesamten Kulturraumes wider, der sich im Fall des Gotteslobes von Münster bis Bozen, von Lüttich bis Görlitz und von Freiburg im Breisgau bis nach Wien erstreckt. Texte herausragender Dichter (Johannes Tauler, Martin Luther, Friedrich Spee, Paul Gerhard, Matthias Claudius) sind darin ebenso enthalten wie Formen schlichter Volksfrömmigkeit. Die anonym tradierte Gregorianik steht Seite an Seite mit Melodien namhafter Komponisten (Johann Sebastian Bach, Georg Friedrich Händel, Michael Haydn, Franz Schubert). Klassische Volkslieder fehlen genauso wenig wie populärmusikalische Werke, die meist unter dem Label «neue geistliche Lieder» fungieren. Hermann Kurzke bezeichnet das neue Gotteslob als «Haus- und Lebensbuch für das Katholischsein», weil es neben den Liedern nicht nur zentrale Bekenntnistexte der kirchlichen Lehre und liturgische Ordnungen enthält, sondern auch für den Gebrauch in Beziehung, Familie und Alltag konzipiert ist.
Am Gesangbuch lässt sich die kulturelle Prägung unterschiedlicher Epochen ablesen, nicht zuletzt die Gestalt jenes Zeitalters, in der es erschienen ist. Das Zusammentreffen von Geschichte, Liturgie und Kultur macht Kirchenlieder zu einem umfassenden Forschungsobjekt für Theologie, Germanistik, Musikwissenschaften oder Soziologie. Während evangelische Kirchenlieder schon lange hymnologisch erforscht werden, blieb das katholische Kirchenliedgut wissenschaftlich vielfach unbeachtet. Das Gesangbucharchiv der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (www.gesangbucharchiv.de) bemüht sich seit den frühen 1990er Jahren, diese Lücke schrittweise zu schließen. Den vorläufigen Höhepunkt seiner Arbeit bildet das 1314 Seiten umfassende Kommentarwerk Die Lieder des Gotteslob. Geschichte – Liturgie – Kultur, das alle 293 Lieder des aktuellen Gotteslob-Stammteils und 20 ausgewählte Lieder des Kölner Eigenteils umfassend erschließt und kommentiert. Dass die Wahl zusätzlicher Lieder ausgerechnet auf Köln fiel, ist nicht nur auf die überregionale Bedeutung des Erzbistums zurückzuführen, vielmehr hat es das Werk finanziell maßgeblich unterstützt. Als Herausgeber fungieren der renommierte Mainzer Germanist Hermann Kurzke, die langjährige Mitarbeiterin am Gesangbucharchiv Christiane Schäfer und Ansgar Franz, der als Liturgiewissenschaftler das Archiv leitet und zu den führenden Hymnologen im deutschsprachigen Raum zählt. Die Liedkommentare erstrecken sich durchschnittlich über vier Seiten, sind wissenschaftlich fundiert, richten sich aber dennoch an eine breite Leserschaft. Layout und Aufmachung des Buches sind eng an das Gotteslob angelehnt, da jeder Artikel die Liedfassung so wiedergibt, wie sie im katholischen Gesangbuch abgedruckt ist. Sinnvollerweise sind die Kommentare alphabetisch gereiht und folgen nicht der Liednummerierung im Gotteslob, was das Auffinden einzelner Lieder erleichtert.
Inhaltlich informieren die Artikel über Entstehung, Form und Gehalt sowie über die Melodie der jeweiligen Kirchenlieder. Die gewählte Methode ist im Unterschied zu anderen liederkundlichen Kommentaren innovativ, da sie die Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte in den Vordergrund stellt und damit Unerwartetes zu Tage fördert. Oft genug griffen Gesangbuchredakteure in unliebsame Strophen ein, tauschten eingesungene Ursprungstexte aus oder veränderten im Volk beliebte Melodien. Die hohe Qualität des Buches lässt sich an den Kommentaren zu den Marienliedern ablesen, die aufgrund ihrer «unscharfen» Theologie besonders häufig von Anpassungen betroffen waren. «Maria, dich lieben ist allzeit mein Sinn» (GL 521), so erfährt der interessierte Leser, ist eine Kontrafaktur zum bis in die 1960er Jahre im deutschsprachigen Raum weit verbreiteten «Maria zu lieben, ist allzeit mein Sinn». In der alten Fassung durfte die Gottesmutter noch wie eine Geliebte angeschwärmt werden: «Mein Herz, o Maria, brennt ewig zu dir», die Strophen strotzen ferner vor mystischen Liebesbekenntnissen («So oft mein Herz klopfet, befehl ich es dir»). Eine solche explizit erotisch-schwärmerische Marienfrömmigkeit hielt den theologischen Anforderungen nach dem Konzil nicht mehr stand, sodass es Anfang der 1970er Jahren zur heutigen Neufassung durch Friedrich Dörr kam, die auf Liebesschwüre verzichtet, damit aber auch an emotionaler Tiefe einbüßt.
Aber auch über vermeintlich bekannte Lieder wie «Zu Betlehem geboren» (GL 239) lässt sich Unerwartetes in Erfahrung bringen: Der Weihnachtsklassiker besingt weder Krippenidylle noch weihnachtliche Rührseligkeit, vielmehr geht es um innige Liebe und tapfere Nachfolge, die bis in den Tod führt. «Hertzopffer» lautetet der ursprüngliche Titel des Liedes, das dem Jesuitendichter Friedrich Spee zugeschrieben wird, der dem «Kindelein» sein Herz ganz und gar opferte, indem er sich bei der Pflege von pestkranken Soldaten ansteckte und am 7. August 1635 in Trier im Alter von 44 Jahren starb. Im Unterschied zur ersten Auflage des Gotteslobes druckt die Neuauflage auch die finale 6. Strophe ab, auf die das ganze Lied im Sinn eines geistlichen Verlöbnisses hinausläuft. Eindringlich fleht das Ich den göttlichen Geliebten an: «Lass mich von dir nicht scheiden, knüpf zu, knüpf zu das Band», um dann zu schließen: «Die Lieb zwischen beiden nimm hin mein Herz zum Pfand.» Der Geliebte bekommt als Bürgschaft ein Pfand im irdischen Leben übertragen, das beim himmlischen Hochzeitsmahl eingelöst wird.
Jede Zeit braucht ihr eigenes geistliches Lied, ein Gesangbuch darf nicht zum bloßen Museum verkommen. Waren deutsche Kirchenlieder lange ein begehrtes Exportgut, dokumentiert das neue Gotteslob die Internationalisierung der Kirchenmusik, die den Bestand des Gesangbuches um englische («Du lässt den Tag, o Gott, nun enden» GL 96) französische («Atme in uns, Heiliger Geist» GL 346), italienische («Herr, du bist mein Leben» GL 456), spanische («Bewahre uns, Gott» GL 453) oder niederländische («Herr, unser Herr, wie bist du zugegen» GL 414) Titel erweitert. Als besonders gelungenes Beispiel für spirituelle Inkulturation lässt sich das aus Schweden stammende Lied «Stimme, die Stein zerbricht» (Gl 417) von Anders Frostenson bezeichnen, das der evangelische Pfarrer Jürgen Henkys ins Deutsche übertrug: «Var inte rädd jag är här – Habe keine Angst, ich bin da.» Das Lied verknüpft die Offenbarung des Gottesnamens im brennenden Dornbusch «Ich bin der Ich bin da» (Ex 3,14) mit der Perikope vom Gang Jesu auf dem Wasser: «Habt Vertrauen, ich bin es; fürchtet euch nicht!» (Mk 6,45–52). Die beiden biblischen Texte werden in die Vertrautheit menschlicher Urerfahrung zurückübersetzt: «Jemand der leise spricht: Hab keine Angst, ich bin da.» Wie sorgfältig die Liedkommentare ausgearbeitet wurden, belegen u.a. die fremdsprachigen Titel, die jeweils in der Originalsprache abgedruckt und mit Hilfe einer Arbeitsübersetzung erläutert werden. «Stimme, die Stein zerbricht» zeigt exemplarisch, was für das gesamte Gotteslob gilt: Die Ökumene des Gesangs ist weiter fortgeschritten als viele andere Debatten im ökumenischen Dialog, vor allem aber wird sie von allen Seiten als Bereicherung erfahren.
Auch die musikalischen Aspekte werden in den Liedartikeln berücksichtigt, wenngleich sie nicht immer im Vordergrund stehen. Wird auf Melodieanalysen verzichtet, verweisen kurze Literaturangaben am Ende jedes Artikels auf ergänzende Untersuchungen. Wenn das Verhältnis von Ton und Wort von Belang ist, verzichten die Beiträge aber nie auf die Erläuterung musikalischer Aspekte, wie etwa am katholischen Klassiker «Ein Haus von Glorie schauet» (GL 479) vorexerziert wird. Viele der hier aufgelisteten Parameter tragen zum Lesegenuss dieses monumentalen Werkes bei. Die durchgängige Qualität aller 313 Artikel, die immerhin von 22 unterschiedlichen Autorinnen und Autoren stammen, lässt auf eine gewissenhafte redaktionelle Bearbeitung schließen. Die untergliedernden Zwischentitel verleihen dem Buch darüber hinaus ein frisches Erscheinungsbild, ohne dass die wissenschaftliche Seriosität oder die kritische Auseinandersetzung mit den Liedern darunter leidet. Liest man die einzelnen Liedartikel quer, lässt sich eine durchgängigen «Liturgietheologie in nuce» erkennen, die den Gottesdienst der Kirche im Licht der Tagzeiten, des Kirchenjahrs und der Sakramente im Modus des Gesangs erschließt. Das vorliegende Kommentarwerk ist ein großer Wurf, der nicht nur für akademisch Interessierte aus Theologie, Germanistik, Musik und Kulturwissenschaft ein unverzichtbares Standardwerk darstellt. Es gehört in alle Pfarrhäuser, Sakristeien und Bibliotheken all jener, die direkt oder indirekt mit dem Gottesdienst zu tun haben.