Immer noch fahren wir fort zu behaupten, dass wir wachen
und auf den Meister warten. Doch wollten wir wirklich
ehrlich sein, so müssten wir zugestehen,
dass wir überhaupt nichts mehr erwarten.
Teilhard der Chardin
Es ist Zeit, dass es Zeit wird; es ist Zeit
Paul Celan
Maranatha! /1 Kor 16, 22)
Chiliasmus – das ist die Erwartung eines tausendjährigen Friedensreiches, das vor dem Ende der Welt auf Erden aufgerichtet wird. Der Begriff stammt aus der Offenbarung des Johannes. Hier, und nur hier findet sich die Verheißung eines Reiches, in dem die Märtyrer «mit Christus tausend Jahre» (gr. chilia ete) herrschen werden (Offb 20, 4). Der Chiliasmus ist ein vielschichtiges Phänomen mit einer komplexen Geschichte. Er trägt (1.) ein Moment der Unruhe und Erwartung in den Zeitbegriff ein. Zeit ist im Chiliasmus nicht leer und homogen, sondern gespannt wie ein Bogen, der den Pfeil auf einen Punkt in der Zukunft richtet: das baldige Kommen des Reiches. Dieser Anbruch soll, wenn er denn kommt, (2.) allen Gläubigen zugutekommen. Das Kollektiv, das jetzt benachteiligt oder sogar verfolgt wird, soll dadurch Trost finden und in seiner Standhaftigkeit im Glauben gestärkt werden. Das Friedensreich aber wird (3.) nicht für den Himmel, sondern für die Erde erwartet. Die erlösende Transformation der Geschichte findet demnach bereits in der Geschichte selbst statt, das Neue, das die Gestalt der alten Welt verändern soll, hat seinen Schauplatz im Diesseits. Damit ist dem Chiliasmus (4.) ein subversives Potential mitgegeben; durch die Dynamik der Überschreitung stört er das Bestehende auf. Die Hoffnung auf das Kommen der Gerechtigkeit, die das Leiden der Opfer beendet und die Täter zur Rechenschaft zieht, ist das Öl, welches die millenaristische Glut immer wieder auflodern lässt.
Das vorliegende Themenheft der communio widmet sich dem vielschichtigen Phänomen chiliastischer Erwartungen. Zunächst zeichnet der Trierer Neutestamentler Hans-Georg Gradl die Vorstellung des tausendjährigen Reiches in der Johannes-Apokalypse nach. Das visionäre Szenario wird ausgeleuchtet: Der Drache, die alte Schlange, wird gefesselt und das Reich des Friedens, in dem Christus und die Märtyrer herrschen, für tausend Jahre aufgerichtet, danach wird der Drache für eine «kurze Zeit» freigelassen, um noch einmal alle Mächte des Bösen aufzubieten, bevor er durch ein Feuer vom Himmel verschlungen und endgültig entmachtet wird. Es folgen die allgemeine Auferstehung der Toten und das Gericht, schließlich werden der neue Himmel und die neue Erde aufgerichtet. Schon in der frühen Kirche ringt man mit diesen Aussagen. Eine Lesart wirbt für ein wörtliches Verständnis. Wie man gegen die Gnosis den Realismus der Auferstehung des Fleisches, die resurrectio carnis, betont, so hält man gegenüber einer spiritualistischen Verflüchtigung der Eschatologie am Chiliasmus fest. Justin der Märtyrer, Tertullian, Hippolyt von Rom, Laktanz und vor allem Irenäus von Lyon sind die wirkmächtigsten Zeugen des altkirchlichen Chiliasmus, der sich teilweise auch gegen Markion wendet. Die alexandrinische Theologie und Origenes halten eine solche Lesart indes für zu «fleischlich», zu «jüdisch», sie werben für eine allegorische Deutung. Erst nach der konstantinischen Wende verliert der Chiliasmus seine Plausibilität.
Jan-Heiner Tück zeigt, wie Augustinus in seinem Werk De civitate Dei eine ekklesiologische Domestizierung des Chiliasmus vornimmt. Die These lautet, dass das tausendjährige Reich schon begonnen hat. Es ist mit der Kirche bereits da. Diese ist allerdings nicht mit dem Friedensreich Christi identisch, wie die Lehre von der pilgernden Kirche als corpus permixtum deutlich macht, in dem bis zum Gericht Gerechte und Sünder gleichermaßen unterwegs sind. Kirche und Theologie der Folgezeit haben sich überwiegend in den geschichtstheologischen Bahnen des Augustinus bewegt, gleichwohl ist der Chiliasmus an den Rändern nie ganz verstummt. Im 13. Jahrhundert hat der Kalabreser Abt Joachim von Fiore in seiner Lehre von den drei Reichen eine wirkmächtige Neuauflage vertreten, wie der Wiener Kirchenhistoriker Thomas Prügl in seinem Beitrag zeigt. Der trinitarischen Geschichtsschau ist ein Schema der Entwicklung unterlegt, wenn auf die Epoche des Vaters (sub lege) das Reich des Sohnes (sub gratia) folgt, das schließlich durch das Reich des Heiligen Geistes abgelöst und überboten wird. Die Epoche der ecclesia spiritualis, deren Beginn Joachim für das Jahr 1260 erwartet, wird alle Institutionen hinter sich lassen. Die Theologen der Hochscholastik, allen voran Thomas von Aquin und Bonaventura, haben sich kritisch mit Joachims Geschichtsspekulation auseinandergesetzt. Die Einmaligkeit und Endgültigkeit der Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus werde hier relativiert. Die Franziskaner-Spiritualen haben die chiliastische Erwartung dann weitergetragen und mit einer sozialkritischen Note versehen. Über die böhmischen Taboriten, Thomas Münzer, den «Theologen der Revolution» (Ernst Bloch), und die Täufer haben sich chiliastische Vorstellungen auch nach der Reformation erhalten und sind im Pietismus des 18. und den Erweckungsbewegungen des 19. Jahrhunderts weiter tradiert worden. Sie sind heute im pfingstlich-charismatischen Spektrum des Christentums sehr vital und werden, wie Reinhard Hempelmann in einem instruktiven Überblick zeigen kann, durch Endzeitbestseller in Millionenauflage wie Tim LaHayes und Jerry B. Jenkins’ Buchserie Left Behind popularisiert.
Auch in der Philosophie der Aufklärung begegnen im Gewand der Säkularisierung chiliastische Traditionsstränge. Berühmt ist Lessings Schrift Erziehung des Menschengeschlechts, in der das Elementarbuch des Alten Testaments, aber auch der «neuere Pädagoge» Christus durch das «neue, ewige Evangelium» überboten werden. Kant visiert in seiner Religionsschrift einen «philosophischen Chiliasmus» an, und bei Hegel und Marx finden sich wirkmächtige Fortschreibungen. Das utopische Denken von Ernst Blochs ist vor allem in seinem Hauptwerk Das Prinzip Hoffnung von einem chiliastischen Lavastrom getragen – während wenig später in Samuel Becketts Waiting for Godot die chiliastische Glut endgültig zu verglimmen scheint. Der spannenden Frage, ob man auch die Diktaturen des 20. Jahrhunderts, also den Sowjet-Kommunismus und den Nationalsozialismus, als politische Pseudomorphosen des Chiliasmus bezeichnen kann, geht der Heidelberger Germanist Helmuth Kiesel in einem Essay nach.
Die katholische Kirche ist der ekklesiologischen Bändigung des Chiliasmus durch Augustin weithin gefolgt und steht den millenaristischen Bewegungen der Gegenwart samt ihrer forcierten Naherwartung reserviert gegenüber. Der Preis dieser Reserve ist allerdings eine gewisse Entweltlichung und Spiritualisierung der Eschatologie, die gerade im heutigen Gespräch mit dem Judentum neu angefragt wird. Es steht die Erwartung im Raum, die Gründung des Staates Israels und die Rückführung vieler Juden aus der Diaspora als Einlösung der alttestamentlichen Prophetie zu lesen. «Muss man nicht im Geschehen der Zeit den Ezba Elohim, den Finger Gottes sehen?», fragt Schalom Ben-Chorin schon 1950. «Zuerst Gottes Gericht über Israel, das furchtbarste aller Seiner Strafgerichte und dann die Sammlung des Restes im wiedererstandenen Staat Israel, im Land der Verheißung.»1 Solchen Deutungen steht die katholische Kirche bislang eher reserviert gegenüber. Neben der Gefahr einer theologiepolitischen Aufladung erinnert sie an die säkularen Wurzeln des Zionismus. Gleichwohl ist es jedem unbenommen, in der Gründung des Staates Israel nach dem Schatten der Shoah ein Zeichen der Treue Gottes zu seinem Volk zu sehen. Eine präsentische Eschatologie in den Spuren Augustins neigt überdies dazu, den Verheißungsüberschuss abzublenden, der in der Botschaft der Propheten angelegt ist. Das Reich des Friedens und der Gerechtigkeit ist aus christlicher Sicht zwar in der Kirche angebrochen, seine Vollendung aber steht noch aus. Die Mitwirkung an diesem Reich durch eine Praxis der Solidarität mit den Armen und Bedrängten nimmt die sozialkritische Note des Chiliasmus auf, ohne dem Trugschluss zu erliegen, das Reich mit eigenen Mitteln aufrichten zu können. Das ist ein wesentliches Anliegen der neuen politischen Theologie von Johann Baptist Metz, der gegen eine evolutionistische Entfristung der Zeit das apokalyptische Erbe der Unterbrechung in Erinnerung ruft. Der Gebetsruf «Maranatha», der durch die Dominanz der augustinischen Geschichtstheologie weithin verstummt ist, soll neu hörbar werden.
Johann Baptist Metz ist es auch, der in der Festschrift zu Jürgen Habermas’ ٦٠. Geburtstag forderte, die zeitgenössische Philosophie müsse die anamnetische Tiefenstruktur der Vernunft wiederentdecken, wenn sie erfolgreich gegen die instrumentelle Verkürzung der Rationalität angehen wolle.2 Die Krise der Geisteswissenschaften könne nur überwunden werden, wenn neben den Denkangeboten Athens auch die Jerusalems aufgenommen würden, insbesondere jene anamnetische Vernunft, welche Denken als Andenken und geschichtliches Eingedenken begreife. Mit Blick auf Habermas notierte er, dass dessen Theorie des kommunikativen Handelns das Denken unter «Gleichzeitigkeitsvorbehalt» stelle. Die kleine Provokation des Theologen verhallte nicht ungehört. In einer Replik wies Jürgen Habermas den Gegensatz zwischen Athen und Jerusalem als unzutreffende Stilisierung zurück und erinnerte daran, dass die abendländische Philosophie nicht nur als Siegeszug des Platonismus, sondern auch als eine Geschichte des Protestes dagegen zu lesen sei.3 Der griechische Logos habe sich auf dem Weg von der intellektuellen Anschauung des Kosmos über die Selbstreflexion des erkennenden Subjekts zur sprachlich inkarnierten Vernunft gewandelt. In diesem Wandlungsprozess seien wertvolle Impulse des heilsgeschichtlichen Denkens in die Philosophie eingeflossen. Die Rede von einer Halbierung der Vernunft treffe daher seine Theorie des kommunikativen Handelns nicht, für die Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität leitende Kategorien seien. Nicht nur Athen, auch Jerusalem gehöre in die Genealogie des nachmetaphysischen Denkens hinein. In einem freundschaftlich gehaltenen Brief an Metz hat Habermas im vergangenen Jahr eingeräumt, dass seine späte intensive Beschäftigung mit Fragen der Theologie auch auf die «produktiven Anstöße» von Metz zurückgehe.4 Das wache Sensorium für die unabgegoltenen Ansprüche der Opfer der Geschichte, aber auch der Protest gegen Strategien des Vergessens und Verdrängens seien gemeinsame Anliegen. Vor allem kann Habermas nun der «prophetischen Klage» über die Transformation des Glaubens in die Begrifflichkeit der Theologie einiges abgewinnen. Mit der hellenistischen Weichenstellung der theologischen Arbeit sei eben doch ein Verlust an Leidempfindlichkeit verbunden gewesen, ja die Grundbegriffe der praktischen Philosophie heute verdankten sich einer mehr als tausendjährigen semantischen Osmose, deren Gestalten Habermas in seinem soeben erschienenen Werk Auch eine Geschichte der Philosophie akribisch nachzeichnet.
In den Perspektiven dokumentieren wir ein Interview, dass der Theologe und Journalist Henning Klingen mit Jürgen Habermas anlässlich des Erscheinens seines neuen Buchs führen konnte. Das Gespräch zeigt, dass Habermas als Vertreter der «skeptischen Generation» im Alter keineswegs religiös geworden ist – jede theologische Vereinnahmung wäre daher deplatziert; zugleich wird allerdings deutlich, dass eine Genealogie der okzidentalen Rationalität zu kurz griffe, wenn sie die semantischen Gehalte der biblischen Heilsgeschichte überginge. Darüber hinaus veröffentlichen wir ein ausführliches Gespräch mit Kardinal Christoph Schönborn über die Amazonas-Synode, den Aufruf zu einer ökologischen Umkehr und neue Wege in der Pastoral. Der Kardinal wehrt sich gegen eine Instrumentalisierung der Synode für westeuropäische Reformanliegen. Die Forderung zu übergehen, sich für das gemeinsame Haus der Erde einzusetzen und die indigene Bevölkerung Amazoniens vor neokolonialer Ausbeutung zu schützen, das hieße, die Ausgeschlossenen ein weiteres Mal auszuschließen.