Abstract / DOI
A Culture of Conflict Management. Conflict as an ambivalent and morally indifferent phenomenon can have both negative and positive impacts depending on the respective manner of conflict management. While violent conflicts promote destruction and dysfunction, productive conflicts can be seen as functional conflicts including creative potential. Based on a culture of constructive conflict management (konstruktive Konfliktkultur) these conflicts can unfold impacts, which promote peace, integration and development. Therefore, productive conflicts represent a fundamental component of normative models in peace etWhics and peace politics.
1. Die Vielfalt des Konflikts
Konflikte gehören zum Menschsein. Der Mensch als zoon politikon ist immer auch homo confligens. Menschen stoßen mit anderen Menschen zusammen, Gruppen geraten aneinander, Staaten liegen im Streit. Konflikte sind allgegenwärtige Phänomene. Ihr Auftreten ist entsprechend vielgestaltig. Es reicht vom innerlichen und psychischen Konflikt des einzelnen Menschen über den zwischenmenschlichen und innergesellschaftlichen bis hin zum internationalen und weltpolitischen Konflikt.
Diese Vielfalt versuchen Disziplinen wie die Friedens- und Konfliktforschung, die Soziologie oder die Politikwissenschaft wiederum selbst durch einen Plural an divergierenden Konfliktbegriffen und Konflikttheorien einzufangen.1 Ein übergreifender und abschließender systematischer Konsens ist bislang nicht erreicht. Es mangelt an einem eindeutig definierten und unstrittigen Konfliktbegriff. Schlichtweg zu mannigfach sind die spezifischen Ausprägungen, die Verursachungsfaktoren, die Orte und insbesondere die Ebenen von Konflikten. Das gilt auch für die im Einzelnen involvierten Akteure, wobei die aktiv Beteiligten nicht immer auch die unmittelbar Betroffenen sind. Adjektivische Präzisierungen sollen vielfach für weitere Klärung sorgen. Es wird zwischen symmetrischen und asymmetrischen Konflikten im Blick auf das Verhältnis der Konfliktparteien, zwischen latenten und offen ausgetragenen oder auch, wie der US-amerikanische Konfliktforscher Morton Deutsch in seiner Schrift ‹The Resolution of Conflict›2 (1973) aufzeigt, zwischen destruktiven und konstruktiven Konflikten unterschieden. Diese Reihung ließe sich nahezu beliebig fortsetzen.
Allgemein festzuhalten ist immerhin, dass sich Konflikte zwar an prinzipiellen, keineswegs aber an per se unversöhnlichen Unvereinbarkeiten und Positionsgegensätzen entzünden. Dies erfolgt hinsichtlich eines bestimmten Konfliktgegenstandes und vor dem Horizont unterschiedlicher Interessen, Überzeugungen und Werte der beteiligten Akteure. Soziologische Studien zeigen zudem, dass Konflikte durch die horizontalen und vertikalen Differenzierungsprozesse pluralistischer Gesellschaften sowie durch die medial bedingte Radikalisierung, Privatisierung und Beschleunigung gegenwärtiger Debatten mehr denn je befördert werden. Die Kammer für Öffentliche Verantwortung der EKD bilanziert in ihrem Impulstext ‹Konsens und Konflikt›3 (2017) treffend, dass die Gesellschaft zwar offener geworden, mit dieser Offenheit aber auch das Potenzial für Konflikte gestiegen sei. Moderne, globale und digitale Gesellschaften sind aber nicht nur strukturell anfälliger für Konflikte, die Konfliktkultur selbst ändert sich. Konflikte entwickeln neue Dynamiken. Manche Konflikte werden bleibend sein. Ihr konstruktiver Austrag ist für die Wahrung des gesellschaftlichen Zusammenhalts von großer Dringlichkeit.
2. Der Konflikt als ambivalentes und moralisch indifferentes Phänomen
Die Wahrnehmung und die Bewertung von Konflikten jedoch ist nicht selten einseitig negativ, auch weil der populäre Konfliktbegriff sehr weit und durch spezifische Konfliktkontexte sowie konkrete Austragungsformen negativ vorbelastet ist. Konflikte werden dann vorschnell als grundsätzlich schlecht, gar schädlich und wenig produktiv empfunden und zurückgewiesen. Als unerfreuliche Störungen und Abweichungen von einem etwaigen Idealzustand wirkten sie sich lediglich dysfunktional auf bestehende soziale oder politische Ordnungsverhältnisse aus. Es drohe der Verlust von Vertrautem, Bestehendem und Bewährtem. Verunsicherung, Wut und Enttäuschung machen sich breit.
Der große scholastische Theologe Thomas von Aquin prägte den hierzu passenden ethischen Grundsatz ‹bonum faciendum, malum vitandum›: Gutes sei zu tun, Böses und Schlechtes hingegen sei zu meiden.4 Wäre es ethisch daher nicht nur konsequent und folgerichtig, dem Konflikt in seiner Destruktivität, Dysfunktionalität und Negativität als einem malum auszuweichen, ihn gar gänzlich zu meiden? Eine derartige eindimensionale Abwertung, ja gar Stigmatisierung des Konflikts ist nicht nur im zeitgenössischen Denken weit verbreitet. Sie sieht sich auch durch die gegenwärtige Weltlage eindrücklich bestätigt5, die jede Beschönigung des Konflikts unbedingt verbietet, aber doch nicht jede positive Deutung ausschließen kann.
Die zahlreichen, von gewaltsamer Eskalation gekennzeichneten Konflikte nach dem Ende des Kalten Krieges wie der Jugoslawien-Konflikt oder der Völkermord in Ruanda, die sich vielfach perpetuierenden Kriege im Nahen Osten und in Afrika, die jüngsten Entwicklungen in Syrien und der Ukraine, die zunehmende Zahl an Gewaltkonflikten zwischen und mit nichtstaatlichen Akteuren wie dem Islamischen Staat lassen es nicht zu, den Konflikt voreilig und bar jeder tiefergehenden Differenzierung als irgendwie produktiv hinzustellen. Gewaltkonflikten eine grundsätzlich positive Deutung abringen zu wollen, würde nicht nur erzwungen wirken, sondern wäre ohne jeden Zweifel zynisch, unverantwortlich und falsch. Dies schließt nicht aus, dass aus Gewaltkonflikten ab einem gewissen Punkt oder im Nachgang Positives entstehen kann. Der im Jahr 2019 an Äthiopiens Regierungschef Abiy Ahmed verliehene Friedensnobelpreis für dessen Verdienste um die Aussöhnung mit dem langjährigen Erzfeind Eritrea mag hierfür beispielhaft stehen. Ein anderes Beispiel wäre die Europäische Union, ebenfalls Friedensnobelpreisträgerin. Sie ist selbst das Ergebnis von verheerenden Konflikten auf europäischem Boden und steht beispielhaft für die Überwindung des gewaltsamen zwischenstaatlichen Konfliktaustrags. Heute darf sie, bei aller berechtigter Kritik, als Ort konstruktiver institutioneller Konfliktbearbeitung par excellence gelten.6
Der bewaffnete militärische und nur als ultima ratio legitime gewaltsame Konfliktaustrag bleibt dennoch relevant. Damit ist der Anspruch verknüpft, auch diese Konflikte in all ihrer Destruktivität im Sinne möglichst wirksamer Deeskalation konstruktiv zu bearbeiten. Es zählt zu den zentralen Anliegen eines Katholischen Militärbischofes hierauf und auf die damit verbundenen besonderen Herausforderungen für die Deutsche Bundeswehr aufmerksam zu machen. Wie die deutschen Soldatinnen und Soldaten in komplexen Konfliktlagen unmittelbar involviert und dabei nicht selten selbst von hartnäckigen Gewissenskonflikten geplagt ihren Dienst und Beitrag zu einer möglichst konstruktiven Konfliktbearbeitung leisten, ohne dass sich für den Einzelnen sichtbare Erfolge oder überhaupt positive Wirkungen einstellen, verdient Hoch- und Wertschätzung, bedarf aber auch seelsorglicher Betreuung und umfassender Persönlichkeitsbildung. Seit Jahrzehnten leistet die katholische und die evangelische Militärseelsorge zum Beispiel im Rahmen des ‹Lebenskundlichen Unterrichts› hierzu ihren Beitrag.
Daher wollen wir weder noch können wir Konflikte als grundsätzlich positive Phänomene bestimmen. Wir plädieren nicht dafür, allerorts Konflikte zu forcieren, oder behaupten, jeder Konflikt könne konstruktiv bearbeitet werden und beinahe zwangsläufig produktive Wirkungen entfalten. Dennoch beabsichtigen wir, den Konfliktbegriff unabhängig von seinen spezifischen Kontexten, Ursachenkonstellationen oder Austragungsformen in seiner Komplexität möglichst unvoreingenommen als sozialen und politischen Tatbestand zu erfassen. Denn eine Welt ohne Konflikte ist weder realistisch noch wünschenswert. Es kann sich sogar lohnen, in Konflikte zu gehen, ihnen nicht auszuweichen, sie zu wagen und auszuhalten. Konflikte können potenziell positiv, ja produktiv sein, auch wenn die Realität häufig weniger ideal sein mag. Sie bewahren die Anpassungsfähigkeit einer Gesellschaft, indem sie Missstände sichtbar machen oder indem sie als Indikatoren für notwendige Veränderungen fungieren und so erst gemeinsame Lösungen trotz aller Gegensätze ermöglichen. Die aktuellen und kontroversen Auseinandersetzungen um eine zukunftsorientierte nationale und globale Umwelt-, Ressourcen- und Klimapolitik dürfen bislang durchaus als ein positiver und produktiver Konflikt bewertet werden. Durch Demonstrationen oder Proteste wird ein als dringlich empfundenes Thema einer größeren Öffentlichkeit vor Augen geführt. Dies hat zum Ziel, eine Debatte unterschiedlicher Positionen und Generationen zu initiieren und eine vielfach zu Recht geforderte Bewusstseins- und Verhaltensänderung zu bewirken. Konflikte zerstören Ordnung also nicht nur. Als dynamische und konstruktiv durchlaufene Prozesse haben sie das Potenzial, strukturbildend zu wirken, neue Ordnung auf der Grundlage von Bestehendem herzustellen und erforderlichen Wandel, wenn auch nicht als Selbstzweck, zu initiieren. Es bleibt hier die Herausforderung, den Wandel nicht zu idealisieren, damit verbundene Ängste ernst zu nehmen und glaubhaft zu vermitteln, dass Wandel und der Erhalt von Bestehendem sich nicht gegenseitig ausschließen.
3. Der Konflikt in der Geistesgeschichte und Sozialwissenschaft
Diese Einsicht in das produktive Potenzial des Konflikts ist von bleibender Aktualität und ist als solche bewusst zu halten. Neu aber ist sie nicht. Schon die attische Demokratie der athenischen Polis hatte das ordnungsstiftende Potenzial des gewaltfreien Konflikts erkannt. Sie kultivierte daher dessen Austrag in der Volksversammlung durch einen gefestigten institutionellen Rahmen mit einem etablierten und anerkannten Regelwerk. Zwar kann ein solcher Rahmen wiederum selbst Anlass zu normativem Konflikt geben, die Vorzüge aber sind klar: Entgegen autokratischer und oligarchischer Herrschaftsformen werden mehrere einander relativierende Standorte partizipativ miteinbezogen. Die Konfliktparteien sind herausgefordert, die eigene Position argumentativ zu stärken und um ihrer Nachvollziehbarkeit willen zu schärfen. Der zunächst auf Unvereinbarkeit und Trennung basierende Konflikt eröffnet einen Raum des gemeinsamen Ringens um Erkenntnis, Verständigung und die besten Ergebnisse.7
Für Christinnen und Theologen ist daneben die Tatsache bedeutsam, dass selbst die biblischen Texte von einer Vielzahl an Konflikten durchzogen sind. Das Leben Jesu war von zahlreichen Konflikten nicht nur mit den Pharisäern geprägt, bis hin zu seinem Tod am Kreuz. Die Verhältnisse in der frühchristlichen Urgemeinde waren ebenfalls keineswegs konfliktfrei. Die Autoren des Neuen Testaments tragen dem Rechnung. Man denke etwa an den Rangstreit zwischen den Jüngern in Mk 9,33–37 oder an das gegen die Lehre Jesu gerichtete Murren ‹vieler Jünger› im Johannesevangelium. Sie verschleiern die Konflikte nicht und vermeiden deren pauschale Verurteilung. Stattdessen werben sie für verständigungsorientierte und um Ausgleich bemühte Verhaltensweisen. Nicht einmal einen Kompromiss in der Lehre lehnen sie völlig ab, wie die von Lukas geschilderten Auseinandersetzungen in Apg 15,28 zeigen. Konflikte können die Gemeinschaft bereichern und stärken, die Einsicht in den Glauben vertiefen, Klärungen und Entscheidungen herbeiführen.8
Die beiden großen Kirchenlehrer Augustinus und Thomas von Aquin hingegen dürften von einer größeren Skepsis gegenüber dem Konflikt geprägt gewesen sein. Dies erklärt sich durch die zeithistorischen Umstände ihres Wirkens ebenso wie durch ihr stark ordnungszentriertes, am Ideal der Eintracht ausgerichtetes Denken. Ordnung nämlich war als verbindliche Vorgabe Gottes in der Natur und in der Gesellschaft zu denken. Durch Konflikte konnte sie zumindest gefährdet oder eben sogar zerstört werden. So wäre es sicherlich zu viel zu behaupten, Augustinus und Thomas hätten Konflikte als positive und durchweg produktive Größen bedacht. Ausgeschlossen aber haben sie es nicht. Die politische Philosophie der Neuzeit entwickelte sich hier nochmals deutlich weiter, wie ein kurzer Blick auf Immanuel Kant verdeutlicht. Denn Kant teilte dem Konflikt, dessen Ursprung im dialektischen Gegenspiel von menschlicher Geselligkeit und Ungeselligkeit zu suchen ist, bei aller möglichen Entartung doch auch die Rolle einer mächtigen Triebkraft für den menschlichen Fortschritt zu.9
Diese philosophie- und theologiegeschichtlichen Beobachtungen sehen sich durch die sozialwissenschaftliche Theoriebildung des 20. Jahrhunderts bestätigt. Vermittelt durch Arbeiten der frühen US-amerikanischen Soziologie setzte sich hier die Einsicht in die positive Wirkung von Konflikten als unvermeidlichen Phänomenen der menschlichen Gesellschaft durch. Die Verbindung von Konflikt, als Charakteristikum moderner Gesellschaften, und Wandel, als gesellschaftlicher Notwendigkeit und als Entwicklungsmotor, verfestigte sich. Der Konflikt avancierte zu einer wichtigen, in Teilen sogar zur zentralen Kategorie soziologischer Theoriebildung. Autoren wie Georg Simmel oder in späterer Zeit Helmut Dubiel hoben die sozialisatorische und systemintegrative Funktion des Konflikts hervor. Ralf Dahrendorf entwickelte ab den 1950er Jahren, mitunter in Neuinterpretation von Karl Marx und Max Weber sowie als Kritik an den damals dominierenden struktur-funktionalistischen Ansätzen eines Talcott Parsons, seine Gesellschaftstheorie gänzlich als Konflikttheorie. Wie auch der US-amerikanische Soziologe Lewis Coser vertrat Dahrendorf die Überzeugung, dass Konflikte Gesellschaften nicht destabilisierten. Durch ihre schöpferische Kraft begünstigten sie vielmehr deren Evolution, hielten sie offen für Wandel und damit für Entwicklung, ermöglichten Widerspruch, auch und gerade gegenüber Autoritäten. Nicht Konflikte seien somit schlecht, sondern das Fehlen und Ausbleiben von Konflikten.10
In seinem im Jahr 2013 erschienenen Apostolischen Schreiben Evangelii gaudium bestimmt Papst Franziskus den Konflikt ihn ähnlicher Weise. Er warnt davor, ihn zu ignorieren, ihn zu beschönigen oder sich gar in ihm zu verlieren. Als beste Option, dem Konflikt zu begegnen und die ihm wertvollen innewohnenden Möglichkeiten beizubehalten, beschreibt der Papst die Bereitschaft, ihn zu erleiden, zu lösen und so zum Ausgangspunkt eines neuen Prozesses zu machen. Aus Streit könne sich Gemeinschaft, aus Unvereinbarkeiten eine vielgestaltige Einheit entwickeln.11
Unterschiedlichste Traditionen eröffnen somit einen differenzierten und dadurch auch positiven Zugang zum Konflikt. Er bringt nicht zwangsläufig Unfrieden oder Unordnung hervor. Weder forciert er notwendigerweise Gewalt noch zerstört er soziale Bande. Der Konflikt ist also zunächst moralisch indifferent und hinsichtlich seiner Funktion ambivalent. Seine Bewertung hängt vom konkreten Austrag des jeweiligen Konflikts ab. Die daraus resultierende Forderung ist evident: Es braucht eine konstruktive Konfliktkultur auf gesellschaftlicher wie auf internationaler Ebene.
4. Eine konstruktive Konfliktkultur als friedensethischer Imperativ
Dieses Postulat hatten die deutschen Bischöfe bereits im Jahr 2000 innerhalb ihres Hirtenwortes ‹Gerechter Friede›12 formuliert. Im Zuge des darin grundgelegten Paradigmenwechsels13 kirchlicher Friedenslehre weg von den Fragen des ‹gerechten Krieges› hin zum regulativen Leitbild des ‹gerechten Friedens› betonten sie den Vorrang gewaltpräventiver Konfliktbearbeitung ebenso wie die Bedeutung des Konfliktaustrags ohne die Mittel der Gewalt. Sie konstatierten jedoch auch einen Mangel an Konfliktkultur. An dieser Stelle kann ein differenzierter Zugang zum Konflikt als einem ambivalenten, der Kultivierung bedürftigen Phänomen das angesprochene Leitbild perspektivisch erweitern.
Der friedensethische Imperativ der Konfliktvorbeugung bleibt bestehen. Dennoch ist ernst zu nehmen, dass nicht alle Konflikte sinnlos oder schlecht sind. Primäres Ziel moderner Gesellschaften ist somit nicht eine absolute Konfliktprävention im Sinne einer völligen Beseitigung und Vermeidung des Konflikts. Es bedarf stattdessen der rechtlichen, an Grund-, Menschen- und Völkerrecht orientierten, und institutionellen Rahmengebung für einen konstruktiven Konfliktaustrag. Dies wird der friedensethischen Grundeinsicht gerecht, dass Friede in all seinen Facetten nicht einfach ein Zustand ist, der ohne Widerstände, Hindernisse und Rückschläge, eben ohne Konflikte, erreichbar wäre. Gesellschaftlicher wie politischer Friede brauchen den konstruktiv bearbeitbaren Konflikt und damit eine konstruktive, das meint diskursive und gewaltlose Konfliktkultur.
Eine solche Kultur konstruktiver Konfliktbearbeitung als konstitutiver Bestandteil eines richtungsgebenden friedensethischen und friedenspolitischen Leitbildes ist ebenso anspruchsvoll wie voraussetzungsreich. Sie ist Teil einer umfassenden gesellschaftlichen und politischen Kultur, in deren Zentrum das Wohl der menschlichen Person steht. Eine Blaupause hierzu gibt es nicht, doch sind zwei zentrale Ziele zu markieren: Zum einen muss es gelingen, die destruktiven Potenziale von Gewaltkonflikten, wie sie vor allem auf weltpolitischer Ebene greifbar werden, einzuhegen und zu transformieren. Zum anderen müssen die produktiven Potenziale des Konflikts offengelegt und nutzbar gemacht werden.
Anders als eine konfrontative Konfliktkultur, die sich auf Flucht, Kampf oder Unterordnung als Möglichkeiten des Konfliktaustrags beschränkt, zeichnet eine konstruktive Konfliktkultur ein Spektrum vor, das sowohl die Delegation des Konfliktes an Institutionen und damit die Institutionalisierung des Konflikts als auch die Ideallösungen des Kompromisses und des Konsenses umfasst. Eigene Ansprüche zugunsten anderer Konfliktparteien oder zur Ermöglichung von Kooperation zurückzustellen, verlangt jedoch viel ab. Die Konfliktparteien haben ihre Mitverantwortung für Konflikte ebenso zu reflektieren wie sie ihre Haltung und innere Einstellung zu überprüfen haben, mit der sie den Konflikt austragen. Die ethische Tradition spricht hier von Tugenden. Zu nennen wären das Maßhalten, die Klugheit, die Wahrhaftigkeit, die Geduld und die Toleranz. Ebenso bedarf es des Mutes, gerade die kontroversen und schwierigen Themen, die alte Gewissheiten in Frage stellen, anzugehen. Auseinandersetzung ist nicht durch Ausgrenzung zu verweigern. Jedoch ist dort entschiedener und klarer Widerspruch zu leisten, wo Grenzen erreicht und der Rahmen konstruktiver Konfliktkultur nicht selten gezielt verlassen oder gar angegriffen wird. Fundamentalismen und Extremismen führen uns heute aufs Neue vor Augen, wie insbesondere eine Verrohung der Sprache als Indikator hierfür fungiert und Polarisierungen Vorschub leistet.
Interessen sind nicht einfach nur gegeneinander abzuwägen, sondern in ihrer Berechtigung dialogisch zu überprüfen und kritisch zu hinterfragen. Missverständnisse sind auszuschließen, Wahrnehmungsunterschiede zu erkennen. Dies setzt den Respekt vor dem Gegenüber ebenso wie dessen Anerkennung und den Verzicht auf alle Formen physischer, psychischer oder struktureller Gewalt voraus. Symbolische Gesten der Versöhnung können einen wichtigen Beitrag dazu leisten, Vergangenheit und vergangenes Unrecht aufzuarbeiten, um eine neue und gemeinsame Basis der Verständigung zu schaffen. Man denke an den Besuch der Volksrepublik Polen durch Bundeskanzler Willy Brandt am 7. Dezember 1970 mit der Unterzeichnung des Warschauer Vertrags und dem Kniefall am Ehrenmal der Helden des Warschauer Ghettoaufstands oder an die Begegnung von Bundeskanzler Helmut Kohl und Staatspräsident François Mitterrand auf einem der zentralen Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs, in Verdun im Jahre 1984.
Zugleich ist aber klar, dass nicht jeder Konflikttyp in gleicher Weise konstruktiv bearbeitbar ist. Anders als unechte Konflikte, in denen der Konflikt zum Selbstzweck degeneriert, sind echte, an einem bestimmten Ziel orientierte Konflikte durchaus konstruktiv bearbeitbar. Hierbei sind wiederum teilbare Konflikte, die hinsichtlich des Konfliktgegenstandes ein ‹Mehr-oder-Weniger› zulassen, einfacher handzuhaben als unteilbare Konflikte, die lediglich ein ‹Entweder-Oder› kennen. Ferner spielt auch die Ebene des einzelnen Konflikts eine wichtige Rolle. Spannungen und fundamentale Diskrepanzen zwischen innergesellschaftlichem und internationalem Konfliktaustrag sind nicht zu leugnen. Die Voraussetzungen für einen konstruktiven Konfliktaustrag erscheinen auf gesellschaftlicher, noch dazu auf demokratischer und parlamentarischer Ebene deutlich günstiger. Bei allen positiven Entwicklungen im Kontext der Europäischen Union und der Vereinten Nationen befindet sich hier vieles noch im Werden. Es mangelt auf der Ebene trans- und internationaler Politik immer noch an ausreichenden Sanktionsmechanismen und übergeordneten Schlichtungsinstanzen. Die wiederkehrenden Kontroversen um das Vetorecht der Ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates führen diese Machtasymmetrien und institutionellen Defizite des konstruktiven Konfliktaustrags vor Augen. Die bestehenden Grenzen der diplomatischen Bemühungen und des internationalen Rechts werden sichtbar. Beide Konfliktebenen sind daher konflikttheoretisch und praktisch zu unterscheiden, obgleich dies im Kontext globaler Zusammenhänge zunehmend diffizil, bisweilen auch unplausibel erscheint. Die grenzüberschreitenden Dimensionen von Konflikten machen Reformulierungen erforderlich. Theorien der Weltgesellschaft liefern hierzu erste weiterführende Ansätze.14
All das Gesagte hat zuletzt auch eine Relevanz für die Katholische Kirche in Deutschland. Insofern sie sowohl in als auch gegenüber der Gesellschaft steht, in der sie bei allem beobachtbaren Wandel zugleich immer noch breit und tief verankert ist, partizipiert sie ad extra an den jeweiligen gesellschaftlichen Konflikten. Sie trägt damit eine aktive Mitverantwortung für eine konstruktive gesellschaftliche Konfliktkultur. Nur auf ein, wenn auch etwas weiter zurückliegendes Beispiel sei hingewiesen. Im Konflikt um die ‹soziale Frage› nach dem rechten Verhältnis von Arbeit und Kapital am Ende des 19. Jahrhunderts hatte die Katholische Kirche die Notwendigkeit erkannt, auf neue und zugleich produktive Weise einzugreifen. Durch die Veröffentlichung der ersten päpstlichen Sozialenzyklika Rerum novarum im Jahr 1891 etablierte sie die christliche Gesellschaftslehre als einen selbstständigen Lehr- und Traditionszweig, um seither Beiträge zu sozialen und institutionellen Gerechtigkeitsfragen zu leisten.
Dass die Katholische Kirche als Spiegel der Gesellschaft zugleich ad intra durch Konflikte herausgefordert und selbst auf eine konstruktive Streit- und Konfliktkultur angewiesen ist, tritt gegenwärtig offen zu Tage. Dies ist, wie dargelegt, durchaus positiv zu sehen.