Der ist kein Liebender, der nicht ewig liebt.
Euripides
Die Vorstellung ist verbreitet, die Kirchenväter hätten vor allem die Denkangebote der hellenistischen Philosophie aufgegriffen, die Mythen der Dichter aber schroff abgelehnt. Die Mythen von allzu menschlichen Göttern wurden bekanntlich schon durch die Vorsokratiker, dann aber auch durch Platon und Aristoteles kritisiert. Xenophanes meinte: «Wenn die Ochsen und Rosse und Löwen Hände hätten oder malen könnten mit ihren Händen und Werke bilden wie die Menschen, so würden die Rosse rossähnliche, die Ochsen ochsenähnliche Göttergestalten malen und solche Körper bilden …»1 Platon radikalisiert die Kritik an anthropomorphen Göttervorstellungen, indem er dem göttlichen Einen die Attribute der Einheit, Gutheit, Vollkommenheit und Unveränderlichkeit zuschreibt. Philo von Alexandrien, der den philosophisch gereinigten Gottesbegriff rezipiert, wirbt entsprechend für eine allegorische Deutung der anthropomorphen Aussagen in der Bibel: «Gott ist nicht wie ein Mensch» (Num 23, 19 LXX). Die biblische Rede von seinem Gesicht, seinem Atem, seinen Händen, seinem Rücken dürften nicht wörtlich verstanden werden. Auch die Kirchenväter lassen sich von den Standards der philosophischen Gotteslehre beeinflussen. Sie teilen die Kritik am mythischen Götter-Pantheon der Dichter und bringen den biblischen Monotheismus mit dem philosophischen Begriff des göttlichen Einen in Verbindung.
I
Das Bild von einer gemeinsamen Koalition zwischen der Theologie der Kirchenväter und der griechischen Philosophie gegen die Mythen der Dichter ist dennoch unvollständig und ergänzungsbedürftig. Denn es gibt sehr wohl einzelne mythische Motive, mit denen sich die frühe christliche Theologie konstruktiv auseinandergesetzt hat, wie nicht zuletzt der Innsbrucker Patrologe Hugo Rahner (1900–1968) in vielen seiner Arbeiten eindrücklich gezeigt hat. In den Epen Homers, aber auch bei den griechischen Tragödiendichtern fanden sie bemerkenswerte Anknüpfungspunkte, die sie für die Übersetzung des christlichen Glaubens in den griechischen Kultur- und Denkhorizont nutzten. Im zwölften Gesang der Odyssee etwa findet sich die berühmte Szene, in der sich Odysseus auf einen Wink der Göttin Kirke hin an den Mast des Schiffes binden lässt und die Ohren seiner Gefährten mit Wachs verstopft, um dem verführerischen Gesang der Sirenen nicht zu erliegen. In dieser klugen Vorsichtsmaßnahme konnten die frühen Christen ein Modell für die christliche Haltung zur Welt entdecken. Gläubige, die mit der griechischen Kultur vertraut waren, bezogen den an den Mast gebundenen Odysseus auf den Gekreuzigten; im Sinne der Nachfolge versuchten sie, sich mit Jesus Christus freiwillig an den Balken des Kreuzes zu binden, um die Gefährdungen im Meer der Welt zu umschiffen. Die Kreisbewegung der Odyssee wurde in dieser christlichen Neudeutung allerdings aufgesprengt. Anders als der Heimkehrer Odysseus, der sich auf seinen Irrfahrten nach dem Herd der irdischen Heimat sehnt und am Ende zum Ausgangspunkt seiner Reise zurückfindet, geht es dem christlichen Pilger nicht um ein irdisches Reiseziel, sondern um das himmlische Vaterland (vgl. Phil 3, 20; Hebr 13, 14; Diognetbrief ). Die Schifffahrt des Lebens hat in der neuen Lesart des Glaubens einen eschatologischen Fluchtpunkt und ist auf den Hafen des Heils – den portus salutis – ausgerichtet.2
II
Mehr noch als der Vergleich mit Odysseus, der sich an den Mast des Schiffes binden lässt, um den Lockungen der Sirenen zu entrinnen, gibt es in den griechischen Tragödien bei Sophokles, Aischylos und Euripides Vorstufen zum Verständnis des Kreuzes. Gemeint ist der freiwillige Opfertod eines Einzelnen, der für das Vaterland stirbt oder das Leben eines Freundes durch selbstlosen Einsatz rettet. Neben Inszenierungen von Rache und Vergeltung, in denen sich – wie bei Medea, Phaidra oder Elektra – das angestaute Leid auf wüste und erschreckende Weise entlädt, gibt es eindringliche Darstellungen der freiwilligen Selbsthingabe, die von der frühen Alkestis bis zur späten Iphigenie von Aulis reichen. Dabei rückt bei Euripides mehr und mehr der seelische Prozess in den Blick, den seine Figuren durchlaufen, wenn sie das von außen verfügte Leid auch innerlich annehmen. Man kann daher mit Hans Urs von Balthasar die Frage aufwerfen, ob für die Kirchenväter das Gespräch mit den griechischen Tragikern nicht mindestens so aussichtsreich und fruchtbar hätte geführt werden können wie das mit den unterschiedlichen Schulen der hellenistischen Philosophie.
Um das Potential dieses weithin versäumten Gesprächs zu illustrieren, sei hier auf das Werk des Euripides eingegangen. Anders als Aischylos und Sophokles, denen weithin ein positives Verhältnis zum Mythos und zu den Göttern nachgesagt wird, kommt es bei Euripides zu Brechungen und zu Kritik am mythischen Götterpantheon. Das hat bereits in der Antike zu unterschiedlichen Einschätzungen geführt. Aristophanes hat in seiner Komödie Die Frösche dem Euripides ein eher ambivalentes Denkmal gesetzt. Er inszeniert dort einen Wettstreit um den Ehrensitz des besten Tragikers, in dem er Euripides gegen Aischylos unterliegen lässt. Anders fällt das Urteil des Aristoteles aus, der Euripides in seiner Poetik als den «tragischsten unter den Dichtern» würdigt.3 In der Literatur hat man Euripides wiederholt ‹Modernismus› und ‹Rationalismus› vorgeworfen, um sein gebrochenes Verhältnis zum Mythos und zu den Göttern zu kennzeichnen. Doch bei solchen Kennzeichnungen ist Vorsicht geboten, sie entpuppen sich leicht als anachronistische Rückprojektionen. Schon Goethe hat gegen August Wilhelm Schlegel, der Euripides für den Verfall der griechischen Tragödie verantwortlich gemacht hatte, darauf verwiesen, dass der Niedergang einer Gattung nicht einem Einzelnen aufgebürdet werden könne, dass hier vielmehr vielfältige Faktoren zusammenkommen müssen. Außerdem sei die Zeit des Euripides eine große Epoche gewesen, manche seiner Stücke seien denen des Sophokles vorzuziehen.4 «Wenn ein moderner Mensch wie Schlegel an einem so großen Alten Fehler zu rügen hätte, so sollte es billig nicht anders geschehen als auf den Knien.»5 Das Lob Goethes hat freilich auch Nietzsche nicht davon abgehalten, Euripides als Totengräber der griechischen Tragödie zu tadeln. Der Rationalismus und «ästhetische Sokratismus»6 in den Stücken des Euripides habe das Dionysische gezähmt, heißt es in der Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik. Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Karl Reinhardt und Wolfgang Schadewaldt – um nur diese zu nennen – haben Nietzsches Urteil als Fehleinschätzung zurückgewiesen, die auf das Konto seiner Lebensphilosophie gehe. Bei Euripides lassen sich, darin ist man sich bei allem Disput einig, im Vergleich zu Aischylos und Sophokles Verschiebungen registrieren. Auf der einen Seite finden sich Spuren der vorsokratischen Kritik an den Göttermythen, auf der anderen Seite gibt es nach wie vor die Hintergrundstrahlung des Göttlichen, ohne die es Tragödien gar nicht geben kann.7 Zugleich sind die Stücke von Euripides nach einem treffenden Wort von Karl Reinhardt ein «Barometer der Krise». Sie lassen eine feine Witterung für die Pathologien der athenischen Polis erkennen. Die Pest um 430 v. Chr., der Peloponnesische Krieg, aber auch das Denken der Sophistik setzen der überkommenen Gestalt von Religion und Moral zu. Das spielt in die Stücke des Euripides hinein. Hans Urs von Balthasar fragt: «Wie sollte der Riss, der durch die Zeit geht, nicht auch sein Werk spalten, aber könnte nicht eben dieser Riss, der Inhalt und Form bedroht, die letzte notwendige Gestalt des Tragischen verbürgen?»8
III
In seinem frühen Stück Alkestis, das 438 v. Chr. erstmals aufgeführt wurde, werden zwei Motive aufgenommen und dichterisch verarbeitet: einerseits das stellvertretende Sterben eines Menschen für einen anderen und andererseits die Befreiung eines Toten aus den Fesseln der Unterwelt. Admet, der König von Thessalien, soll sterben. So haben es die Moiren, welche die Lebensfäden der Menschen weben, bestimmt. Doch durch eine List Apollons, der die Schicksalsgöttinnen umstimmt, kann sein Tod noch einmal aufgeschoben werden – allerdings nur, wenn ein anderer bereit ist, an seiner Stelle zu sterben. Ein Stellvertreter ist gefragt. Die Eltern des Königs, obwohl schon betagt, weigern sich, für ihren Sohn einzuspringen; auch unter den Freunden ist niemand bereit. Nur seine junge Gattin Alkestis tut, was alle andern zu tun sich weigern. Ihr ist das Leben ihres Mannes wichtiger als das eigene. In ihrem letzten Gespräch mit Admet legt sie ihre Motive offen:
Weil du mir höher stehst und dieses Licht
Statt meiner Seele länger schauen sollst,
Sterb ich für dich, obwohl ich leben kann […]
Ich will kein weitres Leben ohne dich,
Mit Waisenkindern…9
Allerdings hat Alkestis den Wunsch, dass ihr Mann ohne weitere Frau bleiben möge. Er willigt ein: «[…] hab keine Angst, du bist / In Tod und Leben einzig meine Frau» (V. 328f ). Er trauert – und wünscht sich, er habe die Macht, die Tote aus dem Reich des Hades zurückzuholen: «Hätt ich des Orpheus süßen Liedermund, / Ich stiege nieder, selbst wenn Plutos Hund, / Wenn Charons Kahn, der nur die Toten fährt, / Es wehrte»(V. 356–362). Das kühne Wagnis des Orpheus, seiner Gattin Eurydike in den Hades zu folgen, um sie aus der Unterwelt zu befreien, ist von manchen Kirchenvätern auf Christus bezogen worden. Dieser sei der «wahre Orpheus»10, der durch den Abstieg zu den Toten die Gerechten des Alten Bundes aus der Scheol befreit habe. Hier bei Euripides wird der Topos der todüberwindenden Macht von Dichtung und Musik aufgerufen, zugleich aber lässt er Admet seine Ohnmacht beklagen, nicht über die Kunst des Gesangs und des Lyraspiels zu verfügen. Die Trauer über den Verlust der Alkestis wird noch kunstvoll gesteigert, indem Euripides die Klage des kleinen Eumelos einflicht, der wie seine Schwester nun ohne Mutter zurückbleibt. An der Figur der Alkestis aber wird die Wandlung vom victim zum sacrifice deutlich, wenn sie den Akt der Stellvertretung annimmt, nachdem sie bereits einige Jahre mit ihrem Gatten gelebt hat.
Als wenig später Herakles zum Tor des Palastes kommt, verschweigt der König dem Gast den Tod der Alkestis und tut so, als ob er lediglich um eine fremde Frau trauere. Der Held betritt das Trauerhaus am Unglückstag, und hier bekommt das Spiel satyrhafte Züge. Er tafelt, zecht und poltert. Erst als ein Diener dem lauten Herakles vom Geschick der Alkestis erzählt, ist dieser betroffen. Aus Mitgefühl mit dem Gastgeber und dem tragischen Geschick der Verstorbenen wagt er umgehend das Äußerste. Er versteckt sich am Grab der Alkestis und lauert Thanatos auf. Als dieser erscheint, um Alkestis zu holen, jagt er dem Tod in einem dramatischen Ringkampf seine Beute wieder ab – Mors et vita duello…11 Dann bringt er Alkestis, zunächst noch verschleiert, zu Admet zurück. Dieser, der soeben noch versprochen hatte, keine Frau mehr in sein Haus aufzunehmen, geschweige denn zu berühren, will die Verschleierte nicht beherbergen, aber er fühlt sich doch zugleich ganz seltsam angezogen von ihr. Diese delikate Spannung bringt Euripides ins Wort, bevor Admet nach dem Weggang des Herakles merkt, wer die Frau ist, die dieser ihm zurückgelassen hat.
Eine andere Version der Geschichte, von der Platon im Symposium auszugehen scheint, erzählt, dass Proserpina, die Göttin der Unterwelt, vom Selbstopfer der Alkestis so gerührt gewesen sei, dass sie die Tote aus den Fesseln der Unterwelt wieder freigegeben habe und zu ihrem geliebten Mann zurückgehen ließ:
«Und die Tat, die sie [Alkestis] vollbracht hatte, schien nicht nur den Menschen, sondern auch den Göttern überaus edel; denn wenngleich die Götter von den vielen, die edelmütig handelten, nur einigen wenigen dies zum Lohn gewährten, dass sie aus dem Hades ihre Seele entließen: ihre Seele entließen sie voll Bewunderung für ihre Tat» (Symp 179 c).12
Beide Motivstränge werden im Stoff der Alkestis noch nicht wirklich zusammengeführt: «die Lebensrettung durch den stellvertretenden Liebestod und der mythische Heldenkampf mit dem Tod, dem seine Beute entrissen wird: Sieg über den Tod durch reine Passion und höchste Aktion: erst in Christus werden die beiden Motive nahtlos zusammenfallen»13, notiert Hans Urs von Balthasar in seiner theologischen Ästhetik.
IV
Zur Kunst des Euripides gehört es, neben dem Ablauf des Geschehens die Frage mitlaufen zu lassen, wie sich die Figuren zum Geschehen verhalten. Bleiben sie rein passiv und sind gewissermaßen nichts als Marionetten der Moiren – oder verändern sie sich, indem sie innerlich auf das beziehen, was geschieht? Der Stoff der Alkestis wirft ja die Frage auf: Wie kann Admet es zulassen, dass seine Frau für ihn in den Tod geht – und dennoch weiterleben? Euripides beantwortet diese Frage, indem er Admet einen dramatischen Wandlungsprozess durchlaufen lässt. Zunächst hält dieser in fast narzisstischer Selbstbezogenheit daran fest, dass er und sein Leben wichtiger ist als das aller anderen. Seinem Vater Pheres wirft er vor, an seinem Leben feige festgehalten zu haben: «Wo blieb dein Mitleid, als der Tod mich rief?» (V. 633). Dramaturgisch raffiniert lässt Euripides das Zwiegespräch zwischen Vater und Sohn vor dem Leichenzug stattfinden, der gerade aufgebrochen ist, die tote Alkestis zu bestatten. Der Zug hält an und wird nun Zeuge des Rede-Agons der beiden. Dabei lässt Pheres den zornigen Vorwurf seines Sohnes nicht auf sich sitzen: «Du selbst hast schamlos deinen Tod verjagt / Und lebst noch über die bestimmte Frist / Auf ihre Kosten!» (V. 694–696). Pheres hält seinem Sohn vor, selbst der «Mörder» seiner Frau zu sein. Der Vorwurf der Feigheit, den er seinen Eltern mache, falle auf ihn selbst zurück, da er es ja gescheut habe, den Tod selbst auf sich zu nehmen. Auch wenn Admet seinen Vater daraufhin verwünscht, prallt dieser Vorwurf nicht einfach an ihm ab. Er wirkt nach und setzt einen Prozess in Gang.
Euripides zieht in das Stück eine reflexive Ebene ein, wenn er über den äußeren Handlungsablauf hinaus seine Akteure auch über ihr Verhalten innerlich nachdenken lässt.14 Neben die Trauer, Alkestis für immer verloren zu haben, tritt bei Admet in seiner bedeutenden Schlussrede die schmerzliche Einsicht hinzu, diesen Tod selbst mit verschuldet zu haben! Das pathein führt zu einem mathein, die Erfahrung des Leidens zu einem Lernen. Er hätte anders gekonnt, wenn er gewollt hätte, das geht ihm auf, wenn er zerknirscht fragt: «Ist das noch ein Mann, der seinen Eltern vorwirft, was er selbst / Versäumt?» (V. 958f ). Der retrospektive Optativ – «Oh, hätte ich nur …» – steigert den Schmerz, der das Leben selbst verdunkelt: «Admet erkennt jetzt selbst: dadurch, dass er das Opfer seiner Frau angenommen hat, einfach weil er leben wollte, dadurch hat er dieses sein Leben zerstört.»15
Das Problem ist auch unter modernen Rezeptionsbedingungen stark empfunden worden. Alkestis wollte nicht ohne ihn weiterleben und ist gestorben – wie aber kann Admet ohne sie leben, ohne dass sich ein beständiger Schatten von Schuld und Trauer über ihn und sein Leben legte? Hugo von Hofmannsthal (1874–1929) hat diese Frage in seiner Alkestis aufgenommen und die wechselseitige Perspektivübernahme im unnachahmlicher Weise herausgestellt. Er lässt Admet zu seiner opferbereiten Frau sprechen: «Denn stirbst du, leb auch ich nicht mehr, / mein Leben bebt in deinem Herzschlag mit.»16 Und:
Wie Vater nicht und Mutter nicht hast du
an mir getan! Meinst du, ich traure drum
ein Jahr um dich? Was kümmert mich die Zeit!
Solang ich leb, ist Trauer meine Herrin,
setzt sich mit mir zu Tisch, geht hinter mir
und steht des Nachts an meinem leeren Bette
und sieht mich an mit eisernen Augen, stumm.17
Die Trauer als beständige Begleiterin des Lebens. Nicht aber so etwas wie Reue, den Tod der Geliebten offen in Kauf genommen zu haben, um selber nicht sterben zu müssen – und auch nicht so etwas wie Dankbarkeit dafür, so vorbehaltlos und unbedingt durch einen anderen geliebt worden zu sein.
V
Der Apostel Paulus hingegen, um den Blick ins Neue Testament hinüberzulenken, spricht in seinem Brief an die Römer zutiefst bewegt davon, dass ein anderer für alle in den Tod gegangen ist: «Denn Christus ist schon zu der Zeit, als wir noch schwach waren, für uns Gottlose gestorben. Nun stirbt kaum jemand um eines Gerechten willen; um des Guten willen wagt er vielleicht sein Leben.Gott aber erweist seine Liebe zu uns darin, dass Christus für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren» (Röm 5, 6–7). Paulus ist davon überzeugt, dass sich im Sterben Jesu Gottes Liebe zu uns gezeigt hat. Die Wendung «sterben für» kommt bei ihm immer wieder vor, um den Sinn der Passion zu bezeichnen (vgl. Röm 14, 15; 1 Kor 8, 11; 15, 3; 2 Kor 5, 14f; 1 Thess 5, 10). Das Sterben Christi, das in unterschiedlichen soteriologischen Deutungen umkreist wird, ist das Zeichen der äußersten Liebe Gottes
Die Zuwendung Gottes zu den Gottlosen kann aus menschlicher Perspektive verrückt erscheinen. Sie überschreitet jedenfalls eine Ökonomie der Gabe, die an reziprokem Austausch orientiert ist und dem Freund gibt, was dem Freund gebührt. Paulus deutet das an, indem er auf das antike Freundschaftsideal eingeht, das Aristoteles in der Nikomachischen Ethik in die Sätze gefasst hat: «Von einem hervorragenden Mann gilt auch die schlichte Wahrheit, dass er für Freund und Vaterland sich immer wieder einsetzt und wenn es nottut, für sie sein Leben hingibt.»18 Anders als defizitäre Formen von Freundschaft, die auf Nutzen oder Lustgewinn aus sind – wie die amicitia utilis oder delectabilis –, nimmt die wahre Freundschaft den anderen um seiner selbst willen in den Blick. Nicht materielle oder hedonistische Interessen stehen in der amicitia honestis im Fokus, sondern die Person des anderen. Das wechselseitige Wohlwollen unter Freunden aber reicht so weit, dass der eine im Ernstfall für den anderen zu sterben bereit sein sollte.
Paulus ist, was die hellenistische Freundschaftsethik anlangt, eher zurückhaltend: «Nun stirbt kaum jemand um eines Gerechten willen», notiert er nüchtern. Nur ganz selten komme das vor. Umso mehr müsse vor diesem Hintergrund der Lebenseinsatz Jesu erstaunen. Er hat sein Leben für Schwache, Gottlose und Sünder gegeben. Damit wird das antike Freundschaftsideal auf die Feinde hin ausgedehnt.19 Jesus stirbt nicht nur für Freunde, sondern auch für seine Feinde! Das steht in Übereinstimmung zu den Evangelien, nach denen Jesus Gewaltverzicht und Feindesliebe nicht nur gepredigt (vgl. Mt 5, 43-45), sondern auch eingelöst hat, als er sterbend für seine Peiniger eingetreten ist: «Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun» (Lk 23, 34).
Paulus selbst kann und will von der Offenbarung dieser Liebe nicht mehr schweigen, seit sie ihn selbst vor Damaskus von Grund auf umgestülpt hat.20 Er, der als tora-observanter Pharisäer die Anhänger Jesu mit Eifer verfolgt hat und als Feind des Nazareners bezeichnet wurde (Apg 8, 1), wird durch das Widerfahrnis einer Christus-Offenbarung – «Saul, Saul, warum verfolgst du mich?» (Apg 9, 4) – nun selbst zu einem Anhänger und Freund Jesu. Die Feinde in Freunde verwandelnde Macht der Liebe Gottes zeigt sich in der Ohnmacht der Passion Jesu Christi: «Der seinen eigenen Sohn nicht geschont hat, ihn vielmehr für uns alle dahingegeben hat, wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken?» (Röm 8, 32) Wer diese sich selbst verschenkende Liebe, die im Philipper-Hymnus als Kenosis und Selbsterniedrigung poetisch näher besungen wird (vgl. Phil 2, 5-11), im Glauben erkannt und anerkannt hat, kann nach Paulus nicht gleichgültig bleiben. Er soll, was er erkannt und empfangen hat, an andere weitergeben und freimütig bezeugen. Die Gabe wird zur Aufgabe, sie übersetzt sich in Weitergabe und Zeugnis. Die Gesinnung Christi soll christliche Gesinnung werden.
VI
Auch in den Abschiedsreden des Johannes-Evangeliums findet sich das Motiv der Freundschaft. Nach dem Gleichnis vom Weinstock und den Rebzweigen formuliert Jesus das Liebesgebot und fügt an: «Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt» ( Joh 15, 13). Die Liebe Jesu zu den Seinen und seine Selbsthingabe für sie wurde bereits vorher thematisiert ( Joh 10, 15.17.18), doch hier wird sie in der Sprache der Freundschaft expliziert. Die Bereitschaft zur Lebenshingabe erscheint als Signum echter Freundschaft. Der Satz wird sogleich ins Paränetische gewendet, wenn die Freundschaftszusage an das Befolgen von Geboten gebunden wird: «Ihr seid meine Freunde, wenn ihr tut, was ich euch auftrage» ( Joh 15, 14). Für das hellenistische Freundschaftsideal ist der Austausch untereinander und die Offenheit füreinander wichtig, die sich klar von hierarchischen Kommunikationsverhältnissen mit Sklaven oder Knechten unterscheidet.21
In diesem Sinne heißt es: «Euch habe ich Freunde genannt, weil ich euch alles kundgetan habe, was ich von meinem Vater gehört habe» ( Joh 15, 15). Christus, der Mittler, teilt alles mit, was er empfangen hat, aber zugleich ist er derjenige, der die Jünger zu Freunden erwählt ( Joh 15, 16). Damit ist ein Anspruch verbunden, der die Gleichrangigkeit im hellenistischen Freundschaftsideal relativiert und christologisch transformiert. Christus hat den Vorrang, er ist Vor- und Urbild der Liebe. Die Angesprochenen aber, die bereits durch die Fußwaschung ein Zeichen seiner Dienstbereitschaft «bis ans Ende» ( Joh 13, 1) erhalten hatten, sollen ihre Freundschaft durch Taten der Nachfolge bewähren. Doch gerade sie sind es, die ihn schon bald schäbig verraten, feige verleugnen und heimlich verlassen werden. Jesus nimmt aber wegen Verleumdung und Verrat seine Freundschaftszusage keineswegs zurück. Als der Auferstandene am Osterabend in die Mitte seiner Jünger tritt, die sich «aus Furcht vor den Juden» hinter verschlossenen Türen versammelt haben, fordert er keine Rechenschaft für ihr Fehlverhalten oder kündigt gar Straf- oder Rachemaßnahmen an. Vielmehr zeigt er die Stigmata an seinen Händen und an seiner Seite. Die Spuren der Gewalt haben sich unauslöschlich in den verklärten Körper des Auferstandenen eingegraben. Sie sind Ausweis seiner bis ins Äußerste gehenden Freundschaft: «Friede sei mit euch!» ( Joh 20, 19).
VII
In der Alkestis des Euripides werden bereits im 5. Jahrhundert v. Chr. zwei Motive behandelt, die sich aus der Optik der patristischen Theologie als Präfiguration der Passion Jesu hätten lesen lassen. Einerseits die Bereitschaft der Alkestis, freiwillig für einen anderen zu sterben, andererseits die Überwindung der Macht des Todes durch den Sieg des Herakles über Thanatos. Möglicherweise gab es bei den Kirchenvätern Zurückhaltung, die Tragödie christologisch zu deuten, weil die sich opfernde Alkestis eine Frau und Christus, der Erlöser, ein Mann ist.
In der Theologie des Kreuzes und des descensus ad inferos werden die beiden Motive des Euripides gleichwohl christologisch verschränkt. Jesus Christus wird hier als Erlöser vorgestellt, der auf Golgotha stellvertretend für alle gestorben ist. Das ist das Geheimnis des Karfreitags. Zugleich figuriert er als Retter, der im Gang zu den Toten seine Solidarität mit den Verlorenen gezeigt hat, um diesen ein Leben zu ermöglichen, das keinen Tod mehr kennt. Das ist das Geheimnis von Karsamstag und Ostern.
Heute wird man beide Motive noch einmal übersetzen müssen, ohne allerdings beim Fährmannsdienst der Übersetzung den theologischen Gehalt über Bord zu werfen, dass in der Passion des Gekreuzigten die äußerste Offenbarungsgestalt der Liebe Gottes aufleuchtet. Nach Kant ist moralische Schuld «das Allerpersönlichste», das nicht – wie eine Geldschuld – auf einen anderen übertragen werden kann. Das Axiom der sittlichen Unvertretbarkeit des Individuums scheint die theologische Rede von Stellvertretung in die Krise zu führen.22 Wie antworten? Wenn das Subjekt nicht auf der Hypothek seiner sittlichen Verfehlungen sitzen bleiben soll, dann muss die vergebende Liebe Gottes es im Akt der Stellvertretung erreichen können, ohne dass seine Freiheit überspielt würde. Das Allerpersönlichste muss berührt und einbezogen werden. Dem Begriff ‹Stellvertretung› ist eine räumliche Semantik eingeschrieben. Diese lässt sich soteriologisch so verdeutlichen, dass Jesus Christus in seinem Sterben ‹an die Stelle› der schuldiggewordenen Person tritt – nicht um sie zu ersetzen, sondern um sie am Ort der sündigen Gottesferne «zum Eingeständnis ihrer Sünden und zur veränderungsbereiten Übernahme ihrer Wirklichkeit»23 zu befähigen. Indem ein anderer sich an die Seite des Sünders ‹stellt›, wird diesem ermöglicht, sich gegen sich selbst zu stellen und sich von seinen Sünden zu distanzieren. Die negativen Folgen der Sünden aber trägt dieser andere, Christus, der Gekreuzigte, indem er am Ort der Gottverlorenheit ausharrt.
Allerdings erschöpft sich der Selbsteinsatz Gottes am Kreuz nicht in der Erlösung von Sünde und Schuld. Das wäre eine hamartiozentrische Engführung der Soteriologie. Nicht minder wichtig ist die Solidarität Christi mit den Leidenden. Indem Christus, der Gekreuzigte, sich an die Seite der Opfer stellt, zeigt er Gottes compassio mit den Leidenden und gibt den Entwürdigten ihre Würde zurück. Am Ende aber geht die freie Selbstmitteilung Gottes an den Menschen noch über die Vergebung von Schuld und die Heilung zerstörten Lebens hinaus. Sie kulminiert in der Absicht, den Menschen als Partner und Freund gewinnen zu wollen. Mit Duns Scotus: Deus vult habere alios condiligentes.24 Freundschaft ist ein Begriff, der die Pointe der göttlichen Selbstmitteilung anzeigen kann, dass Gott nicht ohne den Menschen Gott sein will. Dass er um die Zustimmung der endlichen Freiheit wirbt, selbst dann noch, wenn diese sich weigert, dieses Freundschaftsangebot anzunehmen. Die Selbstmitteilung geht auf nichts weniger als die Mitteilung eines Lebens, für dessen Fülle wir keine Begriffe haben, das wir allenfalls durch Wortfragmente wie ‹abgewischte Tränen›, ‹kein Tod mehr› ‹Versöhnung›, ‹Freude› und ‹Friede› umschreiben können.
Was aber, wenn der Mensch diese Mitteilung ausschlägt und das Freundschaftsangebot, das in der Person des auferweckten Gekreuzigten nahekommt, ablehnt? Wenn das Ja der unbedingt für den Menschen entschiedenen Liebe Gottes auf das kategorische Nein einer menschlichen Freiheit stößt? Dann scheint das Theo-Drama zwischen menschlicher und göttliche Freiheit auf eine echte Tragödie zuzulaufen, das nur durch einen Grenzgedanken noch abwendbar ist. Die Hoffnung nämlich, dass die selbstgewählte Verlorenheit des Gottlosen durch Gott selbst noch einmal aufgesucht wird. Die Solidarität des toten Christus mit den Verlorenen – das wäre der von allen mythologischen Resten gereinigte Sinngehalt des descensus ad inferos, der eine solche Hoffnung begründen könnte. Mit Hans Urs von Balthasar gesprochen: «Der Sünder, der von Gott weg verdammt sein will, findet in seiner Einsamkeit Gott wieder, aber Gott in der absoluten Ohnmacht der Liebe, der sich unabsehbar in der Nicht-Zeit mit dem sich Verdammenden solidarisiert.»25