In den neutestamentlichen Briefen gibt es das schöne Wort «Paraklese». Es changiert zwischen Ermahnung und Ermunterung; es kann ein werbendes Gebot wie eine dringliche Bitte bezeichnen, eine nachdrückliche Aufforderung wie eine freundliche Einladung. Der Ton der neutestamentlichen Paraklesen ist weder schrill noch säuselnd; er ist eher freundlich als streng; er klingt ein wenig besorgt, soll aber Zuversicht verbreiten. Die Paraklese spießt nicht ein ganz bestimmtes Problem auf, sondern stellt Zusammenhänge her, schafft Orientierung und ruft nach einer Konkretisierung, die vor Ort geleistet werden muss.
Als eine solche Paraklese ist der Brief gattungsgeschichtlich einzuordnen, den Papst Franziskus 2019 «an das pilgernde Volk Gottes in Deutschland» geschrieben hat, datiert auf Peter und Paul, also mit hohem Symbolwert.1 Der Papst macht seine Autorität geltend, stellt aber kein einziges Verbot auf, sondern formuliert, was bei der Planung berücksichtigt werden muss: Als Pontifex, als Brückenbauer, ist ihm die Einheit der Kirche ein Anliegen, als Pastor, als Hirte, die Zielgerichtetheit des Weges, als Pater, als Vater, die geistliche Qualität des Prozesses.
Das Echo, das der Brief auslöst, ist stark und widersprüchlich. Aufgrund seines parakletischen Duktus wird er in der angespannten Lage der katholischen Kirche zum Magneten, der die unterschiedlichen Interessen in der aktuellen Reformdebatte der Kirche auf sich zieht. Den Ton haben der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Reinhard Marx, und der Präsident des ZdK, Thomas Sternberg, vorgegeben: Ermutigung ist die Losung.2 Die weitaus meisten Bischöfe in Deutschland haben sich dieser Lesart angeschlossen. Allerdings fehlte es nicht an Hinweisen darauf, dass manche Warnung ausgesprochen wurde und dass der Weg selbst noch einmal überdacht werden müsse.
Die päpstliche Paraklese hat den «Synodalen Weg» bestätigt. Sie gibt aber auch Hinweise, denen zu folgen, die Chancen des Prozesses deutlich erhöhen lässt, sowohl innerhalb Deutschlands als auch in der Weltkirche. Der Brief ist nicht nur an die Bischöfe, sondern an alle Kirchenmitglieder adressiert. Das ist programmatisch. Die Reform ist eine an Haupt und Gliedern, wie es altertümlich heißt. Sie geht die ganze Kirche an.
Die Aufmerksamkeit für den «Synodalen Weg»
Allein die Tatsache, dass Papst Franziskus den Brief geschrieben hat, ist bemerkenswert. Sie spiegelt die große Aufmerksamkeit, die in Rom der «Synodale Weg» findet, auf den sich die Deutsche Bischofskonferenz und das Zentralkomitee deutscher Katholiken verständigt haben, obgleich längst nicht schon alle Wegmarken gesetzt sind. Es ist in der Weltkirche unüblich, dass es nicht nur eine Bischofskonferenz gibt, die sprach- und handlungsfähig ist, sondern auch eine Laienvertretung, die ein politisches Mandat wahrnimmt, aber auch innerkirchliche Angelegenheiten verhandelt. Im Zentralkomitee kommen die Laien, also die Mitglieder des Volkes Gottes, zusammen, genauer: die gewählten Delegierten aus Diözesen, Vereinen und Verbänden, verstärkt durch Einzelpersönlichkeiten aus Politik, Gesellschaft, Kultur und Wissenschaft, die von der Vollversammlung gewählt werden. In der Partnerschaft zwischen der Bischofskonferenz und dem Zentralkomitee kann beispielhaft gezeigt werden, wie das episkopale Prinzip der katholischen Kirche mit dem synodalen zusammenpasst, das die Internationale Theologische Kommission des Vatikan gerade beschrieben hat.3 Das Zentralkomitee hat seinerseits die Synodalität als «Strukturprinzip kirchlichen Handelns» gekennzeichnet.4
Überall, wo Synoden in der katholischen Kirche zusammentreten, mögen sie auch Diözesanforen oder anders heißen, stellen sich drei Grundfragen: die der Zusammensetzung, die der Kompetenz und die der Verbindlichkeit. Erstens: Welche Rolle spielen Bischöfe, Priester und Diakone auf der einen, Laien auf der anderen Seite? Welche Rolle spielen die Orden? Zweitens: Über welche Themen kann eine Synode in der katholischen Kirche legal und legitim sprechen? Welche Kompetenz liegt bei einer Diözesan-, welche bei einer nationalen, welche bei einer Weltsynode? Drittens: Was kann sie beschließen? Welchen Rang haben die Beschlüsse? Im welchem Verhältnis stehen sie zum Kirchenrecht und zur Gesetzgebungsvollmacht eines Bischofs in seiner Diözese und des Papstes?
Der Brief des Papstes nimmt zu keiner dieser Fragen direkt Stellung. Das bewahrt ihn davor, als dirigistischer Eingriff in einen laufenden Abstimmungsprozess beurteilt zu werden. Der «Synodale Weg» braucht aber Antworten, damit sowohl die Zusammensetzung der Gremien als auch die Wahl der Themen und der Status der Beschlüsse von Anfang an klar sind. Nur so lassen sich Enttäuschungen vermeiden, Kräfte bündeln und Wirkungen erzielen. Schon der merkwürdige Begriff «Synodaler Weg» signalisiert die Schwierigkeiten innerhalb der Deutschen Bischofskonferenz, eine gemeinsame Linie zu finden. Der Brief aus Rom beseitigt die Schwierigkeiten nicht, zeigt aber auch keine Aporie auf, sondern lässt eher nach Leitlinien suchen, den Weg zu bahnen.
Die Anerkennung für den «Synodalen Weg»
Der Brief beginnt mit einer captatio benevolentiae, die kurz zusammenfasst, was allgemein als Stärke des deutschen Katholizismus gilt: neben dem eng geflochtenen «Netzwerk» der Gemeinden besonders das caritative Engagement in weltkirchlichem Maßstab, wie es durch die großen Hilfswerke organisiert wird, aber auch durch zahlreiche Bistums- und Gemeindepartnerschaften verifiziert wird (Nr. 1). Dass auch das Engagement beim Reformationsgedächtnis 2017 positiv hervorgehoben wird, ist ein besonderes Zeichen der Aufmerksamkeit.
Der Brief setzt mit einer kritischen Lagebeschreibung fort, die durch «Erosion und Verfall des Glaubens» charakterisiert sei (Nr. 2). Der Paragraph bezieht sich nicht speziell auf Deutschland. Aber die Studie des Freiburger Forschungszentrums Generationenverträge (FZG), die im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz und der Evangelischen Kirche in Deutschland unter der Leitung von Albert Raffelhüschen erstellt worden ist, bestätigt für Deutschland einen starken Rückgang der Mitgliederzahlen, der sich nicht nur aus demographischen Faktoren, sondern auch aus mangelnder Kirchenbindung erklärt.5 Der Religionsmonitor liefert Daten, die den Trend bestätigen.6
Papst Franziskus ordnet den «Synodalen Weg» genau in der Spannung ein, die durch die Organisationskraft der katholischen Kirche in Deutschland einerseits, die Schwierigkeit der Weitergabe und Vermittlung des Glaubens andererseits aufgebaut wird (Nr. 3), und trifft damit das Anliegen sowohl der Bischofskonferenz als auch des ZdK. Franziskus selbst gibt aus seiner eigenen Erfahrung, die er mit der italienischen Bischofskonferenz gesammelt hat, zwei entscheidende Hinweise, die den synodalen Prozess bestimmen sollen: Auf der einen Seite müsse die Synodalität zuerst «von unten», also von der Basis her entwickelt, dann erst «von oben», aus der Verantwortung der Bischöfe, gestaltet werden; auf der anderen Seite müsse die Synodalität einem «gesunden aggiornamento» der Kirche dienen (Nr. 3).
Nachdem diese Vorzeichen gesetzt sind, werden «Versuchungen» benannt, die es zu vermeiden gelte: das «Festhalten an vorgefassten Schemata und Mechanismen» (Nr. 4), der Rückzug in «Resignation» (Nr. ٥), die Fixierung auf «Strukturen, Organisationen und Verwaltung» (Nr. 5) oder die bloße Reaktion auf Entwicklungen (Nr. 6). Entscheidend sei ein positiver Ansatz: die Konzentration auf die «Evangelisierung» (Nr. 7), die Solidarität mit den Armen (Nr. 8) und die Herausbildung eines sensus ecclesiae, der sich sowohl in der Intensivierung der Glaubensgemeinschaft mit der Weltkirche erweise, die einen großen Reichtum an Formen gelebter Heiligkeit zeige (Nr. 9), als auch in der Vermeidung eines Rückzugs auf eine «erlauchte Gruppe», die sich der unscheinbaren Heiligkeit im Alltag versage (Nr. 10).
Der Schluss des Schreibens hebt die Haltungen hervor, die auf dem Weg der Synode eingeübt werden sollten: das Streben nach Konsens (Nr. 11), das Wachsamkeit und Umkehr voraussetze, Demut und Hoffnung (N. 12).
Der Brief endet mit einer Bitte um das Gebet der Gläubigen für den Papst, der ihnen schreibt (Nr. 13) – ein schönes Zeichen der wechselseitigen Verbundenheit, die für Franziskus von der ersten Ansprache als neugewählter Bischof von Rom an wesentlich gewesen ist.
Die Impulse für den «Synodalen Weg»
So ermahnend und ermunternd die Worte von Papst Franziskus sind, dreierlei irritiert.
Erstens: Vom Missbrauchsskandal ist im gesamten Brief nicht die Rede, obgleich er die katholische Kirche in den Grundfesten erschüttert, auf der ganzen Welt. In Deutschland bildet er nicht nur einen Anlass, sondern auch einen Grund für den «Synodalen Weg». Sicher ist er nicht der einzige; mehr noch: Es wäre fatal, den Reformprozess nur als Reaktion auf den Missbrauch geistlicher Macht in der katholischen Kirche zu betrachten und nicht auch die vielen Impulse aus der Schrift und der Tradition aufzugreifen, die geeignet sind, den Reformstau aufzulösen. Die Frage, was die Kirche selbst durch ihre Verkündigung, ihre Macht und ihre Strukturen zur Verschärfung der Glaubenskrise beigetragen hat, wird im Brief des Papstes nicht gestellt. Ebenso wenig wird deutlich, was die Kirche im Dialog mit der Welt von heute lernen kann.
Zweitens: Die Frage nach der Gleichberechtigung von Frauen wird gleichfalls nicht berührt, obwohl sie zu den bewegenden Fragen der katholischen Kirche gehört, nicht nur in Deutschland. Wenn es richtig ist, dass nach der Arbeit einer internationalen Studiengruppe die Frage der Weihe von Frauen als Diakoninnen nach wie vor nicht entscheidungsreif sei7, stellt sich desto dringlicher die Frage der Zulassungsbedingungen und der Neuordnung kirchlicher Dienste und Ämter – nicht nur, aber auch für Frauen.
Drittens: Die Frage der Verbindlichkeit von Beschlüssen bleibt im Brief offen. Er ist ohnedies sehr zurückhaltend, was Strukturen, Prozesse und Organisationen anbelangt, obgleich eine Reform auch die Bestimmung und Veränderung von Strukturen, Prozessen und Organisationen verlangt, damit verlässliche Partnerschaften entstehen können. Diese Zurückhaltung braucht kein Mangel zu sein, weil es für den «Synodalen Weg» in Deutschland noch keine Statuten gab. Aber sie darf nicht zu Illusionen führen, was nach den rechtlichen Bestimmungen der katholischen Kirche auf dem «Synodalen Weg» tatsächlich beschlossen und was allenfalls empfohlen oder gefordert werden kann. Die Hausaufgaben werden derzeit in Deutschland gemacht; einen nationalen Sonderweg will niemand. Aber mehr Vielfalt in der katholischen Kirche ist an der Zeit. Die Amazonas-Synode wird ein Indikator sein, was geht.8
Ungeachtet dieser Kritik gibt der Brief mindestens drei konstruktive Hinweise, den «Synodalen Weg» so zu planen, dass die katholische Kirche die Chance nutzt, die in der Bereitschaft gar nicht so weniger Betroffener und Engagierter liegt, sich zu beteiligen.
Erstens mahnt der Papst, den synodalen als einen geistlichen Prozess zu gestalten. Das überzeugt, weil nur Umkehr zur Erneuerung führt und die Verkündigung des Evangeliums voraussetzt, zuerst auf das Wort Gottes zu hören. Bislang ist die geistliche Dimension im «Synodalen Weg» unterbestimmt. Einen Weg, sie zu füllen, öffnet die Liturgie. Gebet und Schriftgespräche vor Sitzungen und Entscheidungen sind selbstverständlich. Aber die Feier öffentlicher Gottesdienste, auf Gemeinde-, auf Bistums- und auf nationaler Ebene würde einen Raum öffnen, in dem die Hoffnung auf eine Erneuerung der Kirche einen genuinen Ausdruck gewinnen könnte, mit starken Impulsen sowohl für den gesamten Reformprozess als auch für die Gesellschaft. Die Liturgien müssten als Feiern des ganzen Gottesvolkes gestaltet werden, selbstverständlich mit Klerikern, aber ohne Klerikalismus, mit starken weiblichen Stimmen, nicht nur beim Gesang.
Zweitens mahnt der Papst, eine Synode nicht «von oben», sondern «von unten» zu denken. Selbstverständlich braucht der «Synodale Weg» professionelle Planung; er nimmt auch die Bischofskonferenz und die Leitungsgremien des ZdK in die Pflicht. Aber sie wird nur dann erfüllt, wenn es neue Formen und Foren der Beteiligung gibt, analoge wie digitale. Soziologisch betrachtet, ist die katholische Kirche eine der wenigen Großorganisationen, die kampagnenfähig ist. Der «Synodale Weg» sollte die Probe aufs Exempel machen. Die Online-Befragung vor der Familiensynode 2014 war ein erster, bescheidener Versuch.
Drittens bedarf es einer guten Kommunikation zwischen den Protagonisten in Deutschland und der Weltkirche. In den Statuten des «Synodalen Weges» muss sichergestellt werden, dass unter den zahlreichen Stimmen der Weltkirche auch die aus Deutschland zu Gehör kommt, dass aber auch die Erfahrungen, die in anderen Ländern und Kontinenten gesammelt worden sind, in die deutschen Beratungen einfließen. Es bedarf einer öffentlichen Klärung, welchen Verbindlichkeitsgrad Beschlüsse haben und wie dort, wo unstreitig die ganze Kirche gefragt ist, die Kompetenzen einer Peripherie wie der in Deutschland mit dem Ganzen der Kirche vermittelt werden können.
Der «Synodale Weg» nimmt einen Verlauf, der für Deutschland typisch und notwendig ist. Der Brief des Papstes ist eine Hilfe, seinen Verlauf, seine Dynamik, seine Voraussetzungen und Wirkungen differenziert einzuschätzen und theologisch wie politisch zu stärken. Viele Augen in Rom und der Weltkirche sind auf Deutschland gerichtet, teils besorgt, teils hoffnungsvoll. Dass umgekehrt der Blick für die ganze Kirche geöffnet wird, ist die wichtigste Botschaft des Papstbriefes.