Heinrich Detering

Wasserläufer

die Spannung unter den Füßen
die ihn trägt ohne dass er auch nur
die kleinste Spur hinterließe
ganz ohne jede Spur

das feste glatte Wasser
die schwerelosen Füße
das flüchtigste Spiegelbild
kein Oben kein Unten bloß

diese leichteste Berührung übers
Wasser zu laufen das Wunder
ist so einfach und niemand
macht es nach

* * *

Es gibt zu wenige Literaturwissenschaftler, die sich in dem Feld, das sie untersuchen, auch selbst versuchen. Nicht, dass dabei Meisterwerke herauskommen müssten, aber es könnte zumindest den literarischen Sinn der Literaturwissenschaftler selbst fördern. Bei der Lektüre mancher Forschungspublikationen kann man ja den Eindruck gewinnen, dass es einigen daran mangelt. Viel zu technisch-philologisch, akademisch-politisch, diskurs-bürokratisch geht es darin zu – wie in der Theologie.

Zu den wenigen Ausnahmen gehört der Göttinger Germanist Heinrich Detering. Er schreibt seit Jahren auch selbst Gedichte. Das merkt man seinen wissenschaftlichen Arbeiten an, zum Beispiel seiner großartigen, in diesem Jahr erschienenen Monographie «Menschen im Weltgarten. Die Entdeckung der Ökologie in der Literatur von Haller bis Humboldt». Hier wird nicht einfach ein aktueller Forschungsstand dokumentiert, sondern mit existentieller Dringlichkeit und ästhetischem Gefühl ein Buch über Bücher, Literatur über Literatur geschrieben.

Deterings Gedichte kommen zumeist schlicht und schlank, elegant und oft im tieferen Wortsinne witzig daher. Einige sind mir jedoch – mit Verlaub – zu gelehrt, weil sie von – wenn auch stets interessanten – Bildungsgütern handeln. Ich ziehe es vor, wenn im Gedicht selbst alles da ist, auf nichts außerhalb seiner verwiesen wird, das man kennen müsste, weil die Verse allein genügen, um ein Bild aufscheinen lassen, das mich dazu anregt, es weiterzumalen. Deshalb mag ich dieses Gedicht über einen Wasserläufer so sehr.

Es zeichnet mit wenigen einfachen und präzisen Worten das Bild eines Insekts, das so leicht gebaut ist und so raffiniert die Oberflächenspannung auszunutzen weiß, dass es über Wasser gehen kann. Beim Lesen treten mir Erinnerungsbilder vor das innere Auge, wie ich Sommers in einem See schwimme – nicht einem verchlorten Schwimmbad – mit langsamem Brustzügen durch das grüne Wasser ziehe und vor mir Libellen und eben Wasserläufer auftauchen. Wie ich sie bestaune und beneide: die Libelle, weil sie in der hellen Luft stehen kann, und den Wasserläufer, weil er vermag, was sein Name behauptet. Unterlegen fühle ich mich ihnen und freue mich umso mehr über ihre freundliche Schwimmbegleitung.

Nach dem ersten Lesen habe ich gedacht, ob dies nicht auch ein Bild für die Kunst sein könnte. Ist nicht ein Kunstwerk wie ein Wasserläufer, das nicht in dieser Wirklichkeit aufgeht, in ihr untergeht, sie wohl berührt, aber nicht anhaftet, weil es die bleiernen Gesetze der Natur nicht anerkennt, die Hierarchien von oben und unten mit einer federleichten Bewegung umstürzt? Das wirkt so einfach, aber es ist eine Kunst – das heißt: So etwas gelingt nur wenigen und auch diesen sehr selten. Oder bin ich da zu metaphernsüchtig?

Sodann bin ich über das Wort «Wunder» ins Grübeln gekommen. Ich kann eben selbst beim Gedichtelesen den Theologen in mir nicht abstellen. Aber der Autor könnte das gewollt haben. Auf das Schönste nämlich unterläuft das Gedicht den Streit zwischen altem Wunderglauben und neuzeitlicher Wunderkritik. Wie dieses Tier über das Wasser läuft, ist wunderbar, aber nicht über- oder widernatürlich. Allerdings nimmt die naturwissenschaftliche Erklärung diesem Lauf nichts von seinem Zauber. Und dieser liegt im Auge des Betrachters und in der Sprache des Gedichts. Müsste man die Wundergeschichten der Bibel nicht ganz ähnlich lesen – also sich nicht in der fruchtlosen Streit «Mythos oder Entmythologisierung» begeben, sondern fragen, was diese Geschichten erzählend Wirklichkeit werden lassen wollen? Und das wäre etwas ganz Einfaches, nur leider macht es niemand nach.

Doch einen entscheidenden Unterschied zwischen diesem Wundergedicht und den Wundergeschichten Jesu gibt es. Letztere münden stets in Streit. Jesus hat einen Menschen geheilt, böse Geister vertrieben, ist übers Wasser gelaufen – doch die Freude der einen ist der Ärger der anderen. Denn jedes seiner Wunder stört die herrschende Ordnung, stürzt das religiös-moralische Oben und Unten um. Das Gedicht dagegen schließt mit interesselosem Wohlgefallen. Es ist eben ein Kunstwerk und keine Predigt.

Obwohl, legt man dieses Gedicht neben Deterings großes Buch über die ökologische Literatur des 18. Jahrhunderts, gewinnt es eine überraschende Schärfe. In «Menschen im Weltgarten» hatte Detering gezeigt, wie Haller, Linné, Lichtenberg, Goethe oder Humboldt davon schreiben, dass der Mensch das einzige Geschöpf auf Erde ist, das die Schönheit der Natur wahrnehmen und zugleich die Schöpfung zerstören kann. Da erscheint dieses Gedicht über den Wasserläufer wie ein kleiner, feiner Begleittext. Es zeigt an einem winzigen Details, wie zauberhaft, kostbar und verletztlich das Leben auf diesem Planeten ist.

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