Ein gelber Sessel, ein Lampenschirm im Vintage-Stil, eine Flasche ‹Charitea›: Das ist der Rahmen für die Clips 90 Sekunden Hardfacts des Gebetshauses Augsburg. In den Videos spricht dessen Gründer und Leiter, Johannes Hartl, jeweils eineinhalb Minuten über Beziehungen, Populismus, Religion und vielfach über Sexualität. Die Titel reichen von «Ist Serienschauen okay?» über «Gibt es im Himmel Sex?» bis hin zu «Haben Christen und Muslime den gleichen Gott?» Das Format scheint sich irgendwo zwischen christlichem Onlineratgeber und poppigem Katechismus einordnen zu lassen – und es erreicht deutlich mehr Menschen als die meisten medial aufbereiteten Formen der ‹Glaubensvermittlung› großer kirchlicher Institutionen. Was ist das Ansprechende an der Form des Gebetshauses Augsburg, sich mit dem christlichen Glauben zu beschäftigen? Welche Vorstellungen darüber, wie sich Glauben lehren oder lernen lässt, kommen hier zum Tragen? Und welche inhaltlichen Kernanliegen stehen dabei im Hintergrund?
Die 90 Sekunden Hardfacts bilden nur einen kleinen Ausschnitt der Glaubensvermittlung im Gebetshaus Augsburg. Das in seinem Umfeld prägendste Format ist der Donnerstag Abend, ein regelmäßiger, per Livestream geteilter Gebetsabend mit etwa einstündigem Impuls. Hinzu kommen die Vorträge auf der fast jährlich veranstalteten Mehr-Konferenz vor tausenden Zuhörern. Da sich das Gebetshaus als diverse, überkonfessionelle Initiative nicht einfach auf bestimmte Konzepte oder gar eigene Bekenntnis- und Lehrtexte festlegen lässt, sind solche Vorträge ein guter Zugang, seine maßgeblichen Glaubens- und Lebensvorstellungen zu fassen. Insgesamt sind diese besonders von den theologischen Positionen Hartls bestimmt, der hier vielfach – in einem noch zu bestimmenden Sinne – als ‹Glaubenslehrer› auftritt.
Um das Selbstverständnis des Gebetshauses Augsburg nachzuvollziehen, ist es aber zunächst einmal hilfreich, seine Wurzeln zu kennen. Es entstand vor dem Hintergrund mehrerer konfessionsübergreifender, oftmals charismatisch oder auch evangelikal geprägter Bewegungen, in denen vor allem junge Menschen das andauernde Gebet, bei Tag und bei Nacht, in den Mittelpunkt stellen. Bekannt ist etwa die 1999 durch den anglikanischen Pfarrer Pete Greig in Südengland initiierte Bewegung 24/7-Prayer, die sich innerhalb weniger Jahre weltweit verbreitet hat. Zur gleichen Zeit entstand in Kansas City das International House of Prayer, wo seither unaufhörlich gebetet wird. Gründer ist der neocharismatische Prediger Mike Bickle. Nach diesem Vorbild baute Hartl ab 2005 in Augsburg das erste ‹Gebetshaus› Deutschlands auf. Seit einigen Jahren wird hier nun jeden Tag rund um die Uhr und ohne Unterbrechung gebetet. Weniger die oft thematisierte moderne Inszenierung bestimmt das Selbstverständnis der Bewegung, sondern zunächst einmal das Ziel des andauernden Gebets. Gleichzeitig spielt der künstlerische Ausdruck mit moderner Ästhetik und medialer Darstellung durchaus eine Rolle für die Veranstaltungen des Gebetshauses. Von großer Bedeutung ist besonders die an Pop, Rock und teilweise Electro orientierte Lobpreismusik, die oftmals selbst geschrieben und auch produziert wird – und hier eine prägende Gebetsform darstellt.
Johannes Hartl (geb. 1979) selbst ist katholischer Theologe, der in seiner Jugend stark in der charismatischen Erneuerung engagiert war. Dieser Einfluss hat zu der ungewöhnlichen Situation beigetragen, dass das Gebetshaus Augsburg gleichermaßen katholische und freikirchliche Christen anspricht – und diese gleichermaßen polarisiert. Die größte Veranstaltung des Gebetshauses, die medial vielbeachtete Mehr-Konferenz auf dem Augsburger Messegelände, wurde zuletzt von mehr als 10.000 Christen verschiedenster Denominationen besucht, davon gut die Hälfte Katholiken. Als Redner traten dabei neben dem Hauptprotagonisten Hartl u.a. der Leiter einer neocharismatischen Megachurch und ein katholischer Weihbischof auf. Solche Konstellationen sind Ausdruck einer neuen Form von – so die Selbstbeschreibung – ‹geistlicher Ökumene›, bei der Auseinandersetzungen um Lehrdifferenzen in den Hintergrund treten, während das Bewusstsein für die gemeinsame Gottesverehrung und Sendung wächst. Anderseits rufen sie vielfach kritische Folgefragen hervor: Sind drängende theologische Probleme hier unterbelichtet? Wird der Einfluss charismatischer und evangelikaler Bewegungen auf die katholische Kirche zu groß? Etabliert sich hier vielleicht eine neue Form überkonfessionellen christlichen Konservativismus’ oder gar Fundamentalismus’? Solche Überlegungen sind nicht zuletzt für die Frage wichtig, wie Glaubensvermittlung im Gebetshaus geschieht.
In einem ersten Schritt soll hier der inhaltliche Kern dessen bestimmt werden, was das Gebethaus Augsburg vermitteln möchte. Es geht um die immer wieder verbal und künstlerisch ausgedrückte Faszination angesichts der Schönheit Gottes – und um die Konsequenzen, die für Gebet, Glauben und Lebensgestaltung gezogen werden (1). Daran anschließend rückt stärker das Verhältnis des Gebetshauses zur gesellschaftlichen Pluralität in den Mittelpunkt, also eine Frage, bei der die Initiative vielfacher Kritik gegenübersteht und die zugleich eng mit dem genannten inhaltlichen Kern verknüpft ist (2). Schließlich gilt es, Perspektiven für Glaubensweitergabe und -zeugnis in einer säkularen und komplexen Kultur zu reflektieren – und dabei den möglichen Beitrag des Gebetshauses.
Auch die Frage nach dem zugrundeliegenden Theologieverständnis und seinen Auswirkungen auf die Glaubensvermittlung ist hier zu stellen (3). Den Ausgangspunkt dieser Auseinandersetzung bilden ‹O-Töne› des Gebetshauses Augsburg selbst, beispielhaft zwei Vorträge von Hartl in den eingangs skizzierten Formaten.
1. «Schönheit gelten lassen»
In einem Donnerstag Abend-Vortrag von 2013 unter dem Titel «Lebenskunst» geht es um Glaube und Schönheit.1 Dieser Themenkomplex zieht sich über Jahre durch die Arbeit des Gebetshauses, zuletzt wurde 2018 mit Künstlern aus verschiedensten Bereichen unter dem Titel Schøn eine Konferenz zu Kunst und Spiritualität veranstaltet. In dem genannten Vortrag entfaltet Hartl die Bedeutung des Gebets von der Kunst her. Das Ziel der Kunst bestehe nicht darin, einem bestimmten Zweck zu dienen oder ein Bedürfnis zu befriedigen, sondern vorrangig wolle der Künstler dem Schönen Raum verleihen. Ähnliches formuliert Hartl für das Gebet. Es sei letztlich zweckfrei, eröffne einen unverfügbar freien Raum, in dem das Geschöpf auf die Schönheit der Schöpfung antwortet. Im Gebet bringt der Beter das Wesen Gottes zur Sprache und das um Gottes selbst willen: «‹Ich nenne das, was schön ist, wirklich schön› – das nennt man Lobpreis. ‹Und ich danke dir für dieses Geschenk des Schönen› – das nennt man Dank.» Für das Streben der Gebetshausbewegung nach einem unaufhörlichen Gebet sind, neben der Fürbitte, vor allem solche Motive maßgeblich. Für sich genommen könnte das als theologische Selbstverständlichkeit gesehen werden, doch sind die Konsequenzen, die Hartl aus dem Begriff ‹Schönheit› ableitet, weitreichend.
Er beschreibt Schönheit nicht als ein illustrierendes Element, sondern als einen Anspruch, der sich an den Menschen stellt, der Hingabe von ihm fordert. «Wie können wir Menschen darauf reagieren? Was will diese Schönheit von mir? ... Schönheit will einfach erstmal, dass ich Schönheit gelten lasse ..., [sie] fordert ein ‹Ja›.» Die Hingabe des Betenden ist in diesem Sinne die angemessene Reaktion auf die Schönheit Gottes. «Gott ist der ultimativ Schöne und seine Heilsgeschichte, das was in der Schrift niedergeschrieben wurde, ist ein schönes Kunstwerk.» Von daher charakterisiert Hartl die Grundhaltung des Christen als widerspruchslosen Gehorsam gegenüber dieser Wirklichkeit Gottes. Schönheit selbst liege nicht im Auge des Betrachters, allein die Fähigkeit sie wahrzunehmen sei subjektiv. «Du bist ein Narr, wenn du das Schöne nicht schön nennst.» Es sei daher nicht die Aufgabe des Menschen, das biblische Zeugnis zu kritisieren, es dem heutigen Leser entsprechend historisch-kritisch zurechtzuschneiden. «Nein, diese Kritik fällt einfach nur auf dich zurück! Das sagt einfach nur, dass du dir entweder nicht die Zeit genommen hast oder dass deine Sinne nicht erzogen worden sind, diese Symphonie, diese Schönheit schön zu nennen.» Das Evangelium als ‹frohe› oder auch ‹schöne› Botschaft stelle sich nicht der Beurteilung des Betrachters, es habe seine eigene Evidenz. Es fordere ihn heraus, diese Botschaft entweder gelten zu lassen oder sie abzulehnen.
Lassen sich von einem solchen Vortrag her allgemeine Überlegungen zur Glaubensvermittlung in der Gegenwart entwickeln? Mit seiner persönlichen, teils lockeren, aber immer wieder auch energischen Art gelingt Hartl hier zweierlei: Zum einen macht er eine Gottesvorstellung zugänglich, die weder in theologischer Abstraktheit verbleibt, noch primär funktionalistisch bei vermeintlichen alltäglichen Defiziten ansetzt. Von ästhetischen Erfahrungen her wird eine transzendente Wirklichkeit beschrieben, aber ohne diese ästhetizistisch engzuführen. Das Gebet erscheint als Eintreten in diese Wirklichkeit, in der Gläubige neue Vorstellungen von Sinn entwickeln können, die sich zugleich auf ihre Lebensführung auswirken. Eingangs wurde schon angedeutet, dass Hartl Glaubensüberzeugungen ganz unmittelbar mit Fragen der Freizeitgestaltung, der Beziehungen oder auch der Sexualität verbindet. Er schlägt eine Brücke zwischen Doxologie und alltäglicher Praxis, Gotteslob und Lebensgestaltung. Die Schönheit Gottes weckt eine Faszination, die in alle Lebensbereiche ausstrahlen kann. Damit klingt bereits der zweite Bereich an, den Hartl stark macht: Entscheidung und Affirmation (Bejahung). Eine innere Distanz zwischen Glaube und Leben erscheint hier abwegig. Die Hinwendung zur Schönheit Gottes kann nicht in verschiedenen Bereichen als Belanglosigkeit gelten, sondern verlangt eine weitgehende persönliche Positionierung, die nicht nur einzelne religiöse Handlungen, sondern Nachfolge in einem umfassenderen Sinne einschließt.
Vor diesem Hintergrund ist es naheliegend, dass viele Christen im Gebetshaus Augsburg einen ansprechenden Raum finden, wenn es darum geht, Glauben zu erlernen und einzuüben. Der christliche Glaube wird als einer entfaltet, der Relevanz für alle Lebensbereiche hat, dessen Faszination sich nicht in nostalgischer Religiosität oder verkopften Spekulationen erschöpft. Der persönliche Charakter der Vorträge, die immer auch authentisches Glaubenszeugnis sein wollen, unterstreicht dies. Außerdem ist die von Hartl energisch vorgebrachte Notwendigkeit einer Entscheidung besonders in solchen Situationen nachvollziehbar, in denen Religion gerade keine gesellschaftliche Selbstverständlichkeit ist. Und es erscheint naheliegend, dass eine Hingabe an Gott nicht bloß mit kritischer Distanz ihrem Ziel gegenüber geschehen kann, sondern gerade als affirmative Bekräftigung ihren Sinn findet. Doch damit ist zugleich benannt, was Misstrauen gegenüber dem Gebetshaus weckt. Wenn Kritik hinter Hingabe zurücktritt, wächst zum einen die Gefahr des spirituellen Missbrauchs auf Grundlage eines unverrückbaren Geltungsanspruchs2, zum anderen droht die – vielfach unter dem Schlagwort ‹Fundamentalismus› beschriebene – Abschottung gegenüber einer pluralen, liberalen und eben kritischen Gesellschaft, die sich nicht einfach in die eigenen Vorstellungen einfügt. Dieser zuletzt genannten Problematik soll hier weiter nachgegangen werden.
2. «Die Verblendung der Welt»
Für Hartl fordert die Schönheit Gottes Bejahung und es sei daher nicht Aufgabe des Menschen, das Kunstwerk Heilige Schrift kritisch zu hinterfragen, bloß, weil viele behaupteten, es könne «heutigen Lesern nicht zugemutet werden». Diese vom evangelikalen Denken beeinflusste3 Aussage lässt bereits erahnen, dass eine bestimmte Bibelrezeption als objektive Wahrheit allen zeitgenössischen Infragestellungen und historischen Kontextualisierungen entzogen wird. Was geschieht nun, wenn gesellschaftliche Entwicklungen dieser Auslegung widersprechen? Oder grundsätzlicher: In welchem Verhältnis steht das Lehren und Lernen von Glauben im Gebetshaus zur gegenwärtigen Gesellschaft? Wie im charismatischen Spektrum oft üblich, verbindet das Gebetshaus Augsburg innovative Formen der Spiritualität mit weitgehend konservativen Werten. Das ist nicht bloß religiöser Traditionalismus mit moderner Fassade – das Verständnis dessen, was Glauben ausmacht und wie er gelebt wird, hat sich tatsächlich in seinem Kern unter den Bedingungen der Moderne weiterentwickelt. Dennoch (oder gerade deshalb): Viele konkrete Positionen Hartls zielen vor allem auf Abgrenzung gegenüber einem gegenwärtigen gesellschaftlichen ‹Mainstream›. Glaube und Nachfolge verbinden sich hier mit einer Oppositionshaltung, die aus eindeutigen moralischen Ansprüchen gespeist wird.
Auf der Mehr-Konferenz im Januar 2014 hielt Hartl einen Abendvortrag, in dem er ausgehend vom Propheten Maleachi über die heutige «Krise im Volk Gottes» sprach.4 Der Vortrag ist unter anderem deshalb aufschlussreich, weil er als scharfe, bewusst provozierende Mahnrede konzipiert wurde – und ohne ‹diplomatische› Zurückhaltung auskommt. Hartl selbst spricht von einem «prophetischen Ruf». Gott mahne im Buch Maleachi (Mal 2, 17), dass es «ein riesen Problem» gibt, «wenn man mein Volk einstimmt in die Verblendung der Welt.» Das Christentum in Europa habe angefangen, «das, was die Schrift ‹böse› nennt, ‹halb so schlimm› zu nennen und das, was die Schrift ‹gut› nennt, ‹halb so wichtig› zu nennen.» Hartl formuliert fünf Punkte als «Kampfgebiete der Wahrheit in der Zukunft», an denen sich Vieles entscheide: 1. Die Rolle von Mann und Frau, 2. Homosexualität, 3. Abtreibung, 4. die Leugnung der Hölle, 5. die Gleichsetzung der Religionen. Besonders auffällig ist, dass er die beiden ersten Punkte so hervorhebt. Er beobachte, wie junge Christen immer mehr «infiltriert sind mit dieser Propaganda», die eine Nutzung von Kinderkrippen als normal bezeichne. «Hier wird ein Kampf entstehen. Und wenn du für das stehst, was die Bibel sagt, dass Mann und Frau verschieden sind – wie die Rollen von Mann und Frau sind –, dann wird man dich einen Narren und Fundamentalisten schimpfen.» Die Aussagen zur Homosexualität sind sogar noch abgründiger: Christen müssten «diese Leute warnen, zurückholen und rausholen». Praktizierte Homosexualität einfach hinzunehmen, sei keine Hilfe für Homosexuelle. «Sie wissen, dass es nicht okay ist. Deshalb hassen sie so sehr denjenigen, der ihnen das sagt, – weil er sie überführt.» In anderen Vorträgen formuliert Hartl deutlich zurückhaltender, aber die Position zielt in dieselbe Richtung. Auch andere Redner, die das Gebetshaus einlädt, treffen ähnliche oder noch radikalere Aussagen. Etwa sprach am selben Tag auf der Mehr-Konferenz die ultrakonservative Publizistin Gabriele Kuby und forderte unter anderem, man müsse Jugendliche darauf hinweisen, dass sie, wenn sie homosexuell lebten, mit einer viel geringeren Lebenserwartung zu rechnen hätten.5 Nicht unterschätzt werden sollte bei solchen Äußerungen die Gefahr, dass sich die gesellschaftspolitischen Urteile und Positionen jenen der ‹Neuen Rechten› angleichen – ähnlich wie schon bei der Laienorganisation Forum Deutscher Katholiken oder dem Nachrichtenportal kath.net.6
In welchem Verhältnis stehen nun Hartls Ausführungen zum Gebet, zur Schönheit Gottes und zur christlichen Hingabe einerseits und seine teils aggressiv anmutende Positionierung zur heutigen Gesellschaft andererseits? Beides hängt für ihn unmittelbar zusammen. In seinem angesprochenen Vortrag auf der Mehr-Konferenz sagt er, Gott wolle in der Gegenwart leidenschaftliche Anbetung aufrichten und «radikale Liebe zur Wahrheit und zur rechten Lehre» wiederherstellen. Das eine ist in seinen Augen ohne das andere nicht möglich. Kurz: Wer Glauben in einer Weise lehrt, die zur Gottesverehrung hinführen will, muss gleichzeitig zur richtigen Lebensführung und zur richtigen Weltsicht aufrufen. Und, so Hartl, einer solchen «rechten Lehre» stünde vor allem das entgegen, was die universitäre Theologie vermittle.
Die Kritik der deutschsprachigen Theologie am Gebetshaus Augsburg ist entsprechend zu erwarten. Leider fällt sie teils so ausgedehnt und emphatisch aus, dass Wesentliches dabei unterzugehen droht. Wenn etwa Magnus Striet eine Gefahr der Mehr-Konferenz darin sieht, dass ihre Inszenierung «hochgradig amerikanisiert» sei und mit «kontinentaleuropäischen Traditionen nichts zu tun»7 habe, dann scheint er viel eher kulturelle Aversionen zum Ausdruck zu bringen als einen ernstzunehmenden Einwand. Und der zur leitenden Kritik avancierte Hinweis, dass es nicht ausreiche, mit der Formel «Einfach nur Jesus!» auf die gegenwärtige plurale Moderne zu antworten,8 mag in gewisser Weise richtig sein. Er ist aber auch theologisch und ökumenisch missverständlich und in der Auseinandersetzung mit charismatischen und evangelikalen Bewegungen eher ungeschickt. Was aber in den meisten Kritiken durchscheint und vermutlich genau den Kern des Problems trifft, ist die Beobachtung, dass sich das Gebetshaus Augsburg in wesentlichen Punkten dem gesellschaftlichen Diskurs entzieht. Hartl selbst favorisiert eine Kirche als «Gegengesellschaft»9, wobei seine Aussagen irgendwo zwischen forcierter Politikferne (Demokratisierung und Klimawandel sollten innerkirchlich weniger wichtig genommen werden) und reaktionären politischen Statements changieren. Das für ihn Fremde und Irritierende der Gesellschaft wird als bloße «Ideologie» herabgesetzt; das eigene Denken bildet Extreme aus, die kein Korrektiv mehr zulassen.
3. Affirmativ oder kritisch? Die Ambivalenz religiöser Faszination in der Gegenwart
Mit dieser Isolation gegenüber dem gesamtgesellschaftlichen Diskurs hängt der Vorwurf einer fehlenden theologischen Reflexion zusammen, der etwa gegenüber dem von Hartl initiierten Sammelband «Mission Manifest»10 erhoben wird. So geht Ursula Nothelle-Wildfeuer davon aus, dass hier «die Theologie ... komplett ausgeklammert werden soll». Interessant für die Frage nach der Glaubensvermittlung ist, wie Hartl darauf reagiert. Er erwidert, dass gerade im Gebetshaus Augsburg «Wert auf theologische Bildung»11 gelegt werde. Gemeint sind vor allem die oben angesprochenen Vortragsformate. Was er darunter versteht, ist aber eben keine kritisch-reflexive Theologie, wie sie seine Kritiker vor Augen haben. Es geht ihm eher um eine geistig ansprechende und didaktisch wirksame Form affirmativer Verkündigung, eine sowohl zeugnishafte als auch systematisch nachvollziehbare Glaubensvermittlung. Wenn Hartl im Gebetshaus Augsburg als ‹Lehrer› auftritt, dann verweist er auf Gott als den «ultimativ Schönen», auf eine Schönheit, deren Selbstevidenz nicht ein Hinterfragen verlangt, sondern eine Entscheidung, ein ‹Ja›. In dieser Logik ist eine Kritik an der eigenen, partikularen Weltanschauung, die bedenkenlos mit der Heiligen Schrift identifiziert wird, nicht vorgesehen. Damit aber wird die eigene Position nicht nur profiliert, sie immunisiert sich auch gegen jede Infragestellung, auch gegen jene aus der eigenen, christlichen Tradition. Im persönlichen Zusammenhang kann sie folglich übergriffig werden, im weltanschaulichen Zusammenhang drohen – so zurückhaltend dieses Schlagwort auch verwendet werden sollte – fundamentalistische Haltungen.
Wenn Hartl beansprucht, «theologische Bildung» zu leisten, sollte zwischen verschiedenen Ebenen der ‹Gott-Rede› (Theo-logie) unterschieden werden.12 Gebet, Bekenntnis, ‹prophetischer Ruf›, Glaubenszeugnis, Verkündigung – all diese Formen, die das spirituelle Leben im Umfeld des Gebetshauses Augsburg ausmachen, können als ‹Gott-Rede› in einem affirmativen und performativen Sinne verstanden werden. Sie bejahen die Schönheit Gottes, fassen dieses ‹Ja› in Lieder und Worte, auch in intellektuell verantwortete Worte. Aber sie können und wollen nicht das leisten, was eine ‹Gott-Rede› im Sinne wissenschaftlicher Theologie beansprucht. Sie treten nicht in eine methodische Distanz zu diesen Vollzügen, sie prüfen etablierte Motive und implizierte Weltanschauung nicht kritisch. Sie setzen all das als gegeben und unverrückbar voraus.
Beschränkt sich das Problem also darauf, dass Hartl hier (wie viele andere auch) die Ebenen der ‹Gott-Rede› vermischt? Sicher nicht, denn die Konsequenzen sind gravierend, wie die oben skizzierten Aussagen zu Rollenbildern und Homosexualität zeigen. Um in Hartls Bild und Terminologie zu bleiben: Ein affirmatives Lehren des Glaubens, das sich jeder Infragestellung durch kritische Selbstreflexion verschließt, droht nicht mehr ‹Schönes›, sondern ‹Hässliches› hervorzubringen.
Dort wo affirmatives Lehren des Glaubens die Funktion kritisch-reflexiver Theologie zu übernehmen sucht – oder umgekehrt –, resultiert daraus irgendwann eine drastische Schieflage. So berechtigt und notwendig beide Formen der ‹Gott-Rede› sind, müssen sie zugleich unterschieden und aufeinander bezogen bleiben. Allerdings führt dieser, zunächst vielleicht naheliegende, Versuch einer Verhältnisbestimmung letztlich nur noch tiefer in die spannungsreiche Situation von Religion in der Gegenwart. Zu den Spezifika einer komplexen und säkularen Moderne gehört, dass religiöse Anschauungen sowohl ein verstärktes Entscheidungsmoment fordern als auch stets fragil bleiben.13 Christlich gesprochen: In einer Welt, die nicht mehr vom Glauben an Gott durchdrungen ist, fordert die Erfahrung der Schönheit Gottes die Umkehr eines Menschen ein, sie lässt ihn die Welt in einem anderen Licht sehen und bringt neue Orientierung für seine Lebensführung mit sich. Viele Christen finden in den Formaten des Gebethauses Augsburg tatsächlich Impulse, die dieser Situation verpflichtet sind. Umgekehrt wird der Gläubige aber zunehmend damit konfrontiert, dass eben diese von ihm gewonnene Orientierung eine unter vielen ist, dass Menschen auch ganz anders denken und leben können, dass er sich zwar an der Wirklichkeit Gottes zu orientieren sucht, aber niemals beanspruchen kann, sie erfasst zu haben. Die Lehreinheiten des Gebetshauses Augsburg machen die radikale Faszination sehr stark, klammern aber die Reflexion ihrer Begrenztheit vielfach aus. Anderswo scheint umgekehrt das Bewusstsein um die Komplexität der Welt zu wachsen, wobei die Fähigkeit, in ihr die Faszination des Glaubens auszudrücken, nicht selten unterentwickelt bleibt.
Affirmation und Komplexitätssensibilität scheinen gegensätzliche Tendenzen mit sich zu bringen, die nicht zuletzt zu der polarisierten Auseinandersetzung um innerkirchliche Entwicklungen, etwa um das Gebetshaus Augsburg, führen. Die in dieser Situation zutage kommenden Differenzen und Gegensätze bergen jedoch auch ein Potential für die Wahrnehmung der gegenwärtigen Situation religiöser Menschen: Wenn man sich dieser Spannung nicht entzieht, wird die ganze Ambivalenz spiritueller Faszination in unserer Zeit sichtbar – und mit dieser müssen alle Christen leben lernen. Denn was wäre die Alternative? Wenn Christen nicht einen Glauben erlernen und leben, der die Schönheit Gottes bejaht, ohne immer zugleich dessen Infragestellung zu formulieren, wäre dieser kraftlos. Das gilt auch für einen Glauben, der nicht in der Lage ist, nötigenfalls in Opposition zu gesellschaftlichen Entwicklungen zu treten. Doch dort, wo Christen auf die Infragestellung der jeweils eigenen Überzeugungen verzichten, drohen diese tyrannisch zu werden. Das Dilemma liegt darin, dass ein Weg jenseits dieser Extreme immer schwieriger zu werden scheint.
Das Lehren und das Lernen von Glauben werden in einer säkularen und pluralen Gesellschaft also ungleich anspruchsvoller, wenn sie nicht in die vermeintlichen Abkürzungen fundamentalistischer Isolation oder umgekehrt indifferenter Abstraktion führen sollen. Diese Schwierigkeit spiegelt sich aktuell im breiten kirchlichen Spektrum wieder, auch im Gebetshaus Augsburg. Gibt es eine Möglichkeit, mit den resultierenden Polarisierungen und Radikalisierungen konstruktiv umzugehen? Das ekklesiologische Prinzip der Katholizität, also (nicht im konfessionellen Sinne) der ‹Ganzheit› oder ‹Allgemeinheit›, kann hier eine Orientierung geben. Geht man von diesem aus, sind die Glaubenserfahrungen und Zeugnisse des anderen zunächst einmal als Teil dieser ‹Ganzheit› ernst zu nehmen. Man kann sich ihrem Anspruch also nicht von vornherein verweigern. Umgekehrt stellt das ‹katholische› Prinzip die Absolutheit jeder Erfahrung und jeden Anspruchs in Frage – auch die Ausschließlichkeit des eigenen Denkens.14 Das lässt sich auch auf die Potentiale und die möglichen Abgründe einer Glaubensvermittlung wie im Gebetshaus Augsburg anwenden: Kein Versuch, unter den geschilderten, erschwerten Bedingungen ein ‹Ja› des Glauben zu artikulieren, sollte bloß aus Prinzip als illegitim abgetan werden, aber jeder dieser Versuche steht in der Pflicht, sich in der Pluralität des ‹Katholischen› kritisch (d.h. unterscheidend) auf Irrwege prüfen lassen.