Wann darf ich kommen und Gottes Antlitz schauen? (Ps 42,3)
Er war ein Meister der pointierten Rede. Seine Stichworte zur religiösen Signatur der Zeit haben die Debatten geprägt. Sein Wort von der «religionsfreundlichen Gottlosigkeit», von der «Gotteskrise», ist ebenso unvergessen wie seine Beobachtung, dass in den posttraditionalen Gesellschaften «Subjektmüdigkeit, Gedächtnisschwund und Sprachzerfall» um sich greifen. Die prekäre Situation der Kirche brachte er in das winterliche Bild, die Kirchen würden hierzulande wie entlaubte Bäume in der postmodernen Landschaft stehen. Mit den Anliegen des Kirchenvolksbegehrens zeigte er partielle Übereinstimmung, warnte aber vor der Gefahr einer ekklesiologischen Selbstbespiegelung und erinnerte die Akteure daran, dass die weitaus modernitätsverträglicheren evangelischen Kirchen von der schwelenden Krise nicht weniger betroffen seien. Kirchenreform habe nur Aussicht auf Erfolg, wenn sie in die Nachfolge Jesu einweise und eine Praxis freisetze, die am leidenden Antlitz der Anderen nicht achtlos vorbeigehe. Es gelte – jenseits von pastoraler Ängstlichkeit und bürokratischer Engstirnigkeit – den Horizont neu zu öffnen für die Frage nach Gott, den Deus semper maior, der mehr und anderes sei als die Projektionsfläche bürgerlicher Erwartungen.1
I
Johann Metz, 1928 in der Oberpfalz geboren, studierte Philosophie und Theologie an den Universitäten Bamberg und Innsbruck. 1954 wurde er im Bamberger Dom zum Priester geweiht. Bereits zwei Jahre zuvor hat er mit einer Arbeit über Heidegger und das Problem der Metaphysik bei Emerich Coreth SJ den philosophischen Doktortitel erworben. Metz war zugleich Schüler des Konzilstheologen Karl Rahner SJ, der die katholische Theologie aus den verkrusteten Bahnen der Neuscholastik herausgeführt und die anthropologische Wende in der Theologie eingeleitet hat. Bei ihm hat er seine theologische Dissertation über Christliche Anthropozentrik bei Thomas von Aquin (1962) geschrieben. Der junge Metz wollte die theologische Reserve gegenüber dem Subjektdenken der Moderne überwinden und zeigen, dass sich bereits in der Scholastik Vorzeichen für die anthropologische Wende der Neuzeit finden lassen. Als sich die Thomas-Experten mit Rückfragen meldeten und an den theozentrischen Aufbauplan der Summa erinnerten2, war Metz bereits zum Fundamentaltheologen an die Universität Münster berufen worden und mit anderen Fragen befasst. Odo Marquard hat die aktualisierende Tendenz seiner Thomas-Deutung rückblickend zu der spitzen Bemerkung veranlasst: «Die Thomisten haben Thomas nur verschieden interpretiert, es kömmt darauf an, ihn zu verändern.»3
II
In seinen Arbeiten Zur Theologie der Welt (1968) wendet sich Metz dem vielschichtigen Phänomen der Säkularisierung zu und sucht die wachsende Weltlichkeit im Horizont der Inkarnationstheologie positiv zu deuten. Die Freisetzung der Welt in ihre Weltlichkeit sei nicht gegen, sondern durch das Christentum entstanden. Dieser positive Zugang zur säkularen Welt der Moderne wendet sich gegen defensiv-apologetische Stimmen, welche die Kirche als Bollwerk gegen die Verweltlichung der Welt in Stellung bringen. Gegen die Selbstisolierung von Theologie und Kirche hat sich vor dem Konzil bereits Hans Urs von Balthasar in seiner Streitschrift Schleifung der Bastionen (1953) gewendet. Bemerkenswert ist allerdings, dass Metz die Legitimität der weltlich gewordenen Welt nicht schöpfungstheologisch begründet. Man könnte ja auch sagen, dass die antike «Divinisierung» des Kosmos durch den biblischen Glauben an Gott als den Schöpfer der Welt prinzipiell überwunden worden sei. Aber Metz legt den Schwerpunkt seiner Argumentation auf das Ereignis der Menschwerdung: Gottes Wort habe die menschliche Natur angenommen und gerade dadurch ins Eigene freigesetzt. Ipsa assumptione creatur.4 Was Gottes Wort annimmt, kommt in seiner Kreatürlichkeit, in seiner Nicht-Göttlichkeit zu sich. Diese christologische Denkfigur von Annahme und Freisetzung ins Eigene überträgt Metz auf das Gott-Welt-Verhältnis insgesamt und gelangt zu der These: Dadurch, dass Gott mit der menschlichen Natur ein Stück Welt unwiderruflich angenommen und bejaht habe, sei auch die Welt in ihrer Weltlichkeit grundsätzlich angenommen und bejaht worden. Durch diese «Entdivinisierung» der Welt sei die wissenschaftliche Erforschung und technische Gestaltung der Welt angestoßen worden. Metz’ These von der inkarnationstheologischen Legitimität der Neuzeit erschien schon damals einigen Kritikern zu optimistisch, weil sie die widergöttlichen Tendenzen der Welt unterbelichte. Der Hinweis auf «die Wahrheit, dass der ‹Geist› des Christentums bleibend eingestiftet ist in das ‹Fleisch› der Weltgeschichte und in deren irreversiblem Gang sich durchsetzen und bewähren muss»5, steht aber vor allem auch quer zu Hans Blumenbergs prominenter Gegenthese, die frühe Neuzeit habe sich in einem Akt humaner Selbstbehauptung vom theologischen Absolutismus des Spätmittelalters emanzipieren müssen. Blumenberg behauptet zwischen Spätmittelalter und Neuzeit eine epochale Zäsur. Anders als Metz, der mit der epochenübergreifenden Logik der Freisetzung eine Kontinuität unterstellt, geht Blumenberg von einer Diskontinuität aus. Er unterstreicht die Abwendung vom Willkürgott des späten Nominalismus und die fällige Emanzipation des neuzeitlichen Menschen von religiösen Vorgaben. Die Kategorie der Säkularisierung lehnt Blumenberg zur Deutung der Genese der Neuzeit ab, da ihr, vom juristischen Hintergrund her, die Semantik der Enteignung und des Rechtsbruchs eingeschrieben sei. Es gehört zu den versäumten Gesprächen der alten Bundesrepublik, dass Metz und Blumenberg, obwohl beide Professoren an der Universität Münster, den Disput über die Säkularisierung nicht ausgetragen haben.6
III
In dem Maße, in dem in den weiteren Arbeiten die Ambivalenz der Neuzeit in den Blick rückt, verliert die Inkarnationstheologie für Metz an Bedeutung. Er registriert, dass der Übergang von einer divinisierten zu einer hominisierten Welt nicht automatisch mit einer Humanisierung der Gesellschaft zusammenfällt. Die neue politische Theologie, die er zwischen 1965 und 1969 auszuarbeiten beginnt, versucht christliche Impulse zur gesellschaftlichen Humanisierung einzubringen und übt den Schulterschluss mit den Freiheits- und Emanzipationsbestrebungen in der säkularen Welt. Den vorherrschenden Strömungen in der Theologie der 1960er Jahre bescheinigt Metz einen Ausfall der gesellschaftskritischen Dimension. Transzendentale, existentiale und personalistische Theologien, darunter die seines Lehrers Karl Rahner, müssten weiterentwickelt werden in Richtung einer politischen Theologie. Dass der Begriff durch Carl Schmitt bereits einschlägig vorbelastet war, dass Erik Peterson in seiner Studie Der Monotheismus als politisches Problem die These von der «Erledigung einer jeden politischen Theologie» aufgestellt hatte, hat Metz – zumindest am Anfang – unberücksichtigt gelassen.7 Ihm geht es primär darum, unter dem Stichwort der ‹Entprivatisierung› die gesellschaftliche Relevanz des Glaubens öffentlich zur Geltung zu bringen. Damit schreibt Metz, der 1965 zu den Gründungsmitgliedern der Zeitschrift Concilium gehört, das Projekt seiner Theologie der Welt fort, die über die Legitimierung der Neuzeit hinaus keine konkreten gesellschaftsbezogenen Anstöße enthielt: «Das aporetische Ergebnis der Säkularisierungsthese, die Weltlichkeit der Welt letztlich nur um den Preis einer Weltlosigkeit des Glaubens legitimieren zu können, soll überwunden werden durch die Betonung der gesellschaftskritischen Relevanz des Glaubens.»8 Der Primat der Zukunft, den Metz fordert, soll die noch ausstehenden biblischen Verheißungen der Gerechtigkeit und des Friedens mit dem politischen Engagement für eine bessere Welt zusammenführen, die Aufwertung der Praxis gegenüber der Theorie soll die gesellschaftsverändernde Kraft des Glaubens zur Geltung bringen. Hier versucht Metz an die Theorie-Praxis-Debatten der neomarxistischen Philosophie der Frankfurter Schule anzuschließen. Zugleich führt er mit dem ‹eschatologischen Vorbehalt› – ein Begriff, der über verschlungene Wege von Erik Peterson über Ernst Käsemann in die neue politische Theologie eingeht9 – ein ideologiekritisches Instrument ein. Gesellschaftsentwürfe, die ein Definitionsmonopol für die Zukunft beanspruchen und das Reich Gottes ohne Gott aufrichten wollen, neigen zur Selbstverabsolutierung. Auch im Umkreis der neuen politischen Theologie wird die Differenz zwischen utopischem Denken und eschatologischer Hoffnung allerdings nicht immer scharf gezogen und Blochs Rede vom «militanten Optimismus» scheinbar vorbehaltlos übernommen. Kein Geringerer als Jürgen Habermas hat dies registriert, als er 1973 bemerkte, der Einflussverlust der christlichen Überlieferung werde durch ein wachsendes Interesse am utopischen Denken kompensiert: «Dafür spricht, innerhalb der christlichen Konfessionen, die neuere Politische Theologie, die bei ihren radikaleren Vertretern eine Destruktion des Jenseits zugunsten einer diesseitigen sozialen Verwirklichung der religiösen Verheißung bedeutet.»10 Gegen eine solche Verlagerung der eschatologischen Hoffnung auf die Zukunft der Geschichte steht der Vorbehalt, dass das Reich der Vollendung, das der Glaube erwartet, zwar von Menschen befördert werden kann, aber letztlich von Gott allein aufgerichtet werden wird. Gleichwohl wirbt Metz dafür, im Marxismus ein Stück «verkümmerter Theologie im Exil» wahrzunehmen. Vom sozialistischen Pathos der Brüderlichkeit könne man lernen, den christlichen Heilsindividualismus aufzubrechen, und die Umlegung des Jenseitsglaubens in eine geschichtlich engagierte Zukunftsorientierung sei allemal Anstoß, den Gott über uns als einen «Gott vor uns»11 wahrzunehmen und die weltverändernde Kraft des biblischen Verheißungsglaubens wiederzuentdecken.
IV
Durch das Gespräch mit den Denkern der Frankfurter Schule und die Auseinandersetzung mit den geschichtsphilosophischen Thesen Walter Benjamins tritt Metz die Dialektik der modernen Fortschrittsgeschichte deutlicher vor Augen.12 Die Rede vom Primat der Zukunft wird zurückgenommen und durch die Memoria-These ergänzt, welche die Tradition der Erniedrigten und Beleidigten gegenüber der Siegergeschichtsschreibung subversiv ins Gedächtnis ruft. Es ist gerade die Erinnerung an die verdrängte Rückseite der modernen Fortschrittsgeschichte, die eine futurische Engführung der Theologie korrigiert. Erinnerung, Erzählung und Solidarität sind kaum zufällig Basiskategorien seiner neuen politischen Theologie, die er in seinem Werk Glaube in Geschichte und Gesellschaft. Studien zu einer praktischen Fundamentaltheologie (1977) näher entfaltet. Die memoria passionis, das Hören auf die Autorität der Leidenden, macht aufmerksam auf die verdrängten Zonen der neuzeitlichen Emanzipationsgeschichte. Metz unterscheidet zwischen einer sozialen Unterdrückungs- und politischen Gewaltgeschichte, einer Schuldgeschichte und einer Geschichte der Toten, die er in den Horizont einer Theologie der Hoffnung einrückt, die ihren Fluchtpunkt in der Option einer Subjektwerdung aller vor Gott hat. Diese Option schließt sowohl das Subjektwerdenkönnen der Leidenden und Unterdrückten als auch das Subjektbleibendürfen der Schuldigen ein. Was an repressiven Strukturen in den wirtschaftlichen und politischen Systemen der Gegenwart veränderbar ist, das soll in einer mit den Deklassierten solidarischen Praxis schon jetzt ausgeräumt und verändert werden. Hier zeigt sich die Nähe der neuen politischen Theologie zur Befreiungstheologie, die an der Seite der Armen für mehr Gerechtigkeit eintritt und gegen die Strukturen der ökonomischen Ausbeutung ankämpft. Gegenüber abstrakten Gesellschaftstheorien, die das Leiden vergangener Generationen quasi als Dünger des Fortschritts betrachten und so dem Vergessen überantworten, fordert Metz eine Solidarität nach rückwärts mit den Opfern der Geschichte – ein Impuls, den sein Schüler Helmut Peukert theoretisch weiter vertieft.13
Die Reserve gegenüber der heimlichen Apokatastasis-Tendenz in der Theologie der Gegenwart hat mit den offenen Bilanzen der Geschichte zu tun. Metz hegt den Verdacht, dass der dramatische Ernst der menschlichen Freiheitssituation ausgehöhlt wird, wenn das Eintrittsbillet in den Himmel schon hier und heute versprochen wird. In der Tat bleibt eine heilsoptimistische Theologie nur dann nicht unter dem Niveau der abgründigen Geschichte menschlicher Leiden, wenn sie die Forderung aufnimmt, dass die Täter nicht auf Dauer über ihre Opfer triumphieren dürfen. Ohne die Rede von Gott als Liebe in Abrede zu stellen, verbindet Metz das Gottesthema entschieden mit der Gerechtigkeitsfrage, um die unabgegoltenen Ansprüche der Vergangenheit gegen vorschnelle Beruhigung wachzuhalten. Die Hoffnung, dass am Ende universale Versöhnung gelinge, betrachtet er skeptisch. Die Anfrage seines Münsteraner Kollegen Thomas Pröpper: «Wäre eine nur partikulare Versöhnung nicht für Gottes Heilswillen ein Skandal und für die Geretteten eine bleibende Wunde?»14, hat er offengelassen. Auch die Rückfrage nach dem eschatologischen Geschick der Täter hat er – nach Anstößen von außen – nur sporadisch aufgenommen, wobei für ihn klar war, dass der Hoffnung auf Gerechtigkeit für die Opfer Vorrang gebühre vor der Frage nach Vergebung für die Täter. Aus dem wachen Sensorium für die Leidensgeschichten der Welt erwuchsen theologische Revisionen. Statt in den Bahnen des Augustinus weiter die Erlösung von Sünde und Schuld ins Zentrum der Soteriologie zu rücken, legt Metz den Schwerpunkt auf die rettende Solidarität mit den Opfern der Geschichte. Die Fragen nach Gerechtigkeit und intersubjektiver Versöhnung hätten im Zusammenhang der memoria passionis, mortis et resurrectionis Jesu Christi christologisch weiter bedacht werden können. Aber Metz hat an dieser Stelle Zurückhaltung walten lassen, nicht – wie er brieflich einmal mitteilte – «um den soteriologischen Impuls zu leugnen, sondern um den fein gesponnenen ‹soteriologischen Zauberkreis› aufzubrechen, der in meinen Augen die Erlösung immer in die Nähe einer geschichtsfernen Gnosis treibt.»15
V
Das Anliegen, das Andenken der Toten zu ehren und gegen die schnelle Vergesslichkeit der Erfolgreichen wachzuhalten, hat bei Johann Baptist Metz einen biographischen Hintergrund. Am Ende des Zweiten Weltkriegs noch zur Wehrmacht einberufen, wurde er als 16-jähriger Soldat eines Abends von seinem Kompaniechef beauftragt, dem Bataillonsgefechtsstand eine Meldung zu überbringen. Er irrte nachts durch zerschossene Dörfer und Gehöfte und überbrachte die Nachricht. Als er in den frühen Morgenstunden zu seiner Kompanie zurückkehrte, sah er nur Tote. Ein kombinierter Jagdbomber- und Panzerangriff der Alliierten war über seine Kameraden hinweggefegt und hatte das Lager ausgelöscht. Die, mit denen er gerade noch sein Leben geteilt hatte, lagen regungslos da: Die verstummten Stimmen blieben im Ohr, die erloschenen Antlitze gingen ihm nach. Die stille Frage «Warum?» hat sein späteres Denken geprägt. Die anderen hatte es getroffen – er war durch glückliche Umstände davongekommen.16 Seine Frage nach der Rettung des anderen in seinem Tod, seine eindringliche Forderung nach mehr Theodizee-Empfindlichkeit in der Theologie – hier haben sie ihr lebensgeschichtliches Fundament.
Metz war der Erste, der das Erschrecken über die Shoah in die katholische Theologie einschrieb. «Ich war beunruhigt: Warum sieht man der Theologie diese Katastrophe – wie überhaupt die Leidensgeschichte der Welt – so wenig oder überhaupt nicht an? Kann und darf theologische Rede ähnlich distanziert verfahren wie (vielleicht) philosophische? Ich war beunruhigt von dem augenfälligen Apathiegehalt der Theologie, von ihrer erstaunlichen Verblüffungsfestigkeit.»17 In einer viel beachteten Podiumsdiskussion im Jahr 1967 antwortete Metz auf die Frage des tschechischen Philosophen Milan Machovec, wie man nach Auschwitz noch beten könne. Man könne nur beten, so Metz, weil auch in Auschwitz gebetet worden sei. «Wir Christen kommen niemals mehr hinter Auschwitz zurück, über Auschwitz hinaus aber kommen wir genau besehen nicht mehr allein, sondern nur mit den Opfern von Auschwitz. Das ist in meinen Augen die Wurzel der jüdisch-christlichen Ökumene.»18 In der Christologie sei danach zu fragen, was es bedeute, dass im Zentrum des christlichen Glaubens der Jude Jesus von Nazareth stehe. Auch gab er den Anstoß, antijudaistische Elemente in der Theologie zu entfernen und das Gespräch zwischen Synagoge und Kirche auf gleicher Augenhöhe aufzunehmen. Metz zeigte sich auch verstört darüber, dass so viele überlebende jüdische Dichter und Denker wie Paul Celan, Jean Améry, Sarah Kofman, Primo Levi am Ende unter der Last der Vergangenheit zerbrochen und vorzeitig aus dem Leben geschieden sind.
Das wache Gespür für die unwiederbringlichen Verluste führt ihn zu der Forderung, das spezifische Denkangebot Jerusalems stärker zu beachten. Die anamnetische Kultur, welche Denken als Andenken und Eingedenken verstehe, dürfe nicht zugunsten der griechischen Philosophie und der Denkangebote Athens ausgeblendet werden. Vielmehr müsse das leid- und geschichtsempfindliche Denken des Judentums die tendenziell zeitenthobene und geschichtsvergessene Metaphysik Griechenlands korrigieren. Die forcierte Gegenüberstellung zwischen Jerusalem und Athen dürfte als korrektivischer Anstoß gemeint sein, aus der Sicht der Philosophiegeschichtsschreibung mag sie undifferenziert und grob erscheinen, weil bereits im hellenistischen Judentum produktive Übersetzungs- und Aneignungsvorgänge zu beobachten sind. Jürgen Habermas hat die Konstellation von Jerusalem und Athen näher beleuchtet und daran erinnert, dass in einem komplexen Prozess der Übersetzung das heilsgeschichtliche Erbe der Bibel in das philosophische Denken der europäischen Moderne verwandelt eingegangen ist. Man kann sein Opus magnum Auch eine Geschichte der Philosophie von 2019 auch als späte Antwort auf Metz lesen, der angeregt hatte, die Theorie des kommunikativen Handelns von 1983 stärker auf die anamnetische Tiefendimension der Vernunft rückzubeziehen. Jedenfalls zeigt hier Habermas gegen eine szientistische Verengung von Philosophie, dass die semantischen Potenziale der Bibel über unterschiedliche Stufen epochaler Anverwandlung in die Genealogie des nachmetaphysischen Denkens hineingehören. Über Metz geht Habermas insofern hinaus, als er vorsprachlich-rituelle Formen des Gedenkens deutlicher in seine Reflexionen einbezieht.
VI
Metz warb für eine dunkle Mystik der Gottespassion – eine Leidenschaft für Gott, die in ein ‹Leiden an Gott› führen kann, weil dieser sich immer wieder schmerzlich entzieht. Damit setzte Metz einen deutlichen Kontrapunkt gegen seinen Tübinger Weggefährten Jürgen Moltmann, der seine trinitarische Kreuzestheologie ebenfalls unter den Titel ‹Gottespassion› stellte, damit aber die Leidenschaft der Liebe Gottes selbst im Blick hatte, die sich in der Passion Christi für die Menschen rückhaltlos verausgabt habe. Der Rede von der Theopathie oder Liebespassion Gottes, die an Origenes’ Wort von der passio caritatis anschließen kann, stand Metz reserviert gegenüber, sie führe zu einer Verdopplung des menschlichen Leidens in Gott und werde überdies dem «negativen Mysterium menschlichen Leidens» nicht gerecht. Tatsächlich findet sich in Jürgen Moltmanns Buch Der gekreuzigte Gott (1972) die Aussage, «dass, wie das Kreuz Christi, auch Auschwitz in Gott selbst ist, nämlich hineingenommen in den Schmerz des Vaters, die Hingabe des Sohnes und die Kraft des Geistes».19 Auf dieser Linie hat Moltmann eine Szene aus Elie Wiesels Roman Nacht, in der ein jüdischer Junge durch die SS gehängt wird, unmittelbar auf das Leiden Gottes bezogen – eine Interpretation, die Metz als christliche Vereinnahmung jüdischen Leidens zurückgewiesen hat.20
Entsprechend warb Metz für eine Revitalisierung der biblischen Klage- und Anklagetraditionen und wandte sich – gemeinsam mit dem Alttestamentler Erich Zenger – gegen eine Domestizierung der Gebetssprache in der Liturgie der Kirche. In der Christologie wollte er dem Verstummen des Gekreuzigten Raum geben und forderte mehr Aufmerksamkeit für die Atmosphäre des Karsamstags. Hier hätte er das Gespräch mit George Steiner aufnehmen können, der in der Schlusspassage von Real presences (1990) bemerkt, dass wir in einer Zeit des Todes Gottes leben, der Karfreitag liege hinter uns – Ostern vor uns, ungewiss sei, ob der lange Samstag des Bangens und Wartens je ein Ende finde.21 Metz’ Notizen zu einer Karsamstagschristologie wollen eine Haltung des Wartens stärken und weisen eine Nähe zur Ästhetik der Negativität im 20. Jahrhunderts auf, wie sie in Samuel Becketts Waiting for Godot oder in den Gedichten Paul Celans paradigmatisch Ausdruck gefunden hat. Dadurch heben sie sich ab von Hans Urs von Balthasars Theologie des descensus ad inferos, der in der «Solidarität des toten Christus mit den Toten»22 die Grundlage des Heilsuniversalismus sah und nur deshalb für alle zu hoffen wagte, weil Gott selbst sich in Jesus Christus bis in die Hölle der Gottesverlassenheit begeben hat, um die Verlorenen zu retten und am Ort des definitiven Kommunikationsabbruchs neue Kommunikation zu ermöglichen. Statt die Erfahrung der Gottesfinsternis – christologisch vermittelt – auf Gott selbst zu beziehen, geht es Metz in seiner Karsamstagschristologie um die Frage nach der Rettung der Verstummten. Er wollte die «Landschaft von Schreien» (Nelly Sachs) in der Theologie hörbar machen. Der Verlassenheitsschrei Jesu dürfe durch den Osterjubel nicht vorschnell übertönt werden, ansonsten drohe die Christologie zu einem geschichtsfernen Siegermythos zu verkommen.
VII
Statt einer Mystik der geschlossenen Augen, die sich durch Praktiken der Versenkung von den Rissen der Welt fernhält, votiert Metz für eine «Mystik der offenen Augen», die sich vom Leid der anderen affizieren und zu politischem Handeln anstiften lässt. Mystik und Politik gehören für ihn zusammen, und nicht ohne Polemik gegen die Konjunktur fernöstlicher Meditationspraktiken schreibt Metz: «Buddha meditiert, Jesus schreit. Die Mystik der biblischen Tradition ist in ihrem Kern eine antlitzsuchende Mystik, keine antlitzlose Natur- bzw. kosmische Alleinheitsspiritualität.»23 Die pointierte Aussage wäre wohl missverstanden, wenn man sie als Absage an Meditation überhaupt werten würde. Aus der Stille, aus dem Gebet, aus der Betrachtung der heiligen Schrift erwächst der Impuls zur praktischen Nachfolge. In contemplatione activus – in actione contemplativus. Die wachsende Diastase zwischen Glaubens- und Lebensgeschichte, zwischen akademischer Theologie und geistlicher Biographie, die auch von anderen Theologen als Problem angesprochen wurde, wollte Metz überwinden, indem er die Gottesleidenschaft in der Nachfolge Jesu als Praxis der Compassion mit den Leidenden und Bedürftigen profilierte. In seinem Buch Zeit der Orden? hat er nicht nur vielen Ordenschristen wertvolle spirituelle Anstöße gegeben. In einem persönlichen Gespräch erzählte er einmal, wie er beim Flanieren durch die Gassen von Wien dem Blick der bettelnden Obdachlosen nicht ausweichen könne – und welch große Herausforderung es für ihn sei, der Not ins Antlitz zu schauen, ein passendes Wort zu finden und so zu helfen, dass die Würde der Hilfsbedürftigen nicht verletzt werde. In einer späten Meditation gab er der Sehnsucht nach dem Antlitz Gottes Ausdruck. Es gelte, immer tiefer in den mystischen Bund zwischen Gott und den Menschen hineinzufinden, «der schließlich in jene visio beatifica führt, in der Gott von Antlitz zu Antlitz ‹alles in allem› (vgl. 1 Kor 15,28) sein wird». Am 2. Dezember 2019 ist Johann Baptist Metz im Alter von 91 Jahren in Münster friedlich verstorben.