Mitten in den aktuellen Debatten über Rassismus, über Exklusion und Diskriminierung, die in allen offenen Gesellschaften geführt werden, ist ein Song von Aretha Franklin, der 2018 verstorbenen Soul-Sängerin, in einer bislang unbekannten Version erstmals veröffentlicht worden: ein Solo mit dem Boys Choir of Harlem. Das Lied haben Eliot Kennedy, Bryan Adams und Andrea Ramada geschrieben. 2006 hatte Franklin es im Duett mit Mary J. Blige eingespielt und dafür 2008 ihren achtzehnten Grammy als «bester Gospel» gewonnen, im 50. Jahr seiner Verleihung. Die neue Version ist 2020 am 10. Juni online gestellt worden, dem Gedenktag der Sklavenemanzipation in den USA. Eine Million Mal ist der Titel aufgerufen worden.
Der Song ist ein Gebet. «My Lord», beginnt er, und: «Never gonna break my faith» ist der Refrain. «Du wirst niemals meinen Glauben brechen», das ist die Kampfansage an alle, die ideologisch von «Farbe» und «Rasse» reden («Tell me color ain’t about race»); «Ich lass’ mir niemals meinen Glauben brechen», ist die trotzige Selbstbehauptung einer Frau, die an der Härte des Lebens Gott zu verehren gelernt hat. «Now I know that life was meant to be hard / And that’s how I learned to appreciate my God.» Ihr Blick ist in die Bibel gefallen, die sie oft gelesen hat – und deshalb weiß sie, dass es dort keinerlei Rechtfertigung für all das gibt, was man ihr und den Ihren antut: «I have read this book so many times. / But nowhere can there I find the page / That says, what I experienced today has any grace.»
Das Plädoyer gegen Diskriminierung und für Inklusion wird am Glauben festgemacht. Gott schenkt Freiheit und Stärke. Er rechtfertigt nicht die Exklusion, sondern begründet das Recht auf Partizipation. An die Adresse ihres imaginierten, aber realen Gegners richtet die Sängerin ihr Bekenntnis: «Glaube und Hoffnung gehören nicht dir, sie zu geben; Wahrheit und Freiheit gehören mir, sie zu leben» («Faith and hope ain’t yours to give / Truth and liberty are mine to live»).
Der Song erinnert an die religiösen Wurzeln der Sklavenbefreiung und der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Er erinnert auch an die Geschichte der Unterdrückung im Namen Gottes und mit Berufung auf die Bibel. Desto wichtiger ist die Stimme einer Frau, die Gleichberechtigung und volle Teilhabe in der Gesellschaft einfordert – im Glauben an Gott, bibelfest und deshalb selbstbewusst.
Die aktuelle gesellschaftliche Debatte fordert die Kirche. Sie wird als politischer Faktor von Gewicht gebraucht, ist sie doch eine der wenigen Organisationen mit weltweiter Präsenz, von Hongkong bis Minneapolis. Vor allem aber muss die Kirche ihren eigenen Ansprüchen genügen, verdankt sie sich doch als Gemeinschaft des Glaubens der Verkündigung Jesu Christi, ein Gnadenjahr des Herrn auszurufen, in dem Kranke geheilt, Arme reich gemacht, Gefangene befreit und sündige Menschen begnadigt werden (Jes 61,1f. – Lk 4,18-19).
Partizipation im politischen Prozess zu ermöglichen, ist sozialethisch eine entscheidende Aufgabe der Kirche. Was Partizipation in ihrem Inneren heißt, muss die Kirche noch entdecken. «Never gonna break my faith», ist auch die Maxime eines Engagements für die Kirche und in der Kirche. Sie kann gegen diejenigen außerhalb der Kirche gerichtet sein, die Religionsfreiheit beschneiden und Glauben unterdrücken, heute in nie gekanntem Ausmaß. Sie kann aber auch gegen diejenigen innerhalb der Kirche gerichtet sein, die nicht auf den Glauben setzen, sondern Mauern errichten, die Menschen davon abhalten, sich für die Kirche, für das Evangelium, für die Menschen einzusetzen, die Gottes Kinder sind, egal, wo und wie sie leben. Angesichts der vielen, die durch die Kirche wegen des Missbrauchs geistlicher Macht den Glauben an Gott verloren haben, kann «Never gonna break my faith», allerdings nur eine stille Hoffnung sein: auf ein Wunder.
Die entscheidende Herausforderung für eine Umkehr der Kirche, die sich ihrer Schuld bewusst wird und auf die Kraft der Erneuerung im Heiligen Geist setzt, besteht darin, Menschen zu überzeugen, sich für Gott und den Nächsten einzusetzen – und deshalb in der Kirche mitzuarbeiten. Die liberalen Gesellschaften mit ihren vielen Alternativen und mit den offenen Diskursen sind der Ernstfall eines Glaubens, der auf Freiheit setzt. Teilhabe ist der Schlüssel: als Recht, als Aufgabe, als Verantwortung.
Teilhabe ist Aktivität: Automatisch geht in der Kirche gar nichts; sie braucht die Motivation und die Qualifikation ihrer Mitglieder, auf allen Ebenen. Sie braucht Diakone, Priester und Bischöfe, um Eucharistie feiern zu können. Sie braucht «alle, die zum Dienst in der Kirche bestellt sind» – und tut sich in vielen, besonders den entwickelten Gesellschaften, schwer, Menschen zu finden, die bereit und fähig sind, die pastoralen Aufgaben zu übernehmen. Die Kirche braucht die Mütter und Väter, die Großeltern, die ihre Kinder erziehen, weil es am besten ist, wenn der Glaube mit der Muttermilch aufgesogen wird. Sie braucht auch die Lehrerinnen und Lehrer in den Schulen, die Religionsunterricht erteilen, weil der Glaube nicht selbstverständlich ist, sondern in den Diskurs der Öffentlichkeit gehört. Die Kirche braucht die Katechetinnen und Katecheten, die zu den Sakramenten führen. Sie braucht nicht zuletzt die tausende und zehntausende Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Bildungs-, der Gesundheits- und der Caritas-Arbeit, die – Kirchenmitglieder oder nicht – Christus in den Kranken, den Armen und den Kleinen dienen. Eine Qualifizierungsoffensive steht deshalb an, die Glaubenswissen verbreitert und Motivation klärt.
Partizipation, Teilhabe und Teilnahme, ist ein Begriff, der für die Lebendigkeit des Leibes Christi stehen kann, für die Vielfalt der Gaben, für die Kooperation derer, die sich in ihren Stärken und Schwächen, ihren Grenzen und Weiten anerkennen und fördern können. Partizipation braucht Mut und Willen. Sie braucht Glaube, Hoffnung und Liebe. Partizipation ist Gnade, weil sie von Gott stammt; deshalb ist Partizipation ein Recht, das unter Menschen gelten muss, auch und gerade in der Kirche.
Die Pandemie hat viele Selbstverständlichkeiten der Teilhabe am kirchlichen Leben in Frage gestellt, vor allem den gemeinsamen Gottesdienstbesuch, mit Leib, Geist und Seele, mit Gebet und Gesang, mit Weihwasserkreuzzeichen und Friedensgruß, sogar mit der heiligen Kommunion. Die pastorale Infrastruktur ist an ihre Grenzen geführt worden. Viele Kranke und Sterbende, die des Trostes bedurft hätten, konnten kaum erreicht werden. Vielen Menschen, die ihre Arbeit verloren haben, konnte kaum geholfen werden. Vielen Familien fehlt es an moralischer, sozialer und finanzieller Unterstützung. Aber es haben sich auch neue Formen der aktiven Glaubenskommunikation entwickelt, neue Formen der Teilhabe: digital und analog. Mehr denn je hat sich gezeigt, dass der Glaube, die Liebe und die Hoffnung zählen: der Glaube, der die Sprache des Betens beherrscht; die Liebe, die heute die Samariterdienste leistet; die Hoffnung, die über die Mauern der Quarantäne und die Grenzen des Todes hinaus die Verbindung hält – mit Gott und vor Gott mit anderen Menschen.
Thomas Söding rekonstruiert den biblischen Leitbegriff der Teilhabe und seine programmatische Verwendung beim Apostel Paulus. Julia Knop untersucht die Wiederentdeckung des Begriffs im Zweiten Vatikanischen Konzil und konkretisiert ihn an einem seiner wichtigsten Fundorte: der actuosa participatio in der Liturgiekonstitution. Stephan Haering OSB zeichnet nach, was Teilhabe im kirchlichen Gesetzbuch meint. Thomas Sternberg charakterisiert, welche Rolle das Zentralkomitee deutscher Katholiken gespielt hat und spielt, eine der weltweit wenigen Laienorganisationen, die sich sowohl um politische, soziale und kulturelle als auch um kirchliche Themen kümmern. Nora Gomringer dichtet eine Litanei der Glaubens- und Selbstbekenntnisse: «Ich bin die Christin, die zu ihrem Gott hält, wenn er sich outet und alles sich wendet.»
Alle Beiträge in den Perspektiven haben indirekte Bezüge zum Leitthema Participatio. Sie spiegeln, dass es bei weitem nicht nur ein kirchliches, sondern auch ein gesamt-theologisches, ein ethisches, ein gesellschaftliches, ein politisches, ein kulturelles Thema ist. Manfred Spieker schreibt über Triage-Ethik, Bischof Franz-Joseph Overbeck und Alexander Merkl erörtern konstruktives Konfliktmanagement, Brigitte Knipp denkt über Ernst Meister nach und Melanie Eleonora Carafa reflektiert über Trinität.
Der erste Perspektiven-Beitrag, über das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Assistenz bei Suizid, stammt von Eberhard Schockenhoff. Am 18. Juli 2020 ist er in Folge eines häuslichen Unfalls gestorben. Seit 25 Jahren hat er regelmäßig für diese Zeitschrift geschrieben. Im nächsten Heft wird Franz-Josef Bormann, einer seiner Schüler, einen Nachruf veröffentlichen.
Im Gospel, den Aretha Franklin singt, weitet sich zum Schluss der Blick: für Teilnahme und Teilhabe über den Tod hinaus. Das Vaterunser klingt an, die Reich Gottes-Verkündigung Jesu wird wach – die Verheißung, die der Kirche mit auf den Weg gegeben ist, wird zum Lied:
For those we lose before their time
I pray that their souls will find the light
I know that the day will surely come
When His will, His will, will be done.
Für alle, die wir zu früh verloren,
bete ich, dass ihre Seelen das Licht finden.
Ich weiß, der Tag wird sicher kommen,
dass Sein Wille, Sein Wille, getan wird.
Was folgt, ist ein letztes, ein immer neues Zeugnis: «Never gonna break my faith / Oh you ain’t gonna break my faith.»