Die «Gottesanbieterin»

Wofür sind Gedichte eigentlich gut, wurde Nora Gomringer vor einiger Zeit gefragt. «Zur Fortifizierung, zur Selbststärkung, zur Erbauung», lautete ihre Antwort. Wie gut sich ihre eigenen Gedichte als «Kräftigungsmittel» in unsicheren Zeiten eignen, stellt die Bamberger Lyrikerin in ihrem aktuellen Band unter Beweis. Der ungewöhnliche Titel des 96 Seiten umfassenden Werkes ist Programm: «Gottesanbieterin». Auf einen Iota-Streit sollte man sich mit der Künstlerin nicht einlassen. Sie legt Wert auf den Unterschied zwischen anbieten und anbeten, auch wenn der Verlag mit dem silbrig glänzenden Cover des Bandes, auf dem sich zwei Füßchen eines Insekts rekeln, mit der semantischen Doppeldeutigkeit gekonnt spielt. Der Klappentext verrät dazu: «Vor vielen Jahren traf die Dichterin Gomringer auf eine besonders große Heuschrecke im US-amerikanischen Hinterhof ihrer damaligen Gastfamilie. Es war diese einstündige Begegnung des Schweigens und Beobachtens mit einer Gottesanbeterin, die Gomringer immer wieder zu Fragen an ihren Glauben und die Vielgestaltigkeit von Religion geführt haben, jenem ‹geschmacksverstärkenden, mal verträglichen, mal unverträglichen Glutamat des Seins›.»

Gomringer wird nicht nur als «quecksilbriges und kraftstrotzendes Naturtalent» (Sibylle Lewitscharoff ) gepriesen, seit zehn Jahren leitet sie auch das internationale Künstlerhaus Villa Concordia in Bamberg und zählt trotz ihres jungen Alters ( Jahrgang 1980) längst zu den renommiertesten Sprechkünstlerinnen des Landes. Außergewöhnlich ist ihr ungebrochenes Bekenntnis zur Religion: «Ich bin Autorin und Christin und man liest es mir an.»
Die 37 Gedichte und kurzen Prosatexte sind in fünf Kapitel unterteilt, die als «Zeugnis», «Angebot» oder «Nochfragen» den Titel des Bandes fortspinnen. Der Cantus firmus des Bandes ist die Religion, die sich bei Gomringer nicht vom alltäglichen Leben trennen lässt. Es geht daher in den Texten immer auch um Liebe, Sexualität, die großen und kleinen Freuden, die das Leben erträglich machen. Aber auch vor Schmerz, Krankheit und Tod schreckt die Lyrikerin, die ihre künstlerischen Wurzeln im Poetry-Slam hat, nicht zurück. Der aktuelle Band ist einem jung gestorben Freund gewidmet, dem sie mit ihren Zeilen ein lyrisches Denkmal der Erinnerung setzt.

[…] Sie sagen: Das Vergessen hat die Zähne eines Haifischs.
Ich tipp dir leise: das Erinnern auch.

(aus «Das Vergessen hat die Zähne eines Haifischs», 35)

Wo kann man heute noch Gott begegnen? Folgt man Gomringer, die sich eines frischen wie unprätentiösen Tones bedient, aber nie auf falsches Pathos setzt, führt der Weg in die Liturgie, selbst Gotteshäuser werden zum Gegenstand ihres Dichtens. Außergewöhnlich ist etwa das kleine Gedicht mit dem sperrigen Titel «Des Architekten Zumthor Bruder-Klaus-Kapelle» (20), in dem sie sich der berühmten Kapelle des Schweizer Stararchitekten Peter Zumthor nähert, bis aus der Raum- eine Gotteserfahrung wird.

[…] teilt sich das Heilige
durch dein Betrachten
deinen Sinnen mit

wirst Teil eines Wandlens
wirst Teil eines Wunderns
wirst, wirst, wirst

weit
über dich hinaus

Bis heute wird die deutschsprachige Nachkriegsliteratur von einer einflussreichen Ministrantenfraktion geprägt, deren Vertreter schon früh mit dem katholischen Gottesdienst in Berührung kamen. Obwohl viele den Glauben aus Kindheitstagen längst aufgaben, trauern sie mitunter der rituell-ästhetischen Welt von gestern nach und protestieren lautstark gegen die Erneuerungen der letzten Jahrzehnte. Ihr wohl bedeutendster Vertreter ist Peter Handke, aber auch Martin Walser, Arnold Stadler oder Christoph Ransmayr wären zu nennen. Lange herrschte die Meinung vor, dass die liturgisch inspirierte Literatur nach dem Tod dieser ehemaligen Ministranten aus der Literatur verschwinden würde. Mit Nora Gomringer hat jedoch eine Ministrantin, so etwas wäre in den unmittelbaren Nachkriegsjahren völlig unmöglich gewesen, die literarische Bühne betreten und schreibt die alte Tradition auf ihre Weise fort. Im letzten Gedicht «Applaus» (95), das Gomringer augenzwinkernd ihr «Glaubensbekenntnis» nennt, heißt es: «Ich bin die Christin, / die an zu viel Weihrauch, nicht an zu wenig sterben möchte.» Dass es ihr im Christentum aber nicht bloß um die ästhetische Außenseite von Ritualen geht, stellt sie schon ein paar Zeilen darüber klar: «Ich bin die Christin, / die ernst macht mit der Liebe für den immer Nächsten.»

Die entscheidende Wendung des Bandes lautet Wandlung. In der Eucharistie erkennt Gomringer eine religiöse wie anthropologische Uroperation, auf die sie in ihrer Dichtung nicht verzichten möchte. Weder ganz neu, noch von den literarisch interessierten Theologen unentdeckt geblieben, ist ihr Gedicht «Man siehts» (80), das nun aber erstmals in einem eigenständigen Lyrikband der Dichterin veröffentlicht wird.

Man siehts
Die Messe biegt in ihre 40ste Minute,
als gewandelt wird.
Das Wasser in Wein zu Blut,
Das Brot als Hostie zu Leib.
Glockenklingel, Ministrant tritt immer hinten auf die Kutte,
wenn er sich erhebt.
Da ist viel Leib am Werk.
Jesus, ein Fremder an einem Holzkreuz,
hat einen schlimmen Schnitt in der Seite.
Seit tausenden Jahren verbindet den keiner.
Das ist schon fahrlässig.
Ein Mann wie ein Briefkasten dadurch.
Kummerkasten aus Holz mit Schlitz.
Gut, dass hier alles gewandelt wird.
Werden Sorgen Gesänge.

Seit Gottfried Benn gilt Gott als «ungünstiges» und «schlechtes Stilprinzip» in der Dichtung. Bei Gomringer kehrt er in Gestalt von Brot und Wein zurück. Seit Jahrzehnten hat es kein bedeutender Dichter mehr gewagt, die Eucharistie so wirkmächtig ins Wort zu nehmen. Wie gelingt es Gomringer, die alten Bilder der Messfeier für die Poesie zu retten? Es sind die Wandlungsgänge – damit meine ich die wechselseitigen Transformationen von Liturgie und Leben – zwischen den alten Bildern der Liturgie und den modernen Lebenserfahrungen einer Ministrantin, die der jungen Dichterin in den Sinn kommen. Die Realpräsenz wird hier in dreifacher Weise eingeblendet: Zunächst in ihrer eucharistischen Ausprägung als Wandlungsgeschehen von Wein und Brot, an dessen Wunder wir uns vielleicht in der Liturgie allzu sehr gewöhnt haben. Dann als historischer Leidensleib Jesu, der realistisch als leidender Körper und Objekt der Fürsorge kopfschüttelnd und mit Befremden betrachtet wird: Seit tausenden Jahren verbindet den keiner – aus Theodizee wird Anthropodizee. Und schließlich wird der Leib als Kunstwerk assoziiert, wie er als Kruzifix aus den Epochen der Kunstgeschichte in unseren Köpfen präsent ist. Mit der ungewöhnlichen Metapher des Kummerkastens aus Holz mit Schlitz, der als Briefkasten die großen Fürbitten der Welt aufnehmen soll, wird der Leib wieder zurück ins eigentliche Leben übersetzt. Und endlich die Wandlung aller Sorgen in den Gesang. Besser könnte man das Mysterium fidei nicht in die Sprache nehmen.

Gomringers Gedichte wirken so kraftvoll, weil sie vom ungewöhnlichen Lebensgefühl geprägt sind, dass sich Christentum und Zeitgenossenschaft nicht ausschließen. In einem Interview darauf angesprochen, ob die Kirche noch zu retten sei, meinte sie lapidar: «Man muss eben, wie immer in einer Krise, zunächst innehalten, Innenschau halten, und dann wieder langsam Luftwurzeln ausschlagen und von woanders her wieder alles zusammenfügen.» Wer eine Ahnung davon bekommen möchte, was es bedeutet, Innenschau zu halten, um das Christentum neu zu arrangieren, der ist mit Gomringers «Gottesanbieterin» mehr als gut bedient.

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Nora Gomringer

Gottesanbieterin

Voland & Quist: Berlin – Dresden – Leipzig 2020, € 20,-