Veritatis splendor und Evangelium vitaeJohannes Paul II. und die Moraltheologie

Abstract / DOI

Veritatis Splendor and Evangelium Vitae: Johm Paul II and Moral Theology. Moral Teaching has been an important request of Pope John Paul II. during his pontificate (1978–2005), what can be seen in several documents or with regard to his Wednesday-catechesis. The Catechism of the Catholic Church can also be seen as a part of it. His principles for the individual’s right moral action are summarized in both of his encyclicals Veritatis splendor (1993) and Evangelium vitae (1995). The first one named primarily refers to the lasting importance of the traditional teaching of the «intrinsically evil acts». The prohibition of artificial contraception is mentioned there with respect to Humanae vitae (1968). The second encyclical pays attention to the «culture of life», which is confronted with a «culture of death», and treats besides the rejection of abortion and euthanasia many other current bioethical topics. Within the church the ethical evaluations of both encyclicals partly had marked consequences for the treatment of moral theologians and of the leading competence of bishops within their dioceses by Rome.

Papst Johannes Paul II. ist aus Anlass seines 100. Geburtstags in vielfältiger Weise gewürdigt worden. Das gilt auch für seine ethischen Überzeugungen und ihre Auswirkungen.1 Aus dem umfassenden Werk von Johannes Paul II. in moraltheologischer Hinsicht sich auf die beiden Enzykliken Veritatis splendor (1993) und Evangelium vitae (1995) zu konzentrieren, ist vor allem dadurch begründet, dass in diesen beiden Enzykliken die moraltheologischen Kernanliegen Johannes Pauls II. formuliert sind, die innerkirchlich wie gesellschaftlich folgenreich waren. Zur ethischen Verkündigung des Papstes gehören auch andere Texte wie die Sozialenzykliken, das Apostolische Schreiben Familiaris consortio (1981) und die Theologie des Leibes, die aus den Mittwochskatechesen von 1979 bis 1984 entstanden ist.2 Als bedeutsam erweist sich ebenfalls die indirekte Mitwirkung von Johannes Paul II. als damaliger Erzbischof von Krakau an der Argumentation in der Enzyklika Humanae vitae (1968) von Papst Paul VI.3 Vor allem Veritatis splendor (VS) ist ohne die im Anschluss an Humanae vitae (HV) geführte innerkirchliche Diskussion nicht zu verstehen. Im Folgenden sollen jeweils zu Beginn in Kürze zentrale Inhalte der Enzykliken in Erinnerung gerufen und dann auf ihre jeweilige Wirkungsgeschichte während des Pontifikats von Johannes Paul II. eingegangen werden. Dabei ist bei der Rezeption sowohl die Art und Weise, wie der Papst selbst bzw. die entsprechenden Dikasterien des Vatikans damit umgehen, genauso wichtig wie der Umgang und die Folgen für die Adressaten der universalkirchlichen Texte – vor allem Bischöfe und Theologen. Abschließend soll ein Blick auf den gegenwärtigen «Gebrauch» dieser Enzykliken vor allem durch Papst Franziskus geworfen werden. Es ist naheliegend, dass Zusammenfassungen und Einschätzungen hier schon alleine vom Umfang des Beitrags her nur ausschnitthaft sein können.

1. Die Enzyklika Veritatis splendor (1993)4

Johannes Paul II. erwähnt, dass er bereits 1987 – aus Anlass des 200. Todestages von Alphons von Ligouri – angekündigt hat, eine umfassendere Darstellung der Grundfragen der Moraltheologie zu geben. (vgl. VS 5) Dass bis zur Fertigstellung dann sechs Jahre vergingen, hat nach den Aussagen von Papst em. Benedikt XVI. u.a. mit der 1989 erschienenen Kölner Erklärung von Theologen zu tun,5 in der ein Punkt die Rolle des Gewissens und die Bedeutung der Gewissensentscheidung bei Fragen der Geburtenregelung war. Nach der Veröffentlichung von Humanae vitae hatte diese Möglichkeit die Königsteiner Erklärung der deutschen Bischöfe (1968) genannt. VS benennt selbst als einen Grund die Veröffentlichung des Katechismus der katholischen Kirche (1992), weist aber zugleich auf die notwendige Klärung von Problemen hin, die in der Moraltheologie strittig sind. Kapitel I (VS 6–27) ist überschrieben mit «Meister, was muss ich Gutes tun …?» (Mt 19, 16) Der junge Mann, in dem jede und jeder sich selbst erkennen könnte, stellt Jesus diese moralische Frage mit dem Ziel, «um das ewige Leben zu gewinnen.» Das ist zuerst nicht die Frage nach Regeln, Geboten und Normen, sondern nach der «Sinnerfüllung für das Leben.» (VS 7) Am sittlich Guten, so die Schlussfolgerung, hängt die Erfüllung der persönlichen Bestimmung, das Lebensziel und Glück des Menschen. Wie der junge Mann sollte sich der Mensch von Jesus an die Hand nehmen und schrittweise in die Wahrheit und Moral des Evangeliums hineinführen lassen. Jesus erwidert mit einer Gegenfrage: «Was fragst du mich nach dem Guten? Nur einer ist ‹der Gute›. Wenn du aber das Leben erlangen willst, halte die Gebote!» (Mt 19, 17) Nur Gott kann letzten Endes auf die Frage nach dem Guten antworten, weil er «der Gute» ist. Nach dem sittlich Guten fragen, fordert daher die Glaubensbereitschaft und Hinwendung des Menschen zu Gott, «der Fülle des Guten.»6

Im Kapitel II (VS 28–83) geht VS auf einige Tendenzen in der Moraltheologie ein, die aus der Sicht von Johannes Paul II. der «gesunden Lehre» (2 Tim 4, 3) widersprechen (VS 30). Angesprochen werden besonders die Problemkreise Autonomie – Theonomie, Freiheit und Gesetz, Gewissen – Wahrheit, die Grundentscheidung und konkrete einzelne Handlungen. Kapitel III (VS 84–117), das die Bedeutung des sittlich Guten für das Leben der Kirche und der Welt zum Inhalt hat, nimmt einige der bereits angesprochenen Themen wieder auf, wie die Beziehung der Freiheit zur Wahrheit, der Treue gegenüber den sittlichen Geboten, und fordert eine Neuvermittlung des christlichen Glaubens einschließlich der Moralverkündigung. Auf einen Punkt sei an dieser Stelle besonders hingewiesen, weil er zum einen ein Kernstück der päpstlichen Moralverkündigung darstellt, zum andern gleichsam das Scharnier bildet zur anderen Enzyklika Evangelium vitae (EV) und weitreichende Folgen hatte. Es ging vor allem um das Verbot der künstlichen Empfängnisverhütung, deren Bewertung als «in sich sittlich schlechte Handlung» Johannes Paul II. besonders betonte. Kennzeichnend dafür ist VS 80, wo der Text der Pastoralkonstitution des II. Vatikanischen Konzils aufgenommen wird, in der das, «was ferner zum Leben im Gegensatz steht» (GS 27), näher benannt wird, um unmittelbar daran auf die Lehre von Papst Paul VI. über «die in sich sittlich schlechten Handlungen und […] kontrazeptive Praktiken»٧ hinzuweisen. Was auffällt ist, dass der Text des Konzils weder von «in sich sittlich schlechten Handlungen» spricht noch das Thema der künstlichen Empfängnisverhütung erwähnt. Die Diskussion darüber hatte Paul VI. bekanntlich dem Konzil entzogen.8 Wie sehr die «in sich schlechten Handlungen» dem Anliegen von Johannes Paul II. entsprachen, kommt am Ende von VS noch einmal zum Tragen, wenn er die Frage des jungen Mannes im Evangelium aufnimmt und die «geoffenbarten sittlichen Gebote in Erinnerung» ruft. (vgl. VS 114) Dann erinnert der Papst «mit der Autorität des Nachfolgers Petri» an die «Bedeutung der Lehre, die den Kern dieser Enzyklika darstellt,» nämlich «der erneuten Bekräftigung der Universalität und Unveränderlichkeit der sittlichen Gebote und insbesondere derjenigen, die immer und ohne Ausnahme in sich schlechte Akte verbieten.» (VS 115)

2. Einige Folgerungen – auch für die Moralverkündigung

Wie schon erwähnt, ist Veritatis splendor ohne die Debatte in Kirche und Theologie um Humanae vitae nicht verständlich. Eine Sorge, die in der deutschen Moraltheologie nicht ohne Grund diskutiert wurde, war, dass das Verbot der künstlichen Empfängnisverhütung als unfehlbar definiert würde. Es ist auch aus heutiger Sicht spannend, die damalige Diskussion nachzuverfolgen, wie sie besonders in einer Tagung der katholischen Akademie in Bayern zum Ausdruck kam, sowie die Auseinandersetzung von Bernhard Fraling mit Carlo Caffarra, dem späteren Kardinal von Bologna.9 Dies ist deshalb ebenfalls erwähnenswert, weil Kardinal Caffarra 2016 zu den vier Kardinälen gehörte, die nach dem Erscheinen der Enzyklika Amoris laetitia sich in sogenannten dubia (Zweifeln) kritisch zu dem Text von Papst Franziskus äußerten. Insofern wurde es zuerst einmal als erleichternd angesehen, dass eine «Dogmatisierung» des Verbots in Humanae vitae nicht stattgefunden hat. Zugleich wird in Veritatis splendor den in der Moraltheologie Tätigen die «schwere Pflicht» eingeschärft, «die Gläubigen – besonders die künftigen Seelsorger – über alle Gebote und über die praktischen Normen zu unterweisen, die die Kirche mit Autorität verkündet.» (VS 110) Und weiter geht es darum, diese zu erläutern und zu vertiefen und «das Beispiel einer loyalen, inneren und äußeren Zustimmung zur Lehre des Lehramtes sowohl auf dem Gebiet des Dogmas wie auf dem der Moral zu geben.» (VS 110) Mit den «Geboten und praktischen Normen» waren die «in sich sittlich schlechten Handlungen» gemeint. Dabei wurde zu Recht von Moraltheologen darauf hingewiesen, dass innerhalb des Faches nie bezweifelt wurde, dass es solche Handlungen, die unter keinen Umständen gerechtfertigt werden können, gebe. Umstritten war eher die Frage, welche Handlungen dazu gehören, was genau das Objekt der Handlung sei und wieweit nicht auch sprachliche «Vorentscheidungen» hier von Bedeutung sind. Das heißt zum Beispiel, dass in dem Wort «Mord» bereits die sittliche Bewertung der ungerechtfertigten Tötung einer anderen Person enthalten ist.10

Weitere Kritikpunkte in der Enzyklika waren die autonome Moral und die teleologische Normbegründung, die im deutschsprachigen Raum von ihrer Genese her eng mit den Namen Alfons Auer, Franz Böckle und Bruno Schüller verbunden sind.11 Da in Veritatis splendor keine Namen genannt und Positionen unterstellt werden, die in der Moraltheologie gar nicht geteilt werden, erwies sich hier die Diskussion als schwierig. Zentrale ethische Begriffe wie Freiheit (Autonomie)12 und Gewissen13 werden von daher im Text nicht richtig wiedergegeben, wenn behauptet wird: «Gewisse Richtungen der heutigen Moraltheologie interpretieren unter dem Einfluß hier in Erinnerung gerufener subjektivistischer und individualistischer Strömungen das Verhältnis der Freiheit zum Sittengesetz, zur menschlichen Natur und zum Gewissen in neuer Weise und schlagen neuartige Tendenzen vor: es sind dies Tendenzen, die in ihrer Verschiedenheit darin übereinstimmen, die Abhängigkeit der Freiheit von der Wahrheit abzuschwächen oder sogar zu leugnen.» (VS 34) Während also in der moraltheologischen Diskussion zum einen darauf hingewiesen wird, dass die Darstellung der Ansätze in der Enzyklika unzureichend ist, bleibt die seit dem Erscheinen von Humanae vitae bestehende Kritik an der Auffassung, dass jede einzelne sexuelle Begegnung offen sein muss für die Weitergabe des Lebens und jede dagegenstehende kontrazeptive Maßnahme zu den «in sich sittlich schlechten Handlungen» gehört, bestehen. Um dieser in der Enzyklika dargelegten Auffassung Geltung zu verschaffen, verweist Johannes Paul II. auf seine und der Bischöfe Autorität. (vgl. VS 115) Und als eine wichtige Konsequenz zeigte sich, dass die Auseinandersetzung mit disziplinarischen Maßnahmen für Moraltheologen weiterging. Diese hatten unterschiedliche Formen, bis dahin, dass die Lehrerlaubnis für die Übernahme eines Lehrstuhls (Nihil obstat) nicht erteilt wurde.14 Ohne die genannte inhaltliche Auseinandersetzung über die künstliche Empfängnisverhütung hier noch einmal aufzunehmen,15 soll noch eine weitere Folgerung angesprochen werden. Sicher hat es nach dem Erscheinen von Humanae vitae und der Lehrverkündigung von Johannes Paul II. Initiativen gegeben, die Sexualmoral im Sinne der beiden Päpste darzulegen. Dazu zählen die Katechesen an den Weltjugendtagen und Initiativen, die damit im Zusammenhang stehen, neuere geistliche Bewegungen, die Errichtung von «Stellen» in Bistümern, die die Natürliche Familienplanung fördern, um nur einige zu nennen. Und dass in den Darlegungen der Päpste, wenn sie nicht auf diesen Punkt beschränkt sind, wichtige positive Perspektiven enthalten sind, ist auch in der Moraltheologie gewürdigt worden.16 Dennoch wird man eine Entwicklung nicht gering achten dürfen, die zur Sexualität und weitergefasst zu Fragen der Beziehung (Beziehungsethik) innerkirchlich stattgefunden hat. Das Thema wurde an vielen Orten, an denen es zur Sprache hätte kommen können, weitgehend ausgespart. Mir ist aufgefallen, dass ich bei Fortbildungsveranstaltungen für Priester, hauptamtliche Mitarbeiter(innen) und Religionslehrer(innen) und Vorträgen, zu denen ich seit Beginn der 90er Jahre regelmäßig eingeladen wurde, praktisch nie zu Themen, die mit Humanae vitae oder Veritatis splendor im Zusammenhang standen, gebeten wurde, zu sprechen. Dies hat sich nach meiner Beobachtung erst einige Jahre nach dem Tod von Johannes Paul II. geändert. Mein Eindruck war auch, dass dies ebenfalls für die Verkündigung im Gottesdienst und andere Formen der Glaubensvermittlung galt. Als es sich für mich einmal ergab, in einer Runde mit Pfarrern darüber zu sprechen, wurde mir diese Einschätzung weitgehend bestätigt. Ein Grund war, dass man davon ausging, dass die Mehrheit der Kirchenbesucher(innen) diese lehramtliche Position zur künstlichen Empfängnisverhütung, wenn man sie überhaupt kannte, nicht teilte. Einige Kirchenbesucher waren darüber hinaus sicher ebenfalls sehr reserviert, zu dem Komplex Sexualität detailliert – und die Frage der Geburtenregelung gehört dazu – etwas zu hören, während es wahrscheinlich auch Gläubige gab, die die Haltung von Johannes Paul II. unterstützten. In Summe sah man hier ein Konfliktfeld, das man nicht neben all den normalen Belastungen des pastoralen Alltags unnötig eröffnen wollte. Die Diskussionen auf moraltheologischer Ebene zeigen zugleich, dass sie keineswegs abgehoben ist von der Rezeption auf der Gemeindeebene und dass dies auch nicht durch lehramtliche Vorgaben außer Kraft gesetzt werden kann. Es ist auch nicht so, dass dies nur ein deutsches oder westliches Problem war und ist. Dass die Lage komplexer und Sexualität in der Kirche ein weltweites Thema ist, zeigt das Abschlussdokument der Bischofssynode 2018 «Die Jugendlichen, der Glaube und die Berufsentscheidung». Dort heißt es allgemein zur Sexualmoral: «In der Tat ist die Sexualmoral oft Grund für Unverständnis und Entfernung von der Kirche, da sie als Raum des Urteils und der Strafe empfunden wird. […] Sie (die jungen Menschen) äußern insbesondere den ausdrücklichen Wunsch nach Auseinandersetzung mit Fragen zum Unterschied zwischen männlicher und weiblicher Identität, zur Wechselseitigkeit/Reziprozität von Mann und Frau und zur Homosexualität.» (Nr. 39)17 Papst Franziskus bezieht sich ausdrücklich in seinem Apostolischen Schreiben Christus vivit (2019) auf diese Passage im Abschlussdokument. (Nr. 81)18 Es überrascht nicht, dass heute andere beziehungsethische Fragen im Vordergrund stehen. Aber der Unterschied schon in der Diktion zu Veritatis splendor ist nicht zu überhören. Dort heißt es: «Die Tatsache, daß manche Gläubige handeln, ohne die Lehren des Lehramtes zu befolgen, oder ein Verhalten zu Unrecht als sittlich richtig ansehen, das von ihren Hirten als dem Gesetz Gottes widersprechend erklärt worden ist, kann kein stichhaltiges Argument darstellen, um die Wahrheit der von der Kirche gelehrten sittlichen Normen zurückzuweisen.» (VS 112)

3. Die Enzyklika Evangelium vitae (1995)19

Wenn man beide Enzykliken zusammen liest, wird man unschwer Parallelen feststellen. Sie betreffen den biblischen Einstieg, vor allem aber die mit päpstlicher Autorität ausgesprochenen Verbote. Das erste Kapitel befasst sich mit den «gegenwärtigen Bedrohungen des menschlichen Lebens» anhand der biblischen Gestalt des Kain. (EV 7–28) Ähnlich wie in VS wird das Verhältnis von Wahrheit und Freiheit thematisiert (EV 19) und einer «Kultur des Todes» eine «Kultur des Lebens» gegenübergestellt. Während im I. Kapitel die alttestamentlichen Gestalten Kain und Abel sich gegenüberstehen, wird im II. Kapitel neutestamentlich der Blick auf Christus, «das Wort des Lebens», gerichtet. (EV 29–51) Dabei wird in biblisch-meditativer Weise «die christliche Botschaft über das Leben» entfaltet. Anklänge an Veritatis splendor sind zu finden, wenn die Frage des reichen jungen Mannes erwähnt wird: «Meister, was muß ich Gutes tun, um das ewige Leben zu gewinnen?» und Jesus auf das Halten der Gebote und die höhere Gerechtigkeit in der Bergpredigt verweist. (vgl. EV 41) Der Text weist auf die «Verantwortung für die Lebensumwelt» und die «ökologische Frage» (EV 42) hin. Aber auch die Heiligkeit des Lebens und ihre Auswirkungen auf Geburt und Sterben, sowie die Bedeutung von Krankheit und Leiden wird angesprochen. Als Hauptteil der Enzyklika kann das III. Kapitel «Du sollst nicht töten» mit dem Untertitel «Das Heilige Gesetz Gottes» angesehen werden. (EV 52–77) Die zum Teil bis heute aktuellen medizin- und bioethischen Fragestellungen, angefangen von der Abtreibung über die neueren Methoden der Fortpflanzungsmedizin, der pränatalen Diagnostik bis hin zur Euthanasie, werden vom Papst behandelt.20 Drei Aspekte im Zusammenhang mit dem Tötungsverbot sollen hervorgehoben werden und hier weist der Papst noch eindringlicher als in Veritatis splendor auf seine Autorität hin. Zugleich betont er aber auch, dass zahlreiche Bischofskonferenzen wie einzelne Bischöfe in «Lehr- und Pastoraldokumenten» diese Auffassung verkündet haben, die er zusammenfasst: «Mit der Petrus und seinen Nachfolgern von Christus verliehenen Autorität bestätige ich daher in Gemeinschaft mit den Bischöfen der katholischen Kirche, daß die direkte und freiwillige Tötung eines unschuldigen Menschen immer ein schweres sittliches Vergehen ist.» (EV 57) In ähnlicher Weise «erkläre ich deshalb in Gemeinschaft mit den Bischöfen – […], daß die direkte, das heißt als Ziel oder Mittel gewollte Abtreibung immer ein schweres sittliches Vergehen darstellt, nämlich die vorsätzliche Tötung eines unschuldigen Menschen.» (EV 62) Und die dritte Formulierung in gleicher Diktion bezieht sich auf die Euthanasie; der Unterscheidung wegen ist es sinnvoller, von der aktiven Euthanasie zu sprechen: «daß die Euthanasie eine schwere Verletzung des göttlichen Gesetzes ist, insofern es sich um eine vorsätzliche Tötung einer menschlichen Person handelt, was sittlich nicht zu akzeptieren ist.» (EV 65) Im IV. Kapitel setzt sich Johannes Paul II. «für eine neue Kultur des menschlichen Lebens» ein (EV 78–101) und kommt hier auf die Bedeutung der Familie, der verschiedenen Dienste der Nächstenliebe u.a. im Gesundheitswesen zu sprechen und geht auf Probleme des Bevölkerungswachstums ein. (EV 91) «Bei der kulturellen Wende zugunsten des Lebens haben die Frauen einen einzigartigen und vielleicht entscheidenden Denk- und Handlungsspielraum.» (EV 99) Dabei vergisst Johannes Paul II. nicht die Frauen, «die sich für eine Abtreibung entschieden haben» und denen die Chance der Vergebung und des Neuanfangs offensteht. (EV 99) Wie in Veritatis splendor schließt Johannes Paul II. mit einem Blick auf Maria. «Sie steht in engster persönlicher Beziehung zum Evangelium vom Leben.» (EV 102)

4. Einige Konsequenzen – vor allem für die Schwangerschaftskonfliktberatung

Verständlicherweise sind nur knappe Hinweise zum Inhalt von Evangelium vitae gegeben worden. Nicht wenige der angesprochenen Themen fanden gerade im innerkirchlichen Raum Zustimmung, zumal sie dort bereits praktiziert wurden. Das galt für das Eintreten für den Lebensschutz wie die Hilfe beim Sterben, die die Tötung auf Verlangen und die Beihilfe zum Suizid sowie alles, was klassisch zur aktiven Euthanasie gehört, ausschloss. Ebenfalls wurde die Frage der pränatalen Diagnostik ähnlich wie im Text differenziert gesehen. Der gewünschte «Tag für das Leben» (EV 85) wird in Deutschland seit 1991 als «Woche für das Leben» (seit 1994 in ökumenischer Partnerschaft) begangen. Äußerungen zur Ökologie wurden positiv gewürdigt, die zum Bevölkerungswachstum (EV 16) als ergänzungsbedürftig angesehen. Der am meisten diskutierte und folgenreichste Punkt war die Art der Präsenz kirchlicher Einrichtungen in Deutschland in der Schwangerenkonfliktberatung im Sinne der §§ 218/219 StGB. Konkret ging es darum, ob kirchliche Einrichtungen in der Schwangerenkonfliktberatung bescheinigen dürfen, dass eine ergebnisoffene Beratung durchgeführt wurde, die aber ihrerseits darauf abzielte, das ungeborene Leben zu schützen. Diese Bescheinigung, die aus staatlicher Sicht eine notwendige Verwaltungsmaßnahme war, dass die vom Gesetz vorgesehene Beratung stattgefunden hat, konnte dazu genutzt werden, dass sich die Schwangere für einen Abbruch entscheidet. Und hier spielt das Lehrstück über die «Mitwirkung an schlechten Handlungen» eine wichtige Rolle. Dabei wird unterschieden zwischen einer formalen Mitwirkung an «in sich schlechten Handlungen», die immer verboten ist, «und der materiale(n) Mitwirkung an schlechten Handlungen, die nur dann verboten ist, wenn ihre Beziehung zur schlechten Haupthandlung nicht in einem angemessenen Verhältnis zu dem durch sie angestrebten Gut steht.»21 Strittig ist, wann eine Mitwirkung eine formale und wann sie ein materiale ist. Evangelium vitae hat sicher auch mit Blick auf die Gesetzgebung in Deutschland formuliert: «Wie alle Menschen guten Willens sind die Christen aufgerufen, aus ernster Gewissenspflicht nicht an jenen Praktiken formell mitzuwirken, die, obgleich von der staatlichen Gesetzgebung zugelassen, im Gegensatz zum Gesetz Gottes stehen. Denn unter sittlichem Gesichtspunkt ist es niemals erlaubt, formell am Bösen mitzuwirken. Solcher Art ist die Mitwirkung dann, wenn die durchgeführte Handlung entweder auf Grund ihres Wesens oder wegen der Form, die sie in einem konkreten Rahmen annimmt, als direkte Beteiligung an einer gegen das unschuldige Menschenleben gerichteten Tat oder als Billigung der unmoralischen Absicht des Haupttäters bezeichnet werden muß.» (EV 74) Der Hinweis auf die «Form, die sie in einem konkreten Rahmen annimmt», ist auf die deutsche Situation der Schwangerschaftskonfliktberatung im Sinne der §§ 218/219 hin zu deuten. Konkretisiert hat Johannes Paul II. dies in einem Brief vom 11. Januar 1998 an die deutschen Bischöfe, in dem von der «Zweideutigkeit» durch die Arbeit der Beratungsstellen gesprochen wird, «welche die Klarheit und Entschiedenheit des Zeugnisses der Kirche und ihrer Beratungsstellen verdunkelt.»22 Nachdem von den deutschen Bischöfen ein erneuerter Vorschlag, wie zu verfahren sei, nicht die römische Zustimmung fand, musste die katholische Kirche sich aus der Schwangerenkonfliktberatung im Rahmen der staatlichen Gesetzgebung zurückziehen. In diesem Brief vom 3. Juni 1999 verweist Johannes Paul II. auf die in Evangelium vitae genannten «Zeichen des Todes», denen er die «Kultur des Lebens» gegenüberstellt. (EV 77)23 Die Bezüge auf die Enzyklika sind erkennbar von dem Bemühen geleitet, dass der genannten Zweideutigkeit die Eindeutigkeit der mit päpstlicher Autorität vorgetragenen Ablehnung der Abtreibung als «schweres sittliches Vergehen» (EV 62) entgegensteht. Durch die Beteiligung der katholischen Kirche an der Schwangerenkonfliktberatung wird dieses eindeutige Zeugnis beeinträchtigt. Der Brief gibt keine konkreten Hilfen, sondern äußert die Hoffnung, dass die Bischöfe Wege finden, auch den Frauen, die unentschlossen sind, ob sie einen Schwangerschaftsabbruch durchführen oder nicht, im Sinne des «Beratungs- und Hilfeplans» beizustehen. Die Erwartung von Papst Johannes Paul II., dass seine Entscheidung nicht nur dem Schutz des ungeborenen Lebens, sondern der Einheit in der Kirche in Deutschland diene, erfüllte sich nicht. Neben deutlicher Kritik vonseiten der evangelischen Kirche kam es im Vorfeld des Ausstiegs aus der Schwangerenkonfliktberatung zu schwierigen Diskussionen innerhalb der katholischen Kirche. Sie betrafen das Verhältnis der Bischöfe untereinander, aber auch die Beziehung zu Politikerinnen und Politikern, die im Rahmen ihrer Möglichkeiten und ihres Verantwortungsbereiches offen für die kirchlichen Vorschläge vor der Entscheidung des Papstes waren. Eine Konsequenz war die Gründung von «Donum Vitae,» einem bürgerlich-rechtlichen Verein, der die Beratung im Rahmen der staatlichen Gesetzgebung durchführt und an dessen Gründung und Aufbau zahlreiche katholische Laien beteiligt waren und sind. Dass die partnerschaftliche Zusammenarbeit von Staat und Kirche aus römischer Sicht kritisch gesehen wurde, zeigte sich an diesem Punkt deutlich. Und dies, obwohl die Gesetzgebung in Deutschland restriktiver war und ist als in vielen anderen europäischen Ländern.24

5. Ausblick

Die Wirkungsgeschichte von Johannes Paul II. ist nicht abgeschlossen. An dieser Stelle wurde nur ein Aspekt seines Wirkens – der Papst und sein Verhältnis zur Moraltheologie – näher beleuchtet und dieser verständlicherweise ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Und der Blick auf den «Papst, der aus dem Osten kam,» muss natürlich umfassender sein als sein intensives Engagement in ethisch bedeutsamen Fragen. Aus meiner Sicht als Moraltheologe können die kritischen Punkte und damit verbunden auch die Schwierigkeiten, die sich für Katholiken daraus ergaben und evtl. noch ergeben, nicht übersehen werden. Das gilt für Bischöfe, (Moral)theolog(inn)en und alle anderen Christen. Eine Betrachtungsweise, wie sie durch Papst Franziskus praktiziert wird, kann hier aus meiner Sicht weiterführen. Der jetzige Papst hat Johannes Paul II. 2014 heiliggesprochen. Damit ist seine Bedeutung für die ganze Kirche bleibend anerkannt. Dasselbe gilt für Paul VI., der 2018 heiliggesprochen wurde. Und dennoch geht Franziskus in den genannten individualethischen Fragen einen anderen Weg als seine beiden Vorgänger. Sicher wäre es auf Grund der genannten Kritikpunkte wünschenswert, wenn er dies noch deutlicher zum Ausdruck brächte, aber die jetzigen Akzentsetzungen sollten nicht geringgeschätzt werden. Zu dem Lehrstück der «in sich schlechten Handlungen» hat sich Franziskus bisher nicht in allgemeiner Weise geäußert. Bei den umfangreichen Verweisen auf seine Vorgänger und lehramtliche Texte fehlt sowohl in seinen Enzykliken wie in den Apostolischen Schreiben ein Verweis auf Veritatis splendor. Das war besonders bei Amoris laetitia (2016) auffällig. Wenn man sich die mit päpstlicher Autorität vorgetragene Argumentation von Veritatis splendor vor Augen führt, dann ist das Schweigen von Franziskus zu dieser Enzyklika beredt. Dies gilt auch für die Verurteilung der künstlichen Empfängnisverhütung, die in Amoris laetitia nicht wiederholt wird, auch wenn positiv auf die natürliche Familienplanung im Sinne von Humanae vitae (11) hingewiesen wird. (vgl. AL 222) Gerade der Umgang mit diesem Lehrstück der «in sich schlechten Handlungen» in Amoris laetitia war – wie erwähnt – der Hauptkritikpunkt der vier Kardinäle, die sich kritisch-ablehnend (in Form von dubia) zu dieser Enzyklika äußerten. Institutionell baute Franziskus das Päpstliche Institut Johannes Paul II. zu Ehe und Familie, das 1981 von seinem Vorvorgänger gegründet wurde, zum Päpstlichen Institut Johannes Paul II. für Ehe und Familienwissenschaften um und erweiterte zugleich sein Aufgabenfeld, indem er es mit der Akademie für das Leben zusammenlegte.25

Diese andere Akzentsetzung wird ebenfalls beim Umgang mit dem Schwangerschaftsabbruch deutlich. Dabei spricht Franziskus im Apostolischen Schreiben Evangelii gaudium26 von der «Verteidigung des ungeborenen Lebens», das «immer etwas Heiliges und Unantastbares ist, in jeder Situation und jeder Phase seiner Entwicklung. Es trägt seine Daseinsberechtigung in sich selbst und ist nie ein Mittel, um andere Schwierigkeiten zu lösen.» (EG 213) Franziskus stellt keine Änderung der kirchlichen Lehre wegen «der inneren Kohärenz unserer Botschaft vom Wert der Person» in Aussicht. Zugleich erinnert er aber daran, «dass wir wenig getan haben, um die Frauen angemessen zu begleiten, die sich in schweren Situationen befinden, wo der Schwangerschaftsabbruch ihnen als eine schnelle Lösung ihrer tiefen Ängste erscheint, besonders, wenn das Leben, das in ihnen wächst, als Folge einer Gewalt oder im Kontext extremer Armut entstanden ist.» (EG 214) Man kann nur spekulieren, ob eine solche Sichtweise zu einem anderen Verlauf der Diskussion um die Schwangerenkonfliktberatung in Deutschland geführt hätte. Vielleicht kann das aber in Deutschland als weiterer Anstoß dienen, die Zusammenarbeit zwischen den Beratungsstellen der Caritas und der Schwangerenberatung von «Donum Vitae», die auch in der Schwangerenkonfliktberatung im Sinne von § 219 StGB tätig ist, zu intensivieren. Ein erster Schritt war die Würdigung der Arbeit von «Donum Vitae» 2018 durch Kardinal Marx und die Abkehr vom Abgrenzungsbeschluss, der es Mitarbeiterinnen von «Donum Vitae» nicht gestattete, zu kirchlichen Beratungsstellen zu wechseln. Umgekehrt durften Mitarbeiter(innen) der Kirche sich nicht bei «Donum Vitae» engagieren.27 Das unstrittige Ziel des «Schutzes des ungeborenen Lebens» gilt es soweit wie möglich innerkirchlich, ökumenisch und gesellschaftlich zu fördern. Der Einsatz von Papst Johannes Paul II. für dieses Ziel gilt für Gegenwart wie Zukunft.

Seine Wertschätzung für Papst Johannes Paul II. anlässlich seines 100. Geburtstags am 18. Mai 2020 hat der jetzige Papst bei der Homilie in der Messfeier an diesem Tag zum Ausdruck gebracht.28 Dort charakterisierte er ihn als Mann des Gebetes, der Nähe zum Volk und der Gerechtigkeit. Diese «volle Gerechtigkeit» schließt die Barmherzigkeit mit ein, die Papst Johannes Paul II. durch die Verehrung der heiligen Faustina Kowalska gefördert habe.

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