Der französische Philosoph und Sinologe François Jullien sprach im Frühjahr 2016 im Rahmen des Cours méthodique et populaire de philosophie an der Bibliothèque nationale de France und an der Université catholique von Lyon über «Ressources du christianisme». 2019 erschien diese Vorlesung in deutscher Übersetzung beim Gütersloher Verlagshaus. Es handelt sich um einen 120seitigen Essay über das Johannesevangelium, gelesen als kulturelle Ressource.
Was ist eine Ressource? Zunächst macht Jullien klar, was sie nicht ist und wie er auch das Johannesevangelium nicht lesen will. Es geht ihm nicht darum, dem Christentum eine religionsübergreifende Philosophie zu entnehmen oder Werte zu entlocken, die, wie der Untertitel seines Büchleins sagt, auch ohne Glaubensbekenntnis zugänglich und hilfreich wären und dem Christentum um seiner Ethik willen Geltung verschafften. Es geht ihm auch nicht darum nachzuweisen oder zu prüfen, ob der Wahrheitsanspruch des Christentums gute Gründe für sich in Anspruch nehmen kann. Es geht Jullien nicht um das Christentum als Religion. Er möchte vielmehr die Ergiebigkeiten für Kultur und Philosophie, die «Möglichkeiten für den Geist» (7), heben und erschließen, die es gebracht hat. Ressourcen des Christentums zu heben, wie er es tut, führt deshalb weder zum Glauben noch bedarf es einer vorgängigen Glaubensentscheidung. Das Interessante an einer Ressource ist gerade, dass «sie allen zur Verfügung, allen offensteht und sie nicht einmal für sich selbst Grenzen kennt» (30). Ressourcen spalten nicht und provozieren keinen Bruch, weder den zwischen Gläubigen und Ungläubigen oder wahrer und falscher Lehre noch den Bruch mit dem eigenen «alten» Leben, den die Bekehrung fordert. Ressourcen erschließen dem eine Welt, der sie findet und aktiviert. Jullien wählt einen hermeneutischen Zugang zu Quellen, die den Christen heilig sind, um sie als Ressourcen über das Christentum hinaus zu öffnen und ihre prospektive Kraft zu erschließen. Intellektuelle und kulturelle Konzepte des Christentums werden in seinem Essay also nicht als Erbe, sondern als «neues Mögliches» (19), nicht treuhänderisch, sondern perspektivisch, und nicht identitär, sondern zur Überschreitung von Grenzen aktiviert. Das ist, zumal für Menschen, die die Bibel als heilige Schrift und Identitätsmarker zu lesen gewohnt sind, neu und durchaus herausfordernd, aber auch ungeheuer anregend, zumal die Ressourcen, die Jullien erschließt, nicht nur ohne, sondern auch mit Glaubensbekenntnis zugänglich sind.
«Was hat das Christentum dem Denken [Gutes] angetan?» (9) Was hat das Johannesevangelium Neues, wie hat es auf neue Weise zu denken ermöglicht? Jullien hebt, stets nah am griechischen Text, dessen Innovation im Französischen wie im Deutschen eingeebnet werde, fünf solcher Potenziale. Zwei mögen hier genügen: Johannes, sagt er, denkt die Möglichkeit, «dass ein Ereignis geschehen kann» (47), und er denkt Lebendigkeit auf neue Weise, die sogar diesseits des Glaubens an Auferstehung zugänglich ist.
Was ist ein Ereignis? Das Johannesevangelium, so Jullien, setzt genau damit ein ( Joh 1). Es spricht vom Werden, vom Geschehen von etwas, das radikal neu, unerhört ist: Egeneto / ἐγένετο: es geschah. Es geschah, dass ein Mensch auftrat, gesandt von Gott; die Welt wurde durch ihn; der Logos ereignet sich als Fleisch; Gnade und Wahrheit geschahen durch Jesus Christus. «Johannes hat sich zu dem Gedanken entschieden, dass es ein Heraufkommen / Geschehen [advenir] gibt, das eine Zukunft eröffnet, die noch nicht in dem enthalten ist, was ihr vorhergegangen ist: die nicht bereits angebunden und angekettet ist, dass ein noch nie Dagewesenes möglich ist» (46), ein Ereignis, das keine Degeneration des Seins oder seine bloße Materialisierung ist und ebenso wenig bloß Ergebnis einer Ursache oder Realisierung einer vorausgedachten Möglichkeit. Ein Ereignis ist etwas, das noch nie da war, ungedacht und unfassbar, wirklich neu, und es kann alles ändern. So lässt sich ein wirklicher Anfang allen Seins denken, so macht Johannes Inkarnation verständlich und das Wunder eines echten Neubeginns, sei es aus Krankheit, sei es zur vollen Lebendigkeit des Lebens.
Das ist die zweite Ressource, die Jullien zu heben weiß: Leben. «Dass sich das Ereignishafte im Leben offenbart, oder dass die Möglichkeit des Ereignisses das ist, woraus – durch die Vermittlung des ‹Christus› – das Leben erwächst.» (53) Was im Deutschen nicht weiter differenziert wird, macht in der Diktion des Evangelisten Johannes den entscheidenden Unterschied: Leben als bloßes Am-Leben-Sein, Nicht-tot-Sein (psyché / ψυχή), und Leben in Fülle, im Übermaß (zoé / ζωή). Die Samariterin am Jakobsbrunnen kennt das Durst löschende Wasser, das einen Menschen am Leben erhält. Jesus verspricht ihr darüber hinaus lebendiges Wasser, das in ihr zur sprudelnden Quelle wird für ein Leben, das niemals stirbt. Der gute Hirt gibt sein Lebendig-Sein dahin, er opfert seine Vitalität, damit seine Schafe über alles Maß hinaus Leben haben ( Joh 10, 10–11), ein Leben, das niemals stirbt. Diesen Unterschied von Leben (Lebendigkeit) und Leben (in Fülle) bilden Gegenüberstellungen von Leib und Seele oder wörtlicher und übertragener Deutung nicht annähernd ab. Es geht Johannes, so zumindest Julliens Lesart, nicht um Alternativen in der Sache oder alternative Schriftzugänge (Buchstabe oder Geist), sondern darum, Grade und Intensitäten des Lebens denken zu können «zwischen dem minimalen, aber sterilen Am-Leben-Sein und dem absolut lebendigen Leben» (71), das auch dem etwas sagen kann, der sich diese Lebensressource «diesseits der Auferstehung» (70) erschließt.
Es bleibt ungewohnt, als gläubiger Mensch die Schätze johanneischen Denkens so zu lesen, wie Jullien es vorschlägt: Sie nicht festzuhalten, sondern ihre Erschließungskraft auch dem zu gönnen, der aus ihnen kein Bekenntnis formt. Denn eine Ressource ist «niemandes Eigentum» (23), vielmehr «Quelle einer Wirkung» (24), ein Potenzial, eine «echte Frage» (9) für Leben, Glauben und Denken von Christen und Nichtchristen.