Das Altern scheint kein Thema für die gegenwärtige Philosophie zu sein. Das erstaunt, gibt es in der klassischen philosophischen Tradition doch zahlreiche, bis heute lesenswerte Abhandlungen über das Altern. Außerdem gehört das Altern zu den Grundphänomenen des Menschseins. Daher ist es erfreulich, dass Otfried Höffe sich in seinem jüngsten Buch der «hohen Kunst des Alterns» zugewandt und eine auf das Altern bezogene «Kleine Philosophie des guten Lebens» vorgelegt hat.
Das Buch liest sich wie ein philosophisches Kompendium zum Altern. Höffe verbindet elegant grundsätzliche Überlegungen über das Menschsein und die Pflichten, die Verantwortung und die Interessen des Menschen mit lebenspraktischen Fragen oder auch Ratschlägen wie jenem, man solle mit Menschen, die einem nahestehen, darüber sprechen, «wie man sich ein gutes Sterben» vorstelle, oder eine Patientenverfügung erstellen (151). Intensiv bezieht er neben klassischen philosophischen oder literarischen Texten auch die eigene Lebenserfahrung und die Erkenntnisse der Medizin und der Human- und Sozialwissenschaften mit ein.
Nach einer ersten Annäherung an das Thema setzt sich Höffe kritisch mit den verbreiteten negativen Stereotypen über das Altern auseinander. Das Alter, so hält er fest, sei keine Krankheit. Man sterbe nicht am Altern, sondern an anderen Krankheiten. Dabei geht es ihm nicht darum, naiv das Altern zu verherrlichen und seine Schattenseiten zu leugnen. Sein Anliegen besteht darin, ein Plädoyer für ein realistisches Verständnis des Alterns zu entwickeln, das zweipolig angelegt ist und auf eine, so Höffe, «allgemeinmenschliche Lebenserfahrung» zurückgehe: «Die Menschen wollen zwar lange leben, aber nicht wirklich alt werden» (34). Diese Spannung bestimmt Höffes weitere Argumentation. Leitend ist in seinen Überlegungen zum einen die Bedeutung des authentischen, von Freiheit gekennzeichneten Ich-selbst-seins und zum anderen die Menschenwürde, die auch der sehr alte oder sterben Mensch habe.
Höffe weist eindringlich auf die – oft übersehenen – Potentiale hin, die in der gestiegenen Lebenserfahrung liegen. Er fordert angesichts dieser neuen Möglichkeiten für den Menschen Änderungen in der Berufs- und Arbeitswelt, im Bereich der Bildung und in der «Welt der Lebensräume», stellt die starren Grenzen zwischen dem Erwerbsleben und der Verrentung in Frage und fordert, «die drei Dimensionen Lernen, Arbeiten und Muße innerhalb aller Phasen des Erwachsenseins in ein lebenswertes Gleichgewicht zu bringen» (68). Doch ist es, wie er auch betont, nicht leicht, würdevoll zu altern. Altern, so Höffe, wolle gelernt sein. Daher stellt er vier Ratschläge der Lebensklugheit vor, mit deren Hilfe ein gutes und glückliches Altern möglich sei: Man solle, um gut zu altern, sich an den vier «Ls» orientieren: laufen, lernen, lieben und lachen, also sich bewegen und sich körperlich fit halten, sich bilden, Beziehungen zu anderen Menschen wie auch Hobbys und Ehrenämter pflegen und auch den positiven Gefühlen Raum zugestehen (vgl. 95ff).
An die Seite dieser individualethischen Pflichten gegen sich selbst stellt Höffe eine Reihe von sozialethischen Geboten (100ff), und zwar zunächst die «gerontologische Pflicht [...], das Alter zu ehren». Diesem Grundgebot folgt die Gebote, «die physischen, emotionalen und kognitiven Schwächen der Älteren» nicht auszunutzen, das Gebot, die Vorteile des Generationentausches auf eine Basis zu stellen, die über die Generationen hinausreicht, und das Gebot, die Hilfe, die man am Beginn des eigenen Lebens erfahren hat, den Älteren gegenüber zu leisten. Im Vordergrund des fünften Gebots steht das, was Höffe die «goldene Regel einer Sozialethik des Alterns» nennt: «Was du als Kind nicht willst, das man dir tu, das füg‘ auch keinem Älteren zu!» Dem schließt sich ein Gebot an, die Gesellschaft nicht nur «möglichst altengerecht» zu gestalten, sondern so, dass auch die Interessen der jüngeren Menschen Generationen bewahrt bleiben. Gerade heute und angesichts weiterer technischer Entwicklungen ist das siebente Gebot von besonderer Bedeutung: «Anonyme Geräte dürfen nicht die persönliche Zuwendung ersetzen.»
Auch der Auseinandersetzung mit dem Tod weicht Höffe nicht aus. Zwei Kapitel stehen unter dem Titel «Wenn es zum Sterben kommt». Im ersten steht die Planung des Lebensendes im Vordergrund. Otfried Höffe entwickelt in Auseinandersetzung mit der Geschichte der Philosophie insgesamt sieben Strategien im Umgang mit der eigenen Sterblichkeit – von der Aufgabe eines rechtschaffenen Lebens über die Empfehlung, immer für den Tod bereit zu sein, und die Aufgabe, sich selbst nicht zu ernst zu nehmen, bis hin zur Bemühung um einen guten und möglichst schmerzfreien Tod. Das daran anschließ>ende Kapitel steht unter dem Titel «Um eine Kultur des Abschiednehmens bitten». Eine solche Kultur des Abschiednehmens hat für Höffe vier Dimensionen: eine «Haltung des Innehaltens», ein «Kultur der Sprache, die eigene, sehr persönliche Worte sucht, verbunden mit einer Kultur des Gesprächs ohne unbeholfene Floskeln», die «Wertschätzung für symbolische Handlungen» und ein «Recht auf Differenz», d. h. auf einen persönlichen Umgang mit dem Tod. Die zehn Thesen zum Alterssuizid, die Höffe formuliert, gehören wie auch seine Überlegungen zu den Geboten und den Strategien des guten Alterns in ihrer Kürze und Ausgewogenheit zum Besten, was man derzeit zu diesem Thema lesen kann. Höffe zeigt die Konturen einer Ethik des Lebens und der menschlichen Würde, die sich auch im Tod bewähren kann. Auch der alte und sterben Mensch kann, so zeigt er, ein authentisches Leben führen (vgl. 94).
In diesem Kapitel wirft Höffe auch einen kurzen «Blick auf die Religionen». Dabei geht er kurz auf das Judentum, den sunnitischen und schiitischen Islam, den Buddhismus und das Christentum ein. Jedoch beschränkt er sich hier auf die verschiedenen Brauchtümer. Interessant wäre ohne Zweifel gewesen, noch mehr darüber zu erfahren, wie die unterschiedlichen religiösen Traditionen auch mit unterschiedlichen Bildern des Alterns verbunden sind oder welche Auswirkungen die Säkularisierung auch auf das Altern hat.
Höffes Buch ist an der Zeit. In einer alternden Gesellschaft ist es mehr als je zuvor notwendig, auch prinzipiell über das Altern nachzudenken – und auch über die individuellen wie gesellschaftlichen Pflichten wie auch über Bedingungen und Möglichkeiten gelungenen Alterns. Vor allem aber ist es notwendig, sich wie Höffe kritisch mit Stereotypen auseinanderzusetzen, die oft die gesellschaftliche und politische Diskussion des Alterns bestimmen. Gelungen ist Höffe dabei nicht nur eine «kleine Philosophie des guten Lebens», sondern auch eine «kleine Anthropologie» und eine «kleine Sozialethik». Ein lesenswertes und gut lesbares Buch – nicht nur für ältere, sondern auch für jüngere Menschen.