Der Theologe, Religionsphilosophie und Publizist Thomas Brose ist ein katholischer Intellektueller, der immer wieder seinen Glauben in ein Gespräch mit der gegenwärtigen Kultur, mit Politik und Wissenschaft bringt. Engagiert folgt er dem Aufruf des 1. Petrusbriefes und gibt Rechenschaft von der Hoffnung, die in ihm ist. Brose hat nun ein Buch vorgelegt, das zur rechten Stunde kommt. Es handelt sich um, wie der Untertitel nahelegt, «Notizen», deren roter Faden darin liegt, dass sie Zeugnisse des eigenen Lebens- und vor allem Glaubens- und Denkweges sind. Von Hoffnung kann man ja gar nicht sprechen, wenn man nicht auch über sich selbst – das eigene Leben, den eigenen Glauben, das eigene Denken – spricht, über Erfahrungen, die man gemacht hat, über Widerstände, denen man begegnet ist, und über Chancen, die man ergriffen hat. Entstanden sind so Einblicke in das Leben eines ostdeutschen Katholiken – und sehr viel mehr.
Brose wuchs in einer «doppelten Diaspora» auf, nämlich nicht nur in einem in historischer Perspektive mehrheitlich protestantischen Teil Deutschlands, sondern in einem Land, für das der Atheismus im Zentrum der staatlichen Weltanschauung stand. «Tatsächlich war die DDR eine kirchenfeindliche Diktatur», so Brose im Vorwort. Un weiter: «Wenn es um ihr Machtmonopol ging, war sie dazu fähig, Gegner durch die Staatssicherheit zu zersetzen, ins Gefängnis zu werfen — auch noch jenseits ihrer Grenzen unbarmherzig zu verfolgen…» (9). Diese Erinnerung an den religionsfeindlichen und totalitären Charakter der DDR ist wichtig in einer Zeit, in der ein oft melancholischer Blick die Geschichte der DDR verklärt – so, als sei alles doch nicht so schlimm gewesen. Nein, verklären, so zeigt Brose an vielen Beispielen, darf man nichts. Schon seine Kindheitserinnerungen rufen dies ins Bewusstsein: Brose wuchs in der Spannung zwischen seiner christlichen Familie und der atheistischen Welt außerhalb der Familie auf. Seinen Glauben zu bezeugen und ihn sich in feindlicher Umgebung auch intellektuell anzueignen, war eine der wichtigsten Aufgaben des jungen Brose und «kein schmerzfreier Verstehensprozess» (19). Es überrascht nicht, dass Religionsfreiheit, Menschenwürde und das Verhältnis von Christentum und Politik Schlüsselthemen des Wissenschaftlers Brose sind. Er hat am eigenen Leib (und an eigener Seele!) erfahren, was es bedeutet, wenn diese grundlegende Freiheit eingeschränkt wird, der Staat die Würde des Menschen verletzt und politischerseits Christinnen und Christen diskriminiert werden.
Brose war jedoch auf seinen Wegen nicht auf sich allein gestellt. Er hatte nicht nur seine Familie und die Mitglieder seiner Gemeinde auf seiner Seite, sondern auch viele Wegbegleiter und Unterstützer, von denen der Berliner Denker prägnante und lebendige Porträts zeichnet: von Kardinal Bengsch, Bischof Spülbeck und Bischof Joachim Wanke über den Dichter Reiner Kunze, den Theologen und Philosophen Konrad Feiereis und den ZDF-Korrespondenten Joachim Jauer bis hin zum Dichter und Übersetzer Henry Bereska oder zu Eugen Biser und Helmut Kohl. In den Jahren nach der Wende wird er zu einem engagierten Verfechter katholischer Intellektualität in der Hauptstadt. Zusammen mit Biser ruft er die erfolgreichen Guardini-Lectures ins Leben und bringt so Guardini und sein Anliegen – die Deutung menschlicher Existenz aus religiöser Sicht und die Einführung in katholische «Weltanschauung» – in die universitäre Welt Berlins zurück.
Brose trägt die Überzeugung, dass der christliche Glaube nicht nur den Menschen innerlich betrifft, sondern auch die Gesellschaft und die Welt verändern kann. So weist er nachdrücklich darauf hin, dass bei der friedlichen Revolution von 1989 religiöse, vom Glauben und der Hoffnung des Evangeliums getragene Menschen ein große Rolle spielten. Wäre es verwegen, in diesem Ereignis auch ein «Wunder von biblische Ausmaß» zu erblicken? Eugen Biser hat diese – durchaus kontroverse, aber ohne Zweifel bedenkenswerte – Deutung vorgeschlagen, und Brose teilt aus persönlicher Erfahrung heraus diese Einschätzung des welthistorischen Ereignisses des Mauerfalls. Dabei zeigt er, dass auch nicht-gläubige Menschen etwas Besonderes, das nicht mit alltäglichen Kategorien zu fassen war, erfahren haben: «‹Wahnsinn!› – das war in dieser Nacht (scil. der Maueröffnung, H. Z.) die meistgebrauchte Vokabel. Wie sonst sollte man einem Gefühl völliger Überwältigung Ausdruck verleihen?» Was für Brose ein «Wunder» war, war eben für viele andere, denen eine biblische oder religiöse Sprache nicht mehr vertraut war, «Wahnsinn» – ein Wort, in dem, so Brose, eine «wirkliche Transzendenzerfahrung zu Wort» komme (94).
Brose erinnert sich nicht einfach nur an eine langsam fern rückende Vergangenheit. Jede Sentimentalität – die so viele Rückblicke oder Lebenserinnerungen kennzeichnet – ist seinem Buch fern. Sein Zeugnis ist auf Gegenwart und Zukunft hin orientiert – und zwar in durchaus kritischer Absicht. Denn der Stimme ostdeutscher Katholiken – mit ihren geschichtlichen Erfahrungen und ihrer Glaubenskultur – werde, so Brose überzeugend, in der Kirche oft wenig Beachtung geschenkt. Auch wenn die Zahl der Katholikinnen und Katholiken in der DDR klein war, stellt sich doch die Frage, ob sie heute die Rolle spielen, die sie spielen sollten. Würdigt man das, was sie erleiden mussten, und die Opfer, die sie erbracht haben? Werden ihre Erfahrungen vor und nach der Wende ernst genommen? Die deutsche Einheit ist auch für die katholische Kirche ein langsamer und oft schmerzhafter Prozess.
Für Brose ist von zentraler Bedeutung, dass auch im wiedervereinigten Deutschland die Offenheit für religiöse Fragen und für Gott lebendig bleibe. Er spricht – auch wenn alle Fakten dem zu widersprechen scheinen – von der Hoffnung, dass sich «in näherer oder fernerer Zukunft eine Trendwende» ereignen werde (98). Das mag naiv klingen. Ist aber nicht gerade heute diese Naivität gefragt? Ein Blick auf die Welt, der nicht abgeklärt und zynisch Abgesänge anstimmt, sondern der zu hoffen wagt, dass wir Menschen in der Geschichte nicht alleine sind, sondern dass Gott bei uns ist, ja, dass er, der unser Heil will, selbst auch Geschichte macht? Brose zeigt so ganz konkret, welchen Schatz Christen aus dem Osten Deutschland mit in das wieder vereinigte Deutschland bringen können. Denn sie haben trotz aller Widerstände seitens des atheistischen Staates und der realsozialistischen Gesellschaft der DDR an ihrem Glauben festgehalten und die Hoffnung nicht aufgegeben, dass sich etwas ändern werde.
Thomas Brose ist ein kluges, spannendes und stellenweise poetisch geschriebenes Buch gelungen. Es ist Erinnerung, Reflexion, Zeugnis, Mahnung und Zeichen der Hoffnung zugleich. Als ostdeutscher Katholik hat Brose Neuland betreten. Wäre es nicht an der Zeit, dass auch die westdeutschen Katholikinnen und Katholiken sich engagierter, ernsthafter und selbstkritischer als zuvor mit der Geschichte ihrer Glaubensschwestern und -brüder, die die DDR erlebt haben, ja, erleben mussten, auseinandersetzen? Müssten nicht auch sie viel häufiger noch «Neuland» betreten? Und müssten alle gemeinsam nicht intensiver darüber nachdenken, was die Erfahrungen des Lebens und Glaubens in der DDR für die Gegenwart und für die Zukunft des Glaubens bedeuten?