Barmherzigkeit - das theologische Testament von Johannes Paul II.

Johannes Paul II. wäre in diesem Jahr hundert Jahre alt geworden. Unvergessen ist, dass er am Ende seines Lebens zu einer Ikone des Gebrechens geworden ist, die auch kirchendistanzierte Kreise und Agnostiker menschlich berührt hat. Seine Hinfälligkeit, sein Nicht-mehr-Sprechen-Können hat er öffentlich gezeigt, als er am Ostersonntag 2005 stumm den Segen orbi et urbi erteilte. Für einen Augenblick hat er so die Imperative der westlichen Kultur, jung, schön, fit und erfolgreich zu sein, heilsam unterbrochen. Vielleicht mehr noch als in seinen unzähligen Ansprachen und Predigten ist er im stummen Leiden zu einem Zeugen der Transzendenz geworden. Der Tod ist nicht der letzte Horizont. Es gibt etwas darüber hinaus. Diese Botschaft, dass das Leben an Lebendigkeit verliert, wenn Altern und Sterben tabuisiert und ausgeblendet werden, ist gerade in Zeiten der Corona-Pandemie von ungebrochener Aktualität.

Anlässlich seines 100. Geburtstags sind in den Medien die Licht- und Schattenseiten des Pontifikats von Johannes Paul II. (1978–2005) ausführlich gewürdigt worden. Die politischen Verdienste um den Zusammenbruch des Sowjetsystems, das interreligiöse Engagement, aber auch die großen symbolischen Gesten wurden vor allem herausgestellt. Karol Wojtyła, der erste Slawe auf der cathedra Petri, hatte ein waches Gespür für Religions- und Gewissensfreiheit. Bei seinen Reisen in das kommunistische Polen hat er die Gewerkschaft Solidarność offen unterstützt und durch seine angstfreien Auftritte den Zusammenbruch des Sowjet-Regimes beschleunigt. Im Gespräch mit anderen Religionen war er den meisten akademischen Theologen voraus. Als erster Papst der Geschichte hat er 1986 die Große Synagoge von Rom betreten und das Wort von den Juden als «älteren Brüdern im Glauben» geprägt. Auch hatte er 2001 keine Probleme, die Umayyaden-Moschee in Damaskus zu besuchen. Noch zur Zeit des kalten Krieges hat er Vertreter anderer Religionen 1986 zu einem Weltgebetstreffen in Assisi eingeladen, um Frieden und Gerechtigkeit zu fördern. Wo andere bremsten und nicht ohne Grund die Gefahr des Synkretismus witterten, ist er vorangegangen, ohne je einen Zweifel daran zu lassen, dass für ihn Jesus Christus und niemand sonst der Friede in Person ist. Im Vorfeld der Jahrtausendwende hat er der Kirche eine Reinigung des Gedächtnisses (purificazione della memoria) verschrieben und im Jubiläumsjahr selbst vor den Augen der Weltöffentlichkeit für die kirchlichen Verfehlungen um Vergebung gebeten. Durch sein charismatisches Auftreten hat er bei unzähligen Auslandsreisen für das Evangelium geworben und die Weltjugendtage zu Multiplikationsforen des Glaubens gemacht. Die vielen Selig- und Heiligsprechungen hat er als Instrument pontifikaler Erinnerungspolitik eingesetzt. Jede Ortskirche sollte eigene Zeugen des Glaubens verehren können.

Daneben sind auch die Schattenseiten nicht zu vergessen. Seine Politik der Bischofsernennungen, die manche Ortskirche gespalten hat, sein autoritärer Führungsstil innerhalb der Kirche, die wachsenden Dissonanzen mit der akademischen Theologie, die einer differenzierten Behandlung bedürften, sein gebrochenes Verhältnis zu den modernen Gesellschaften des Westens, die er durch Stichworte wie Subjektivismus, Relativismus und Konsumismus gekennzeichnet hat. Vor allem seine Unfähigkeit oder sein Unwille, das Drama des sexuellen Missbrauchs durch Kleriker in seinem abgründigen Ausmaß wahrzunehmen und aufzuarbeiten, beschäftigt die Kirche noch heute.

Bei all diesen Bilanzen ist der theologische Hintergrund seines Denkens kaum angemessen ausgeleuchtet worden. Im Zentrum seiner Theologie steht der Begriff der Barmherzigkeit (misericordia), der in der scholastischen Theologie in den Hintergrund gerückt wurde, obwohl er in der Heiligen Schrift und auch bei den Kirchenvätern eine prominente Rolle spielt.1 Barmherzigkeit und Mitleid mögen in der Alltagssprache heute einen altmodischen Klang haben. Der Paternalismusverdacht steht schnell im Raum, wenn von Mitleid die Rede ist, auch ist seit Karl Marx die Kritik geläufig, dass eine Praxis der Barmherzigkeit Unrechtsstrukturen eher stabilisiert, anstatt sie zu überwinden. Friedrich Nietzsche meinte gar, Gott sei an seinem Mitleid mit der Welt gestorben.

Unbeschadet dieser Vorbehalte hat Johannes Paul II. bereits seine zweite Enzyklika Dives in misericordia (1980) dem Thema des bedrohten Menschen und der Kraft des Erbarmens gewidmet. Der polnische Papst sah in der Barmherzigkeit die Antwort Gottes auf das Drama der Geschichte und die Abgründe menschlicher Bosheit. Diese theologische Weichenstellung ist eigentlich erstaunlich, wenn man bedenkt, dass Karol Wojtyła in der Nähe von Auschwitz aufgewachsen ist, dass er als Student im Untergrund, als junger Priester und Bischof in Krakau die brutale Gewalt der beiden politischen Diktaturen des 20. Jahrhunderts hautnah miterlebt hat. Trotz der barbarischen Exzesse des Bösen hat Wojtyła keine Theologie der Anklage oder gar der Gottesbeschuldigung entwickelt, sondern einen theologischen Optimismus vertreten. Dieser gründet im Staunen über die Schönheit und Ordnung der Schöpfung, wie er sie zuletzt im Römischen Triptychon poetisch zum Ausdruck gebracht hat, stützt sich aber auch auf das «Urgeheimnis der Liebe», wie es aus der Offenbarungsgeschichte Gottes dem Menschen entgegentritt. Im Jubiläumsjahr 2000 hat der Optimismus des Pontifex beinahe triumphalistische Züge angenommen, die nur dadurch abgemildert wurden, dass er sie immer wieder auf die rettende und versöhnende Kraft des Kreuzes rückbezogen hat.

Wojtyła war der Grundüberzeugung, dass die Macht des Bösen grundsätzlich gebrochen und der Sieg des Guten seit der Auferstehung des Gekreuzigten unaufhaltsam ist. Die Brüche der Geschichte haben ihn nicht daran gehindert, an die göttliche Vorsehung zu glauben, von der er meinte, sie würde dem Ausbruch des Bösen klare Grenzen ziehen. Zugleich hat er sich geweigert, die Akteure des Bösen, die Henker, Peiniger und Mitläufer der Diktaturen des 20. Jahrhunderts aus dem eschatologischen Hoffnungshorizont herauszunehmen. Mit der Option, für alle zu hoffen, hat er die jahrhundertealte Tradition des Heilspartikularismus vorsichtig relativiert, die mit dem hl. Augustinus, den Jansenisten, aber auch mit Luther und Calvin einfach davon ausging, dass die meisten Menschen verlorengehen und nur wenige gerettet werden. Dagegen setzt der polnische Pontifex den Kontrapunkt, dass der Radius der göttlichen Barmherzigkeit nicht vorschnell eingeschränkt werden dürfe, da Gott selbst auf Golgatha die Schuld der Welt auf sich genommen habe und den Verlorenen nachgegangen sei. In seinem Gesprächsband «Die Schwelle der Hoffnung überschreiten» (1994) hat Johannes Paul II. offen gelegt, dass sein Eintreten für den Heilsuniversalismus maßgebliche Impulse dem Schweizer Theologen Hans Urs von Balthasar verdankt, den er kurz vor dessen Tod noch zum Kardinal ernannte. Balthasar war in den 1980er Jahren in einen heftigen Disput über die Hölle verwickelt. Seine Gegner, die mit Verweis auf entsprechende Bibelstellen und Zeugnisse der Tradition die These vertraten, dass die Hölle dicht bevölkert sei, hat Balthasar mit der ihm eigenen Scharfzüngigkeit «Infernalisten» getauft.2

Natürlich hat Johannes Paul II. die Realität der Hölle nicht geleugnet, das hätte ihm den Ruf eines häretischen Papstes eingetragen. Allerdings hat er die Hoffnung angedeutet, dass diese aufgrund des göttlichen Erbarmens leer sein könnte. Wenn der Richter zugleich der barmherzige Anwalt der Verlorenen sei, sei es nicht ausgeschlossen, dass ausnahmslos alle im Haus des Vaters ankommen. Mit dieser Deutung des Gerichts, bei dem alles nackt und bloß vor dem Auge Gottes liegen wird, ist eine Abkehr von der Vorstellung eines aktiv strafenden Gottes verbunden, die in der Tat den Glauben an einen barmherzigen Gott verdunkeln könnte. Hölle, das wäre, wenn überhaupt, der selbstgewählte Gottesverlust des Menschen, der sich dem Gnadenangebot Gottes definitiv verschließt, nicht aber ein postmortales KZ mit infernalischen Strafen.

Der Heilsoptimismus von Johannes Paul II. ist nicht mit einer Theologie der billigen Gnade zu verwechseln, die das Unrecht wegwischt, ohne es aufzudecken und kritisch aufzuarbeiten. Vielmehr versteht er die Barmherzigkeit als andere Seite der Gerechtigkeit. Die reine Anwendung der Gerechtigkeit könnte in neue Ungerechtigkeit umschlagen, wenn sie begangenes Unrecht einfach mit äquivalenten Strafen vergelten würde. Daher will Wojtyła die Aufrichtung der Gerechtigkeit mit Barmherzigkeit verbunden sehen, die dem anderen in seiner Schuld gerecht werden will, der als Person mehr und anders ist als die Summe seiner Verfehlungen. Der dunkle Abgrund des Vergangenen muss also noch einmal durchschritten werden – allerdings im Licht der Barmherzigkeit.

Verschleiert aber eine solche Theologie der Barmherzigkeit nicht allzu leichtfertig die abgründigen Differenzen zwischen Henkern und Opfern? Johannes Paul hat Vergessen und Verdrängen als Strategien der Vergangenheitsbewältigung abgelehnt und zugleich für einen Weg des Verzeihens geworben. Es ist nicht leicht, «das Böse zu vergessen, das man unmittelbar erfahren hat. Man kann es nur verzeihen. Und was bedeutet verzeihen, wenn nicht, sich auf das Gute zu berufen, das größer ist als jegliches Böse? Diese Gute hat schließlich sein Fundament allein in Gott.»3 Denn «Gott ist immer bereit, zu verzeihen und den sündigen Menschen erneut gerecht zu machen.»4 Diese Reflexion ist nicht abstrakt geblieben. Johannes Paul, der 1981 beinahe durch ein Attentat zu Tode gekommen wäre, hat seinen Attentäter Ali Agca im Gefängnis besucht und ihm verziehen. Dadurch hat er deutlich gemacht: Der Täter ist mehr als die Summe seiner Untaten. Er sollte nicht auf seine Vergangenheit festgelegt werden, sondern die Chance des Neuanfangs erhalten.

Die Förderung einer Kultur der Barmherzigkeit war Johannes Paul II. so wichtig, dass er sie in das kollektive Gedächtnis der Kirche eingeschrieben hat. Gegen anfängliche Bedenken des damaligen Präfekten der Glaubenskongregation, Joseph Ratzinger, hat er den Sonntag nach Ostern zum «Sonntag der Barmherzigkeit» im Anschluss an die Ordensschwester und Mystikerin Sr. Faustina Kowalska erklärt. Eine Woche, nachdem er auf der Loggia des Petersplatzes den stummen Segen erteilt hatte, ist der gebrechliche Pontifex genau an diesem Datum gestorben, als wolle er der Welt das Testament hinterlassen, dass etwas fehlt, wenn Barmherzigkeit fehlt. Dieses Vermächtnis könnte das Reizklima des Rechthabenmüssens in Kirche und Gesellschaft heilsam unterbrechen und auch diejenigen, versöhnlich stimmen, die mit den Schattenseiten des Pontifikats bis heute ringen.

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