Simone Weil (1909–1943) ist in Frankreich in den klassischen Rang einer Philosophin, politischen Theoretikerin und Mystikerin aufgestiegen, aber im deutschen Sprachraum muss sie trotz vieler Einzelarbeiten immer wieder gegenwärtig gehalten werden. Das mag auch den jetzigen Rückblick auf ein schon 2018 erschienenes Buch erklären.
Weils relative Unbekanntheit liegt einerseits an ihrem stark aphoristischen Denken, dessen innere logische Verknüpfung gesucht werden muss. Es liegt andererseits auch an ihren dunklen Themen, die ein langsames, eingehendes Lesen erfordern: das Böse und das Leiden. Und es liegt an ihrer Nähe zu Christus, die so unorthodox ist und ihn so eigenartig auch in anderen Religionen, Mythen und sogar in Grimms Märchen (!) sucht und nicht selten auf befremdliche Weise findet.
Jedoch: Wer sich einmal auf Simone Weil eingelassen hat, wird sie immer wieder zur Hand nehmen. Dazu bedarf es einer Hinführung, denn diese früh verstorbene Denkerin entwickelt ihre Thesen in großen Gedankenbögen, zuweilen in Sprüngen, die nicht selten ins Radikale stürzen.
Einige der herben Themen dieses fruchtbaren, scharfsinnigen Denkens hat die deutsch-amerikanische Weil-Forscherin Marie Cabaud-Meaney für die gegenwärtige deutschsprachige Generation freigelegt und kritisch begleitet. In einem schmalen, aber inhaltlich gewichtigen Band werden die Thesen Weils zum Bösen, zum Krieg und zur Religion mit dem sicheren Griff einer langjährigen gründlichen Einarbeitung vorgestellt.
Zur Sprache kommt darin ein Leben, das von der Erfahrung der «Schwerkraft» des Daseins beherrscht war. Weils Lebenszeit vollzog sich in Europas dunkelsten Stunden des 20. Jahrhunderts: Zwei Weltkriege, der spanische Bürgerkrieg (in dem Weil freiwillig zum Einsatz kam) und drei totalitäre Regime, kommunistisch, faschistisch, nationalsozialistisch, verfinsterten den Kontinent. Als die junge Frau mit 34 Jahren im englischen Exil in Ashford bei London an Tuberkulose und Auszehrung starb, war noch keine Rettung in Sicht. In vielen individuellen Brechungen wurde das Los von Millionen anderer Menschen, Unschuldiger und Schuldiger, geteilt. Simone Weil aber erlitt es nicht nur, sondern war durch Anlage und akademische Ausbildung in der Lage, dem Unheil und dem Quälenden Ausdruck und Deutung zu geben. Das heißt immer auch: das Böse gedanklich zu durchdringen und damit im Ansatz zu überwinden. Ihr Charisma verband sich mit einem philosophisch und logisch geschulten Denken, das in den letzten Jahren von mystischen Begegnungen mit Christus erleuchtet wurde und immer tiefer in das Geheimnis des Bösen eindrang, vor allem kraft ihres Leidens, das sie mit dem Crucifixus zu verbinden lernte. Daraus entstand ein Werk, nicht umfangreich, aber in vielen Facetten auffunkelnd, das einzigartig ist und in seinen schroffen, oft unvermittelten Aussagen bestürzt – aber auch anzieht, überzeugt, die Wahrheit des Erlebten aus sich selbst heraus zeigt.
Wie kam die im liberalen Judentum erzogene Agnostikerin zu einer solchen Tiefe? Sie war in ihrer selbstverständlichen Glaubenslosigkeit erschüttert worden durch mehrere Begegnungen mit einer Macht, für die sie zunächst keinen Namen hatte. Diese Macht übersinnlich zu nennen, trifft nur ungenau, denn immer wurde sie im Sinnlichen wirksam – Simone Weil ist, vermutlich aufgrund ihrer von Kind an geübten freiwilligen Askese, außerordentlich empfänglich für Sinnlichkeit, vor allem im Gewand der Schönheit. Aus ihrer Zeit in Marseille 1941 stammt ein geheimnisvoller Prolog, in welchem «jemand» (im französischen Text maskulin) für unbestimmte Zeit «von Ihm» in eine Dachkammer mitgenommen wird; dort ereignet sich nur sinnlich-reales Tun: Essen, Trinken, auf dem Fußboden Schlafen, Sprechen. Bis Er seinen Gast die Treppe hinunterstößt und ins Normale zurückwirft.
Der schwer auszudeutende Prolog könnte so gelesen werden, dass die erzwungene Loslösung von dem gnadenhaft Schönen und die schmerzliche Rückkehr in die bürgerlichen «Salons voller Nippes» unabdingbar ist, genauer noch: sogar einen Befehl aus der übernatürlichen Welt darstellt.
Also ein Denken, Urteilen, Leben aus dem Übernatürlichen? Tatsächlich stabilisiert bei Weil das Ewige das Zeitliche: «Ein höchstes Gut, das heißt ein Gut, das jedes mögliche Gut einschließt. […] Das bedeutet, daß es keine Unvereinbarkeiten zwischen verschiedenen Gütern gibt. Man verzichtet um des höchsten Gutes willen nicht auf ein begrenztes oder zweitrangiges Gut. […] die Güter sind gut nur als Schatten des höchsten Gutes.» (Cahiers 4, 8) Niemals ist daher das Ziel allen Tuns aus dem Auge zu verlieren, das Simone Weil mit Platon formuliert: das Gute, oder in seiner politischen Verwirklichung: das Gerechte. Es wird jedoch nicht einfach als Transzendentes, sondern als wirklich und wirksam für die Welt, gegen das «Große Tier» der Ideologien, eingefordert: «Der Gegenstand meiner Suche ist nicht das Übernatürliche, sondern diese Welt. Das Übernatürliche ist das Licht.» (Cahiers 2, 49) Analog: «Man darf nicht vergessen, daß eine Pflanze von Licht und Wasser lebt, nicht von Licht allein. Es wäre also ein Irrtum, nur auf die Gnade zu zählen. Es braucht auch irdische Energie.» (La connaissance surnaturelle, 1950, 321)
Moralität und Humanität wurzeln in einer geistigen Gemeinschaft von einzelnen (niemals der Masse), die sich der fast unausweichlichen Verführung durch das Böse entziehen. Erst dann kann das Licht wirklich einbrechen. Sich freimachen von der Masse ist die Einfallsstelle von Gnade; sie ist es, die die Notwendigkeit dieses irdischen Daseins bearbeitet. Nichts kann sich selbst von seiner Schwerkraft befreien, es sei denn durch götzenhaften Ersatz, den Raub von Freiheit.
So leistet Simone Weil Kritik an der tauben Selbstherrlichkeit des Daseins. Immer ist es aufzubrechen oder wird bereits gebrochen, in der Regel unfreiwillig, durch Verwundung. Politischer Kampf gegen Ungerechtigkeit und Benachteiligung bleibt in dieser Hinsicht selbstverständlich Aufgabe des Handelns. Dennoch greift auch hier Weils Grundüberzeugung: Die eigentliche menschliche Verletzung kann überhaupt nicht in den Kategorien des politischen Wirkens und der gesellschaftlichen Gerechtigkeit bearbeitet werden. Eine solche Überschätzung des Irdischen hält die Wunde offen, statt sie zu schließen.
Die Wunde menschlicher Sklaverei kann wirklich nur im Übernatürlichen geheilt werden. Simone Weil lehrt einen Vorbehalt: Hiesiges Tun und Verändern ist zwar notwendig, bleibt aber vorläufig und kontingent. Eine solche Sicht entlastet keineswegs einfachhin vom Handeln, aber sie entzerrt das gewalttätige Verändern-Wollen. Säkulare Heilsideologien können so – im Blick auf Christus - immer erneut auf ihren totalitären Kern hin kritisiert werden. Simone Weils Analysen erlauben, ja fordern politische Optionen, verhindern aber Fundamentalismen, auch solche der «Befreiung». Denn auch das Böse, gerade das Böse, verspricht «Befreiung», ausdrücklich sogar Humanität. Aber die Nachfolge ins Leiden, die Weil wählt, verbietet Scheinlösungen und lenkt auf den wirklichen, wirksamen (Er)Löser hin.
Es gibt auch heute in technisch gesteigertem Maße die Versuchung, subjektlose Prozesse freizusetzen, für deren Steuerung niemand mehr zuständig ist. Der Schrei des Widerwillens gegen das «Große Tier» in all seinem Gestaltwandel ertönt in der Auslegung Weils wieder mit überzeugenden Argumenten. Und es gibt auch heute einen Relativismus der Religionen, der die unvergleichliche Kraft der jüdisch-christlichen Offenbarung einebnen will. Bei Weil ertönt der Ruf nach Christus mit aller persönlichen, hingebungsvollen Stärke.
Weils Gedanken, die aus dem damaligen Zerfall in die gegenwärtige Unklarheit hineingesprochen werden, machen Mut aus ihrer dezidierten Verankerung in einer göttlichen Macht. Die Analyse öffnet die Augen – für die undurchschauten Verführungen des Bösen und für die Schönheit, ja, die unwiderstehliche Freiheit Christi. Fazit: Wer die mittlerweile alt gewordene Moderne überholen will, muss ihren Unglauben überholen.