Weisheit des GlaubensPhilosophie und Theologie bei Clemens von Alexandrien

Abstract / DOI

On the Definition of Philosophy in the Stromateis by Clement of Alexandria. This article examines the definition and assessement of philosophy in the Stromateis by Clement of Alexandria. It discusses the great importance Clement attached to a philosophical education for Christians so that they would be capable of defending themselves against intellectual attacks by Pagan scholars. In this context, it also acknowledges Clement’s positive reinterpretation of the Sirens in Homer’s Odyssey.

Nach Emerich Coreth kommt Titus Flavius Clemens, der wahrscheinlich in Athen zwischen 140 und 150 geboren wurde, nicht weniger als das Verdienst zu, den eigentlichen Durchbruch christlichen Glaubens zu philosophischem Denken geleistet zu haben.1 Aus einer heidnischen Familie stammend, aber bald zum Christentum bekehrt, ließ Clemens sich nach ausgedehnten Reisen durch unterschiedliche Mittelmeerländer um 180 in Alexandrien als freier Lehrer nieder. Um 190 wurde er Leiter einer christlichen Glaubensschule, bis er wegen der Christenverfolgung im Jahr 202 Ägypten verließ, nach Caesarea in Kappadokien gelangte und um 215 starb.

Mehrere Schriften von Clemens sind verloren gegangen, doch seine als Einführung in das Christentum konzipierte Trilogie, die wohl zugleich als sein Hauptwerk gelten kann, ist uns nach wie vor erhalten. Sie besteht aus dem Protreptikos (Mahnrede an die Heiden), dem Paidagogos (Der Erzieher) und den Stromateis (lat. Stromata, Teppiche). Zusammen lassen sie eine überaus breite Kenntnis der griechischen Philosophie erkennen, allerdings kommt dem letzten Werk philosophiegeschichtlich innerhalb der Trilogie die wohl größte Bedeutung zu. Dabei ist der Titel Stromateis die in der Antike gängige Bezeichnung für ein ohne systematische Absicht entstandenes Sammelwerk.

Bereits Philon von Alexandrien war bestrebt, griechische Philosophie und mosaisches Gesetz in einen gelingenden Dialog zu bringen und sie aus einem einheitlichen Ursprung heraus zu deuten. Diesen Gedanken nimmt auch Clemens auf, jedoch denkt er ihn auf Christus und das Christentum hin weiter. Was das Gesetz für Juden ist, das ist die Philosophie für Heiden, nämlich Erziehung auf Christus hin.

In vorliegender Arbeit sollen Definition und Wertung der Philosophie in den Stromateis des Clemens von Alexandrien erörtert werden. Dabei wird insbesondere auch zu würdigen sein, dass Clemens großen Wert auf eine solide philosophische Bildung der Christen legte, damit sie auch imstande wären, sich gegen Angriffe heidnischer Gelehrter zu verteidigen. In diesem Zusammenhang wird ebenso auf die Verwendung der Sirenenepisode aus Homers Odyssee einzugehen sein, die durch Clemens eine positive Neudeutung erfährt.

Die Stellenangaben zum Originaltext der wörtlichen Zitate aus den Stromateis werden im Folgenden in Klammern angegeben. Auf die Stellenangaben der deutschen Übersetzung von Franz Overbeck aus dem Jahr 1936 wird in den Anmerkungen verwiesen.

1. Zur Definition der Philosophie

In den Stromateis des Clemens lässt sich eine vierfache Definition der Philosophie ausmachen.2 Vorerst bestimmt er sie als «eine Beschäftigung mit Weisheit, die Weisheit aber [als] Erkenntnis göttlicher und menschlicher Dinge und ihrer Ursachen.» (Stromata I. Cap. V. 30, 1)3 Damit wird bereits das spezifische Philosophieverständnis des Clemens deutlich. Die Philosophie wird – wie auch schon in der Stoa – als die allgemeine Wissenschaft göttlicher und menschlicher Dinge verstanden. Doch wird diese erste Definition der Philosophie zugleich durch eine weitere Aussage über dieselbe erweitert, indem Clemens sie als Erforschung der Wahrheit und des Wesens der Dinge bezeichnet. Allerdings fügt er dieser Bestimmung ein wichtiges Detail hinzu: «Wir sagen also jetzt mit dürren Worten, daß die Philosophie die Wahrheit und die Natur der Dinge untersucht, (die Wahrheit aber ist die, von welcher der Herr selbst gesagt hat: ‹Ich bin die Wahrheit›)» (Stromata I. Cap. V. 32, 4).4

Die Wahrheit, deren Erforschung die Philosophie zur Aufgabe hat, sei also genau diejenige, von der Christus im Johannesevangelium selbst sagt: «Ich bin die Wahrheit.» ( Joh 14, 6) An dieser zweiten Definition zeigt sich bereits ein fließender Übergang von der Philosophie zur Theologie und umgekehrt. «In seiner zweiten Definition begreift [Clemens] die Philosophie als die ‹Erforschung der Wahrheit› und identifiziert diese Wahrheit mit Jesus Christus, so daß sich unweigerlich die Schlußfolgerung aufdrängt: Philosophie heißt nach Clemens, den Gott Jesus Christus zu erforschen.»5

Die Stimmigkeit dieser Schlussfolgerung wird durch die erste Definition der Philosophie als allgemeine Wissenschaft «göttlicher und menschlicher Dinge und ihrer Ursachen» sogar noch unterstützt. Es lässt sich nämlich – ausgehend von beiden Bestimmungen der Philosophie – zusammenfassend sagen: «Die Philosophie ist die Wissenschaft von Jesus Christus und vom göttlichen Grund der Dinge und insofern Theologie, wie auch umgekehrt die Theologie Wissenschaft von Gott, dem Grund allen Seins und dem ‹immer seienden Wort›, nach Clemens Philosophie, ja die eigentliche und wahre Philosophie ist.»6

Gemäß dem Verständnis seiner Zeit gehören für Clemens Philosophie und Theologie zusammen, beide finden das letzte Ziel ihres Forschens in Gott, der zugleich der Grund beider ist.7 Philosophie und Theologie bilden eine Einheit, die erst in der Scholastik des Hochmittelalters methodisch und sachlich getrennt wird. Die dritte Definition der Philosophie ist sodann noch eine Ergänzung zum bisher Gesagten:

Unter Philosophie meine ich aber nicht die Stoische noch die Platonische oder die Epikureische und die Aristotelische, sondern alles, was von einer jeden dieser Schulen schön gesagt worden ist und Gerechtigkeit mit frommer Erkenntnis lehrt; die Auswahl von dem allem nenne ich Philosophie. (Stromata I. Cap. VII. 37, 6)8

Clemens möchte offenbar einen Standpunkt einnehmen, der den formal verschiedenen Philosophien, in welche sich die inhaltlich als eine zu bestimmende Philosophie unterteilt, übergeordnet ist. Es liegt ihm fern, wie die Stoiker, Platoniker, Epikureer oder Aristoteliker lediglich einer bestimmten philosophischen Richtung zu folgen; Clemens entscheidet sich vielmehr dafür, rein nach inhaltlichen Kriterien und eklektisch das ihm Zusagende aus den formal voneinander abweichenden Philosophien zu verwerten. Daraus geht sogleich hervor, dass für Clemens die Anhänger der unterschiedlichen philosophischen Richtungen lediglich Vertreter ihrer Teil-Philosophie sind, er jedoch, der die verschiedenen, jedoch mit dem Ganzen der Wahrheit letztlich doch übereinstimmenden Teile zusammenfügt, Vertreter der allgemeinen, wahren und sich auf Gott stützenden Philosophie ist, die sodann auch als Grundlage fungiert. Dem entspricht auch die vierte Definition der Philosophie:

Richtige Grundlage nennen wir […] nicht die Anleitung einer einzelnen Schulrichtung gemäß, sondern nur das, was wahrhaft Philosophie ist, die rechte Kunst der Weisheit, welche Erfahrung der Dinge im Leben gewährt, die Weisheit aber nennen wir feste Erkenntnis der göttlichen und menschlichen Dinge, ein sicheres und unerschütterliches Begreifen, welches das Gegenwärtige, das Vergangene und das Zukünftige umfaßt, und diese Weisheit hat uns gelehrt der Herr durch seine Ankunft wie durch seine Propheten. Und sie ist unerschütterlich, weil vom Logos überliefert. Daher ist sie auch ganz wahr nach dem Willen Gottes als durch den Sohn erkannt. Die eine, die Weisheit, ist ewig, die andere, die Philosophie, zeitlich nutzbringend, die eine ist ein und dieselbe, von der andern gibt es vielfache und verschiedene Abarten. Die eine bleibt fern von leidenschaftlicher Bewegung, die andere gibt es nur in Verbindung mit leidenschaftlichem Trieb. Die eine ist vollkommen, die andere mangelhaft. (Stromata VI. Cap. VII. 54, 1–3)9

In dieser vierten Definition kommt eine weitere Dimension der Philosophie zum Vorschein. Sie ist nicht nur Wissenschaft, sondern auch eine bestimmte Verhaltensweise, die nach einer unerschütterlichen Kenntnis göttlicher und menschlicher Dinge strebt, welche wiederum durch den Sohn bekanntgemacht wurde. Macht man nun diese höchste Philosophie zum Maßstab, dann müssen die anderen Wissenschaften als lediglich unvollkommen und zeitlich bedingt erscheinen. Der Philosophie ist ein ewiges, unbedingtes und unumstößliches Wissen eigen, ein Wissen, das eben deshalb unerschütterlich ist, weil es ein Wissen um Gott und alle Dinge darstellt. Und die Bedingung der Möglichkeit dieses Wissens ist der sich in Jesus Christus offenbarende Gott selber, der Urgrund allen Seins.10 Wahre, richtig verstandene Philosophie ist deshalb immer eine christliche.

2. Clemens’ Hochschätzung der Philosophie

Zur Zeit des Clemens war Alexandrien ein Schmelztiegel verschiedener Kulturen und damit auch Standort vieler divergenter religiöser und philosophischer Schulen. Clemens hatte eine umfassende griechische Bildung, bewertete diese durchaus positiv und übernahm sie in christliches Denken. Bisher, so Emerich Coreth, wurde sie von Christen gerne als heidnische Torheit verdammt, doch je

mehr nicht nur niedrige Volksschichten, sondern auch Menschen höherer Bildung zum Christentum kamen, je mehr überdies der christliche Glaube mit griechischer Philosophie konfrontiert, von ihr herausgefordert war, umso mehr mußte man ihr – schon gar in einem Bildungszentrum wie Alexandria – auf derselben Ebene philosophischen Denkens begegnen und sich mit ihr auseinandersetzen, nicht nur apologetisch, um Angriffe abzuwehren, sondern auch katechetisch, um den Glauben so darzulegen, daß er vermittelt und verbreitet werden konnte.11

Doch gerade diese Hochschätzung griechischer Philosophie wurde Clemens auch zum Vorwurf gemacht.12 Die Frage nach dem Verhältnis von Philosophie und Christentum war für ihn daher nicht nur ein theoretisches Problem, sondern auch ein praktisches, insofern er davon unmittelbar betroffen war. Es wurde der Einwand erhoben, dass der Glaube für das ewige Heil genüge, die Philosophie daher für einen Gläubigen überflüssig sei.13 Mitunter wurde sogar die These vertreten, dass die Philosophie ihren Ausgang vom Teufel genommen habe:

Die hellenische Philosophie also hat, wie manche meinen, durch Zufall irgendwie Anteil an der Wahrheit, aber in dunkler Weise und nicht an der ganzen, hat aber, wie andere wollen, ihren Anstoß vom Teufel erhalten. Einige nehmen an, gewisse herabgestiegene Kräfte hätten die ganze Philosophie eingehaucht. (Stromata I. Cap. XVI. 80, 5)14

Diesen Vorwurf, dass die Philosophie lediglich eine Erfindung des Teufels sei, weist Clemens jedoch mit Entschiedenheit ab. Die Philosophie geht auf den Willen Gottes zurück, ist deshalb gut und geleitet den Menschen zur Tugend. Clemens geht sogar so weit zu sagen, dass schlechte Menschen sich erst gar nicht mit Philosophie auseinandersetzen.15

Doch die Philosophie führt für Clemens nicht bloß zur Tugend, es kommt ihr sogar eine genuin heilsgeschichtliche Bedeutung zu. «Denn auch sie war eine Erzieherin des Hellenenvolks, wie das Gesetz den Hebräern, auf Christus. Es bereitet also die Philosophie vor, indem sie dem, der von Christus vollendet wird, den Weg bahnt.» (Stromata I. Cap. V. 28, 3)16 Die natürliche Vernunft ist gottgewollt, ja, zwischen derselben und dem Alten Testament besteht für Clemens sogar eine gewisse Parallelität, insofern beide auf Christus hinführen.17 «Es gibt also nur einen Weg der Wahrheit, aber in ihn fließen wie in einen ewigen Strom die Bäche von verschiedenen Seiten zusammen.» (Stromata I. Cap. V. 29, 1)18

Clemens bietet einen Vergleich der Geschichte der Wahrheit mit Bächen, die in der christlichen Offenbarung zusammenfinden. Den Hintergrund dieses Bildes bildet wohl die Logos-Spekulation, die sich vor allem auf den Johannesprolog ( Joh 1, 1–17) berufen kann.19

Der Logos ist die Wahrheit und Weisheit Gottes, in ihm ist die ganze Wahrheit erschienen. Die in den verschiedenen Philosophien vorhandenen Glieder der Wahrheit müssen sich in ihm wieder zu einem Ganzen sammeln, wozu aber nur der christliche Glaube fähig ist.

So hat auch sowohl die barbarische als auch die hellenistische Philosophie die ewige Wahrheit zu zerstückelten Gliedern, nicht solchen, wie in der Fabel des Dionysos, sondern zu solchen, die der Theologie des immer seienden Logos gehören, gemacht. Wer aber das Getrennte wieder zusammensetzt und den vollkommenen Logos zur Einheit bringt, wird gewiß ohne Gefahr die Wahrheit schauen. (Stromata I. Cap. XIII. 57, 6)20

3. Ist die Philosophie bei Clemens eigenständig?

Der Philosophie kommt bei Clemens ohne Zweifel ein hoher Stellenwert zu, schließlich führt sie zur Tugend und hat als Erziehung auf Christus hin sogar eine genuin heilsgeschichtliche Aufgabe, doch kann sich nach wie vor die Frage stellen, ob sie mit dem Christentum nicht doch weitgehend überflüssig geworden sei. Hat die Philosophie auch noch für bekennende Christen Bedeutung und Nutzen? Indem Clemens diese Frage entschieden bejaht, zeichnen sich bei ihm bereits erste Ansätze für eine gewisse Autonomie der Philosophie im Rahmen des Christentums ab, wodurch wissenschaftliche Theologie doch erst möglich wird.21

Man muss sich nur einmal die Frage stellen, wodurch der Christ denn eigentlich in die Lage versetzt wird, seinen Glauben vor der Vernunft auch zu verantworten. Erst durch die Philosophie wird er dazu imstande sein. Zur Weisheit des Glaubens muss die Einsicht der Philosophie hinzukommen, damit der Christ seinen Glauben auch zu verteidigen vermag:

So sagt denn auch Salomo: ‹Die Weisheit umhege! Und sie wird über alle Höhen erheben, mit einem Kranze des Schwelgens aber dich beschirmen.› Denn wenn du sie mit einer Mauer umhegt hast durch Philosophie und rechten Aufwand, so wirst du sie den Sophisten unzugänglich machen. (Stromata I. Cap. V. 28, 4)22

Die Philosophie ist eine Schule für das Denken, sie lehrt zu differenzieren und zu forschen, Untersuchungen und Erklärungen anzustellen, tiefgehend zu verstehen und Wahres und Falsches angemessen einzustufen.23 Die Philosophie lehrt Argumentieren. In einem solchen Verständnis geht die Philosophie, sofern sie richtig betrieben wird, nicht einfachhin restlos in das Christentum ein. Sie erschöpft sich nicht im christlichen Glauben oder wird von diesem schlicht überboten. Sie wird hier vielmehr zu einem Faktor, der mit dem christlichen Glauben gleichsam kooperiert. Die Philosophie und das Christentum, Glaube und Wissen sind für Clemens auf Gott zurückzuführen, ja, die Vereinbarkeit beider sieht er erst von Gott her gewährleistet. Offenbar plädiert Clemens für eine gewisse Eigenständigkeit der Philosophie innerhalb des Christentums, was umso erstaunlicher ist, wenn man bedenkt, dass das «Neuheitserlebnis des Christentums wie überhaupt die grundsätzliche Haltung des Christentums als eines neuen Lebensstils […] es von selbst mit sich [brachten], daß dieser Glaube gegenüber dem Wissen so sehr überbewertet wurde, daß er es zu absorbieren drohte.»24

Nach Clemens aber dürfe man die Einsichten der griechischen Philosophen eben nicht vorschnell als etwas für den christlichen Glauben Unannehmbares ansehen. Gleichwohl ist dem Glauben das Potenzial eigen, die in der Philosophie vorhandenen Teilwahrheiten zusammenzufassen. Der Glaube ist – verglichen mit den Einsichten der Philosophie – eine Vorwegnahme (prolepsis) von Wahrheiten, zu denen die reine Vernunft noch keinen Zugang gefunden hat. Auf diese Weise kann der Glaube zu einem Licht werden, das die Vernunft zu weiterer Einsicht geleitet.

Ja selbst Epikur, der namentlich die Lust höher schätzte als die Wahrheit, nimmt an, der Glaube sei ein Vorurteil der Gesinnung, das Vorurteil aber erklärt er für eine Richtung auf das Evidente und auf die evidente Vorstellung von der Sache. Es vermöge aber niemand weder zu forschen noch zu zweifeln oder zu vermuten, ja nicht einmal zu beweisen ohne Vorurteil. (Stromata II. Cap. IV. 16, 3)25

Das Verständnis des Glaubens als eines freiwillig angenommenen Vorbegriffs impliziert, dass besagter Glaube für Clemens kein Endpunkt, sondern vielmehr die conditio sine qua non für die Einsicht in den Glauben ist. Die Einsicht in den Glauben ist mit dem Glauben selbst freilich nicht identisch. Man könnte hier geradezu an eine Vorwegnahme des späteren «credo ut intelligam» denken. Durch die Erkenntnis des Glaubens wird der Glaube selbst zur Vollendung geführt. Und indem der Mensch seinen Glauben denkend durchdringt, wird er nach Clemens zu wahrer Gnosis geführt.26

Die Gnosis ist ja sozusagen eine Vollendung des Menschen als Menschen […]. Durch sie wird der Glaube vollendet, da durch sie der Gläubige allein vollendet wird. Der Glaube nun ist ein im Innern niedergelegtes Gut; auch ohne Gott zu suchen bekennt er, daß er ist, und lobpreist ihn als den Seienden. Daher soll man von diesem Glauben ausgehend und durch die Gnade Gottes in ihm vermehrt die Erkenntnis von Gott, soweit es möglich ist, erlangen. (Stromata VII. Cap. X. 55, 1–3)27

Der wahre Gnostiker ist zugleich der vollkommene Gläubige. So wie das Christentum die wahre Philosophie darstellt, so ist der christliche Glaube unverzichtbarer Ausgangspunkt der wahren Gnosis. Im Unterschied zum häretischen Gnostiker weiß sich der wahre Gnostiker im Besitz wahrer Erkenntnisse, die er durch die denkerische Durchdringung seines Glaubens, zu dem man sich in Freiheit entschließen muss, erlangt hat. Die Furcht vor der griechischen Philosophie zeugt demgegenüber von mangelndem Glauben. Um den Nutzen der griechischen Wissenschaften für die Christen zu veranschaulichen, rekurriert Clemens im VI. Buch der Stromateis auf das Sirenenmotiv:

Aber die meisten, wie es scheint, von denen, die mit dem Christennamen bezeichnet sind, machen sich wie die Genossen des Odysseus ohne feineres Empfinden an die Wissenschaft heran und obwohl sie nicht an den Sirenen, sondern am Rhythmus und am Gesang vorbeigehen, verstopfen sie sich aus Unwissenheit die Ohren, weil sie wissen, daß sie, wenn sie einmal den hellenischen Wissenschaften Gehör geliehen haben, später nicht mehr imstande sein werden, wieder heimzukehren. Wer aber das Nützliche zum Besten der Katechumenen, zumal wenn sie Hellenen sind, pflückt, (‹des Herrn aber ist die Erde und was sie erfüllt›), der braucht sich nicht mehr vom Eifer für die Wissenschaften fernzuhalten nach Art der wilden Tiere, sondern so viele Hilfsmittel als möglich muß er für die Hörer entlehnen. Aber man muß keineswegs sich dabei länger aufhalten als soweit der Nutzen daraus reicht, sodaß man imstande ist, wenn man dies genommen hat und nun besitzt, nachhause zu gehen zur wahren Philosophie, einem festen Halt für die Seele, welcher Sicherheit vor allen Dingen gewährt. (Stromata VI. Cap. XI. 89, 1–3)28

Hier korrespondiert der Gesang der Sirenen mit der griechischen Bildung. Der wohlklingenden, melodischen Weisheit derselben verschließen die Christen nur zu oft ihre Ohren, und sie gleichen damit in ihrem Verhalten den Gefährten des Odysseus, «deren Ohren mit Wachs verstopft waren.»29 «Clemens identifiziert das Verstopfen der Ohren mit Wachs mit Lernunwilligkeit und polemisiert damit zugleich gegen die Abschottungshaltung vieler seiner Mitchristen, die gegenüber der griechischen Wissenschaft prinzipielle Vorbehalte anmeldeten.»30

Ihnen entgeht damit jedoch die Schönheit der griechischen Wissenschaft, die dem wahren, unerschütterlich an der «Wahrheit des Logos» hängenden und fest in seinem Glauben stehenden Gnostiker nicht zur Gefahr werden kann.31 Unter der Hand und mit etwas Phantasie kommt hier sodann auch das in zitierter Passage gar nicht ausdrücklich angesprochene Bild vom Mastbaum ins Spiel, denn das «mythische Pendant zur unbesiegbaren Wahrheit des Logos ist […] die Fesselung an den Mastbaum, vermöge deren allein es dem Christ gelingen kann, die Sirenen zu hören, ohne Schaden zu nehmen. Festigkeit bedeutet Bindung.»32

4. Philosophie im Dienste des Glaubens

Nun sollen einige bedeutende Aspekte der Philosophie nochmals explizit hervorgehoben werden, die sich in den Stromateis des Clemens finden lassen und in denen die spezifische Wertung der philosophischen Wissenschaft besonders gut zum Ausdruck kommt.

Es wurde bereits gesagt, dass die Philosophie das Denken schult, zu differenzieren und wirklich zu verstehen lehrt und hilft, Wahres und Falsches richtig einzustufen. Was hierbei aber nicht außer Acht gelassen werden darf ist eine Implikation all dessen, dass nämlich die Philosophie auch eine Schule dafür ist, gemäß der Erkenntnis und wahrhaft zu leben. Sie ist eine Aufgabe des Menschen, die sein ganzes Leben umfasst und in Anspruch nimmt, sie verbleibt nicht bloß im Feld der reinen Theorie, sondern ist wesentlich ein Lebensentwurf:

Schön also schreibt auch Epikur an Menoikeus: ‹Möge niemand als Jüngling zu philosophieren zögern, noch möge jemand als Greis darin ermüden. Denn niemand ist weder unreif noch überreif um in der Seele gesund zu werden. Wer aber sagt, es sei noch nicht die Zeit zu philosophieren, oder sie sei schon vergangen, ist dem ähnlich, welcher sagt, zur Glückseligkeit sei entweder die Zeit noch nicht da, oder die Zeit sei nicht mehr da. Daher soll der Jüngere sowohl wie der Greis philosophieren, jener, damit er als Greis jung sei für das Gute, um des Gefallens willen an den geschehenen Dingen, dieser aber, damit er jung und alt zugleich sei um der Furchtlosigkeit willen gegen die Zukunft. (Stromata IV. Cap. VIII. 69, 2–4)33

Dass Clemens die Philosophie als Vorbereitung auf die innere Aufnahme des Evangeliums und als Dienerin des Glaubens begreift, soll die Wertschätzung und Achtung, die er für sie empfindet, freilich nicht schmälern. Gerade dadurch, dass die Philosophie dem Glauben an Gott förderlich ist, wird ihr die höchste Referenz zuteil. Es gibt nämlich für Clemens nichts Höheres als dem christlichen Glauben dienstbar zu sein. Sie ist ihm dienstbar, indem sie für einen wahrhaft begründeten und reflektierten Glauben unverzichtbar bleibt, indem sie «die Inhalte des Glaubens denkend und in ihrem inneren Zusammenhang [entfaltet].»34 Sie ist nicht «verwerflich», «sondern muß als Stufe und Schritt zur vollständigen Erkenntnis des Logos im christlichen Glauben begriffen werden. Sie zu übergehen wäre roh und schadete dem Glauben mehr, als es nützte.»35

Zur Veranschaulichung des Verhältnisses zwischen Philosophie und christlichem Glauben greift Clemens auf das Verhältnis zwischen Hagar und Sara in Gen 16–18 zurück, um einerseits den Dienstcharakter, andererseits aber auch die Unverzichtbarkeit der Philosophie für das fruchtbare Aufkeimen des Glaubens anhand eines biblischen Beispiels zu untermauern.36 Während Hagar für die Philosophie steht, repräsentiert Sara den Glauben. Die Philosophie hat dem Glauben dienstbar zu sein, wie auch Hagar Magd für ihre Herrin Sara bleiben muss. «[D]och wie Abraham auf den Vorschlag Saras hin zuerst zu Hagar gehen mußte, bis daß Sara fruchtbar wurde, so muß man sich auch erst der griechischen Philosophie anheimstellen, auf daß der Glaube in einem aufkeime und die göttliche Weisheit wirklich Früchte zeitigen könne.»37 Die Beschäftigung mit Philosophie ist nicht zuletzt für eine verständige Auslegung der Hl. Schrift unabdingbar, für welche die Philosophie eine Anleitung bietet. Sie stellt gleichsam den Schlüssel für den tieferen Sinn der Hl. Schrift dar.38

Es bleibt jedenfalls zu beachten, dass die von Clemens stets betonte Werthaftigkeit der Philosophie nicht einfachhin aus ihr selbst kommt, ihre geistige Größe hat sie vielmehr nur von Gott. Ihr Verständnis als ein Geschenk Gottes bewahrt freilich vor dem mitunter folgenschweren Irrtum, sie könne vom Bösen und der Schlechtigkeit abstammen.

Es ist […] die Philosophie, weil sie treffliche Menschen hervorbringt, kein Werk der Bosheit; also bleibt nur übrig, daß sie von Gott ist, dessen Werk allein das Gutestun ist, und alles von Gott Gegebene ist gut gegeben und empfangen. Ja, auch der Gebrauch der Philosophie ist keine Sache der Bösen, sondern sie ist den Besten unter den Hellenen gegeben worden. Auch hieraus wird klar, woher sie geschenkt ist, nämlich von der Vorsehung, welche jedem das zuteilt, was er verdient. (Stromata VI. Cap. XVII. 159, 6–8)39

Da Clemens die Philosophie als ein Werk der göttlichen Vorsehung betrachtet, wird ihr ein Platz im Heilsplan zuteil, ja, im Anschluss an Platons Timaios bezeichnet Clemens die Philosophie sogar als das größte Gut, das die Menschen je von den Göttern erhalten haben.40 Und sie ist deshalb das größte Gut, weil sie ein wahrhaftes Verstehen der göttlichen Lehre evoziert und den Glauben zu fördern vermag. Clemens ist also zu zeigen bemüht,

daß die Philosophie […] das menschliche Leben nicht verdirbt als Erzeugerin falscher Dinge und schlechter Werke, wie sie manche gescholten haben, obwohl sie ein deutliches Abbild der Wahrheit ist, ein göttliches den Hellenen verliehenes Geschenk, und daß sie uns auch nicht vom Glauben abzieht – so daß sie uns durch gewisse Trugkünste bezauberte – sondern uns geradezu, indem wir von einer noch stärkeren Schutzmauer Gebrauch machen, gewissermaßen einen unterstützenden Beweis des Glaubens verschafft. (Stromata I. Cap. II. 20, 1–2)41

Wenn Clemens die Philosophie als ein von Gott den Griechen verliehenes Geschenk betrachtet, erscheint sie in einer gewissen Parallelität zum mosaischen Gesetz. Denn wie das an die Juden ergangene Geschenk des Gesetzes den Bund mit Gott begründet hat, so repräsentiert die Philosophie den Bund Gottes mit den Griechen. Der Ruf Gottes ist an Juden wie Griechen ergangen, mit beiden hat Gott einen Bund geschlossen.42

Damit wird der Philosophie ein Platz im göttlichen Heilsplan zuteil und scheint sogar gleichberechtigt neben dem mosaischen Gesetz zu stehen, insofern beides auf je unterschiedliche Weise auf die Offenbarung in Jesus Christus vorbereiten soll.43 Sowohl das Gesetz als auch die Philosophie werden durch den neuen und endgültigen Bund, den Christus mit allen Menschen schließt, endgültig erfüllt. Die Offenbarung Christi ist folglich das einigende Band zwischen mosaischem Gesetz und griechischer Philosophie und es wird deutlich, «daß derselbe Gott der Geber beider Testamente ist, der auch den Hellenen die hellenische Philosophie gab, durch welche der Allmächtige bei den Hellenen gepriesen wird.» (Stromata, VI. Cap. V. 42, 1)44 An diesem Punkt stellt sich unweigerlich die Frage, ob die Philosophie in der alten Kirche wohl je eine höhere Anerkennung als diese erfahren hat.45

5. Die Philosophie im Widerstreit mit der Sophistik

Der Philosophie als das an die Griechen ergangene Geschenk Gottes geht es wesentlich um Gott und das Wesen der Dinge.46 Diese Bestimmung impliziert für Clemens bereits eine kritische Stellungnahme gegenüber jeglicher Sophistik, denn, so Feulner,

der Philosoph erscheint [sogar] als das Gegenstück des Sophisten schlechthin, des Sophisten, d.h. im Sinne des Clemens des oberflächlichen unseriösen Weisheitslehrers, der jedem für Geld die Kunst, spitzfindig zu denken und zu sprechen und oberflächliche Allgemeinbildung und Beredsamkeit lehrt, dem es mehr um äußeren Schein und Erfolg als um tiefgreifende Erkenntnis geht und der die Menschen mit seinen Phrasen und Trugschlüssen, ohne Interesse an der Wahrheit und dem Wesen der Dinge, lediglich psychologisch in Staunen und Verwirrung versetzen will.47

Die Sophisten, zu denen ganz unterschiedliche Gruppierungen wie ungläubige, gegen das Christentum polemisierende Heiden, lügende und betrügende Häretiker, Skeptiker und Hedonisten gehören – diese Sophisten entstellen die Weisheit und die Wesenhaftigkeit der Dinge.48 Die Sophistik ist eine einzige Provokation der wahren Philosophie, von der sie als bloß vermeintliche Philosophie weit entfernt ist.49 «Die Künste der […] Sophistik aber soll man ganz abweisen, da das Gerede der Sophisten selbst nicht bloß die Menge betört, hintergeht, sondern bisweilen auch Gewalt anwendet […]». (Stromata I. Cap. X. 47, 2)50 Dies freilich macht es erforderlich, die wahre Philosophie von der Sophistik klar zu unterscheiden, damit einerseits der wahrhaft wertvolle Gehalt der ersteren erfasst werden kann, andererseits die Hintergehungen und Täuschungen der Sophisten auch vollends zur Geltung kommen. Werden Philosophie und Sophistik derart gegenübergestellt, wird sich auch die feste und beständige Ausrichtung des wahren Philosophen zeigen, nämlich sein Streben nach der Erkenntnis Gottes und der Wesenhaftigkeit aller Dinge, während sich die vorgebliche Kunst der Sophisten in ihrer Bedeutungslosigkeit offenbaren wird, denn von «ihnen und ähnlichen Leuten, welche mit leeren Worten sich beschäftigen, sagt die göttliche Schrift sehr gut: ‹Ich werde die Weisheit der Weisen verderben und den Verstand der Verständigen vereiteln.›» (Stromata I. Cap. III. 24, 4)51

6. Die Philosophie im Besitz des Christentums

Clemens zufolge hat Moses, in gewisser Weise der Ahnherr aller Philosophen, schon lange vor den großen griechischen Weisen gelehrt, sodass diese von ihm gelernt und abgeschrieben haben müssen.52 Daher ist das Gesamt der griechischen Philosophie auch eigentlich christliches Eigentum.53

Insofern mögen die Philosophen bei den Hellenen ‹Diebe und Räuber› sein, als sie auch vor der Erscheinung des Herrn von den Propheten der Hebräer Teile der Wahrheit, ohne volles Erkennen, entlehnten, sondern sie sich aneigneten, als wären es ihre Lehrsätze, indem sie sie bald entstellten, bald auch in unnützer Weise ohne Verständnis ausführten, bald aber auch selbst fanden, denn sie mögen auch den ‹Geist der Empfindung› gehabt haben. (Stromata I. Cap. XVII. 87, 2)54

Die zitierte Stelle aus den Stromateis mag wohl eine gewisse Abkehr von der gewohnten positiven Betrachtungsweise der Philosophie suggerieren, doch bleibt Clemens seiner in hohem Maße anerkennenden Wertung der Philosophie treu und entlarvt den vermeintlichen Diebstahl der Hellenen als ein Werk und eine Vorkehrung der göttlichen Vorsehung.55 Dies – so Clemens – ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass sich die griechischen Philosophen des Plagiats schuldig machten, indem sie von anderen übernommene Lehren als ihr eigenes Gedankengut ausgaben, denn es «tut Unrecht, wer sich aneignet, was den Barbaren gehört, und sich dessen wie seines Eigentums rühmt, indem er seinen Ruhm mehrt und die Wahrheit vorspiegelt.» (Stromata I. Cap. XX. 100, 4)56

Doch sind und bleiben das mosaische Gesetz und die griechische Philosophie die wahrhaft heilbringenden Geschenke Gottes an die Menschen.57 Zusammengenommen öffnen sie das Tor zur vollkommenen Wahrheit in Christus. Die unumgängliche Bedingung für die Erkenntnis der sich in Christus offenbarenden Wahrheit ist folglich die Synthese aus alttestamentlichem Gesetz und griechischer Philosophie.58 Die heilsgeschichtliche Bedeutung der Philosophie tritt bei Clemens explizit zutage.

7. Schlussbemerkung

Es steht außer Frage, dass die Philosophie bei Clemens eine große Rolle spielt und spezifisch christliche Themen philosophisch interpretiert werden. Clemens war – wie schon Justin vor ihm – bemüht, die christliche Religion als die wahre Philosophie darzustellen. Zugleich war er davon überzeugt, dass Christen eine gründliche wissenschaftliche Bildung benötigten, damit sie sich gegen Angriffe heidnischer Gelehrter auch verteidigen könnten, wofür freilich das sorgfältige Studium der Philosophie grundlegend und unerlässlich war. Für Richard Heinzmann war er «der erste, der das Fundament für eine selbständige christliche Wissenschaft legte.»59 Freilich, angesichts der in der europäischen Neuzeit faktisch eingetretenen Polarisierung von Glauben und Wissen scheint eine Synthese aus griechischer Metaphysik und christlichem Glauben nicht mehr möglich zu sein. Doch ist damit der von Clemens geleistete Durchbruch christlichen Glaubens zu philosophischem Denken mitnichten überholt. Gott – so vielleicht lässt sich das zentrale Anliegen des Clemens auf den Punkt bringen – will nichts Unvernünftiges, nichts gegen die Vernunft. Deswegen auch konnte sich das Christentum mit der griechischen Philosophie verbinden. Dies war ein notwendiger Schritt zur vernünftigen Darstellung des Christentums in der damaligen Welt. Es präsentierte sich als allgemeine Wahrheit und verbündete sich somit zugleich mit der besten Denkweise, die es damals gab, der griechischen Philosophie. Weil sich das Christentum vernünftig artikulieren muss, hat die Verbindung mit griechischer Philosophie geradezu Modellcharakter. Die Philosophie des Clemens kann dann eine Einladung zu einem wahrhaft vernünftigen Dialog über das sein, was Glaube ist. Darin liegt ihre bleibende Aktualität.

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